Grüner wird´s nicht
Der Sommer, in dem ich die Welt rettete
Aufruhr in der Vorstadt Siedlung: Lukes große Schwester Rose zieht ins besetzte Haus auf der anderen Starßenseite. Dort hat sich ein temporäres Protestcamp gebildet, das gegen den Bau einer neuen Startbahn vorgehen will. Dieser soll eine ganze Häuserzeile zum Opfer fallen. Lukes Vater beschließt, sich in die Höhle der Löw*innen zu begeben, um seine Tochter zurück zu holen. Das hat allerdings nicht den gewünschten Erfolg, weil er plötzlich seine verschüttete kämpferische Ader aus Jugendjahren wieder entdeckt. Und spannender als sein langweiliger Bürojob ist das hier allemal, wenn auch extrem peinlich für Rose! So bleiben der 13 jährige Luke und seine Mutter alleine zurück. Wenn da nicht plötzlich das Mädchen Sky von gegenüber auftauchen würde. Ihr Leben lang zieht sie mit ihrer Hippiemutter von Protestlager zu Protestlager, wird von ihr „unterrichtet „, mehr im „how to protest“, als in den Schulfächern. Das „normale“ Leben von Luke fasziniert sie. Es dauert nicht lange, da ist sie ständiger Gast im Haus gegenüber, genießt regelmäßiges Essen, sich duschen und vor allem den Fernseher.
Derweil bereitet sich das Protestcamp auf die anstehenden Konfrontationen vor. Als quasi Berufsprotestler wissen sie, dass es klug ist, sich mit der Nachbarschaft zu verbünden. Und das gelingt ihnen auch. So wird man Zeuge davon, wie sich die anti-Haltung der Nachbarn nach und nach auflöst und Unterstützung und Solidarität Platz macht. Selbst der gesettlete Golfspielvater von nebenan ist nun bereit, sich auf die Straße zu kleben, um den angedrohten Baggern Einhalt zu gebieten. Der Tag rückt gefährlich nahe. Ein Baumhaus wird gebaut, in dem Luke und Sky, beide inzwischen zu sich respektierenden Freunden geworden, Stellung beziehen.Von hier aus haben sie den besten Blick auf drohende Gefahren.Nachdem das Fernsehen an prominenter Stelle über den Protest berichtet, gibt es vielfältige Unterstützung. Viele, vor allem junge Menschen, machen sich auf den Weg und obwohl das Gelände inzwischen abgesperrt ist, findet Luke einen Weg, um die Unterstützer*innen aufs Gelände zu bekommen. Dafür müssen sie den Weg durch sein Haus nehmen und an diesem Punkt ist nun auch endlich Lukes Mutter bereit, ihre Familie und somit das gesamte Vorhaben zu unterstützen. Die Lage spitzt sich extrem zu, nach anfänglichem Erfolg kommt es zu Räumungen und Verhaftungen. Davon ist auch Lukes Vater betroffen. Das besetzte Haus wird abgerissen. Doch Luke und Sky halten die Stellung in ihrem Baumhaus. Dieses wird nach und nach zum Sinnbild des Protestes und die beiden wachsen über sich selbst hinaus, als sie sich auch nicht von einem Politiker überreden lassen wollen, vom Baum herunter zu kommen, der letzten Endes gefällt werden soll. Stattdessen halten sie eine flammende Rede in Sachen Klimaprotest und Schutz des Planeten. Und haben damit Erfolg: der Bau der Startbahn konnte gemeinsam verhindert werden!
„Fridays for future“ für Anfänger*innen: Das Buch vermittelt ohne erhobenen Zeigefinger die Botschaft, wie wichtig es ist, sich für ein Ziel einzusetzen, eigene Kräfte zu mobilisieren, sich mit Gleichgesinnten zuammen zu tun, um gemeinsam etwas zu erreichen. William Sutcliff, als brillianter Autor von Jugendbüchern bekannt, würde sich nicht selbst treu bleiben, wenn es dabei nicht auch jede Menge zu lachen gäbe. Wenn der Vater, der seine revolutionären Wurzeln wieder entdeckt, sich in seine uralte Jeans wirft und sich ein bisschen in eine Mitprotestlerin verliebt. Das Zusammenstoßen verschiedener Welten wird ebenfalls mit leichter Hand thematisiert. Den eigenen Lebensstil/Lebensentwurf zu hinterfragen, gewachsene Familienstrukturen zu verändern, sich nicht zu verleugnen, auch mal über sich hinauszuwachsen, sich etwas zuzutrauen – um genau diese wichtigen Kompetenzen geht es hier.
Ein Buch zum Zeitgeist, ein wichtiges Buch, das viele jugendliche und erwachsene Leser*innen finden sollte!
- KS
Ela
Lüthen, Alexandra Mary | Delaney,Mary
190 Seiten, Kunstanstifter
Fatih erzählt aus seiner Perspektive die Geschichte seiner großen Liebe zu Ela. Das allein wäre eigentlich schon genug. Aber Fatih erzählt darüber hinaus auch noch die Geschichte zweier Menschen mit Behinderung, die sich lieben. Dabei kommen nicht nur die üblichen Vorurteile der Mitmenschen zum Tragen, sondern im besonderen Maße die Tatsache, dass Menschen mit Behinderung das Recht auf Liebe und Sexualität abgesprochen wird. In einfacher Sprache geschrieben ist das Buch auch literarisch ein großer Genuss. Die poetische Tiefe des Buches in seiner schönen und bildreichen Sprache wird von der gekonnten Buchgestaltung durch Claudia Eder zu einem Gesamtkunstwerk veredelt. Abwechslungsreiche Typografie und herausragenden Illustrationen stützen und tragen dieses Jugendbuch, welches Maßstäbe setzt für eine inklusive Literatur im allerbesten Sinne.
- JPS Das Geheimnis meines Turbans
Als Junge verkleidet unter den Taliban
Das Geheimnis meines Turbans ist eine erschütternde Autobiographie über die Kindheit der Autorin in Afghanistan. In einem vom Krieg zerrütteten Land aufzuwachsen ist an sich schon schwierig genug. Schlimmer wird die Situation noch, wenn man ein Mädchen ist und sich alleine um die Familie kümmern muss. Nadia Guhlams älterer Bruder kommt in den Kriegswirren ums Leben, und der Vater versinkt daraufhin in Depressionen und Wahn. Das Mädchen selbst überlebt einem Bombenangriff schwer verletzt und wird dabei durch Verbrennungen entstellt. Nachdem die männlichen Versorger der Familie ausfallen muss sie schließlich selbst, als Junge verkleidet, den Familienunterhalt bestreiten. Allen Widrigkeiten zum Trotz schafft es die junge Nadia mit schier übermenschlichem Willen ihr eigenes Leben zu meistern und zusätzlich für Ihre Familie zu sorgen. Diese ausergewöhnliche Geschichte verdeutlicht einmal mehr, wie gut es uns in der freiheitlichen westlichen Welt eigentlich geht. Unsere Alltagsprobleme verblassen ganz schnell, wenn man sich die Situation in anderen, weniger priviligierten Teilen der Welt vor Augen führt. Auch wenn man weiß, dass die Geschichte gut ausgehen wird, fiebert man als Leser bei der atmosphärisch dichten Schilderung mit und leidet bei allen Rückschlägen mit der Autorin. Spannend erzählt, interessant und zudem lehrreich, wird hier ein Land beschrieben, dass man meist nur aus Nachrichtenmeldungen kennt und mit Krieg, Terror und Taliban in Verbindung bringt. Dieser Insiderbericht zeichnet ein düsteres Bild der Wirklichkeit, zeigt aber auch einen Hoffnungsschimmer, da Nadia Guhlam allen Problemen kreativ und mit nicht enden wollendem Optimismus entgegentritt. Wie sie in Kleinigkeiten Freude findet und den Wert ihrer wenigen Freunde deutlich macht, ist sehr beeindruckend und sicherlich für viele Jugendliche, auch in Deutschland, eine wichtige Lektion, die lange nachhallt.
- CS Null
übersetzt von Andreas Dornat
Der norwegische Debutroman von Gine Cornelia Pedersen war in ihrer Heimat ein großer Erfolg. Jetzt ist dieses Werk auch in einer deutschen Version bei „Luftschacht“ erschienen. Erzählt wird die Geschichte eines namenlosen Mädchens, dass sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt, und das in wörtlichem Sinne. Die Geschichte ist roh, brutal, teilweise verstörend und immer extrem intensiv. Das Mädchen kämpft mit schizophrenen Episoden und kommt mit ihrem Alltag einfach nicht klar. Fehlende Sozialkompetenz und Aggressionen wechseln sich mit Liebesbedürfnis und emotionalen Zusammenbrüchen ab. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle ist die Folge, an der der Leser schonungslos in allen Details teilnehmen darf, egal wie unappetitlich die auch sein mögen. So krass wie die Handlung, so extrem ist auch der Erzählstil: kurze Sätze, abgehackt, wie BILD- Schlagzeilen aneinandergereiht. Teilweise brutal und ordinär, dann aber auch wieder poetisch einfühlsam und Mitleid erregend. Durch die kurzen Sätze wird man, ob man es will oder nicht, förmlich zum Weiterlesen gedrängt, und das Leseerlebnis wird genauso eine atemlose Hetzerei, wie sie die Handlung an vielen Stellen vorgibt. Interessant wäre es zu sehen, wie die Sprache im Original wirkt, aber dazu müsste man des Norwegischen mächtig sein, was wohl nur den wenigsten Lesern möglich sein wird. In „Null“ entfaltet sich dem Leser ein Feuerwerk der Emotionen, zwischen himmelhoch Jauchzend und zu Tode betrübt liegen oft nur wenige Zeilen. Wer „Null“ aufschlägt steigt in eine Gruselbahn zwischen Sex, Drogen, Exzess und Zusammenbruch, ein, aus der es bis zur letzten Seite kaum eine Möglichkeit zum Ausstieg gibt. Die Geschichte ist so explosiv und selbstzerstörerisch wie wenige andere und sicher nichts für zartbesaitete oder schwache Nerven. Wer davor nicht zurückschreckt bekommt allerdings etwas wirklich Einzigartiges für sein Geld geboten.
- CS Hard Land
Wells, Benedikt
352 Seiten, Diogenes
Der stille Außenseiter Sam wächst in den 80iger Jahren im verschlafenen mittleren Westen der USA auf. In der Kleinstadt Grady in Missouri gibt es auf den ersten Blick nicht viel zu tun. Sams Elternhaus ist ihm auch keine große Hilfe. Seine Schwester ist als Filmschaffende nach Kalifornien gezogen und kaum präsent. Die liebevolle Mutter kämpft mit einer schweren Krankheit, der Vater mit seinen eigenen Dämonen und alle zusammen mit wirtschaftlichen Problemen. Um einem Ferienaufenthalt bei der ungeliebten Verwandtschaft zu entgehen, nimmt Sam einen Ferienjob im örtlichen Kino an. Dort trifft er auf drei Mitstreiter, die alles ändern und Sams Leben auf den Kopf stellen. Die älteren Jugendlichen führen ihn in die Geheimnisse des Ortes und des Erwachsenwerdens ein und helfen ihm auf eigenen Beinen zu stehen. Zusammen mit dem Footballstar Hightower, dem reichen Exzentriker Cameron und der belesenen Kristie erlebt er Abenteuer, Liebe und Rausch, Schmerz und Verlust, alles eben, was das Erwachsenwerden ausmacht. Benedict Wells schreibt mit Hard Land einen coming-of-age Roman, wie er schöner nicht sein könnte. Hier findet alles seinen Platz, ohne klischeehaft zu wirken: Freundschaft, Wandel, Verfall, aber auch fantastische neue Möglichkeiten. Dabei gelingt es dem Roman nie kitschig oder gar peinlich zu werden, alles passt zusammen und macht von der ersten bis zur letzten Seite Spaß. Die geschilderten Erlebnisse der Jugendlichen bilden dabei einen wohltuenden Kontrast zum langsamen Verfall der Stadt. Das Spannungsfeld von Euphorie und Melancholie, dass im Buch von Kristie zum Wort „Euphancholie“ vereint wird, bildet den Rahmen, himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt sind im Leben, wie auch im Buch, oft nur Augenblicke voneinander entfernt. Gerade das macht ja bekanntlich den Reiz des Lebens aus und wird in diesem lesenswerten Buch auf den Punkt getroffen. Große Emotionen, tolle Dialoge, liebenswerte Charaktere und eine warmherzige Story. Alles, ohne in Pathos abzugleiten. Eine Liebeserklärung an das Erwachsenwerden, die schöner nicht sein könnte.
- CS Heul doch nicht, du lebst ja noch
Boie, Kirsten
192 Seiten, Oetinger Verlag
urg im Juni 45. Die Stadt ist fast komplett zerstört durch Bombenangriffe der Engländer. Wir folgen 3 Jugendlichen eine Woche lang durch ihren Nachkriegsalltag. Jakob hat sich in den Ruinen versteckt. Er ist ein jüdischer Mischling und komplett auf sich gestellt, nachdem seine Eltern von der Gestapo abgeholt wurden. Er wird mit Lebensmitteln versorgt von einem alten Mann. Aber plötzlich taucht dieser nicht mehr auf und Jakob droht zu verhungern.Dass der Krieg längst vorbei ist, weiß er gar nicht... Dagegen hat Traute es vergleichsweise gut. Das Haus, in dem sie mit ihrer Familie wohnt, steht noch. Lästig ist nur die Einquartierung einer aus Ostpreußen geflüchteten Familie, mit der man jetzt Küche und Bad teilen muss. Sie vermisst die Schule und ihre Freundinnen.Zum Glück hat sie ihre alten Spielsachen in einem Keller versteckt. Oder wäre es vielelicht doch gut, sie an die beiden kleinen Mädchen der Familie zu verschenken, die alles verloren haben ? Hermann hadert mit seinem Dasein. Seine Welt als Jungscharführer ist mit dem Ende des Krieges zusammen gebrochen. Von seiner Uniform hat er alle Abzeichen entfernt. Anführer ist er nur noch auf der Straße beim Fussballspielen mit jüngeren Kindern. Mädchen wie Traute stören da nur und können natürlich nicht mitspielen. Hermann hat es zu Hause nicht leicht. Sein Vater hat als Soldat im Krieg beide Beine verloren und er wartet auf Prothesen. Hermann muss ihn regelmäßig auf die Toilette, 2 Stockwerke tiefer tragen. Eine Aufgabe, die er hasst und als erniedrigend empfindet. Zudem ist der Vater ständig schlecht gelaunt und tyrannisiert die Familie. Besser, sich so wenig wie möglich dort sehen zu lassen. Im Laufe der Woche kreuzen sich die Wege der drei Jugendlichen. Traute gelingt die ersehnte Aufnahme in die Jungentruppe, Hermann hilft Jakob, sich durch Verkäufe auf dem Schwarzmarkt über Wasser zu halten. Und am Ende geschieht für Jakob und seine Mutter so etwas wie ein Wunder, während Hermann ein familäres Desaster erlebt. Nach „Dunkelnacht“ ist es das 2. Buch von Kirsten Boie, das sich mit dem Thema Nationasozialismus beschäftigt. Die geschickte Konstruktion des Buches ermöglicht der Autorin durch die 3 unterschiedlichen Schicksale jede Menge Informationen zum Thema aus verschiedenen Sichtweisen unterzubringen. Der Krieg ist gerade erst vorbei, die drei haben ihr Leben einerseits noch vor sich, aber schon mehr erlebt, als sich die meisten Jugendlichen in Deutschland in dem Alter heute vorstellen können. Beim Lesen erhält jede/r die Möglichkeit, sich mit einem/einer der Protagonist*innen zu identifizieren und erfährt dabei – by the way- sozusagen, jede Menge über diese Epoche. Das Buch ist sehr gut und leicht lesbar und hat genau die richtige Länge, das richtige Maß. Es verdient unbedingt die Kategorie Schulpflichtlektüre!
- KS Mein geniales Leben
Jägerfeld, Jenny
358 Seiten, Urachhaus
Sigge ist mit seiner Mutter, den Schwestern Bobo und Majken und diversen Tieren zu seiner Oma Charlotte aus Stockholm in den kleinen Ort Skärblacka gezogen. Dort hat er noch genau 59 Tage, um zu lernen, wie man cool und vor allem beliebt wird. Das ist nicht so einfach, wenn man auf einem Auge schielt und jede Menge Mobbingerfahrung mitbringt. Sein Einstand im Ort verläuft auch eher suboptimal, als er mit seinen Inlinern direkt in den kunstvollen Garten von Juno segelt. Als zukünftige Journalistin postet sie das Video gleich mal in den Blacka News. Doch die Rache folgt, als Sigge aus ihrem Garten einen Gartenzwerg klaut und seinerseits einen Instagram Account eröffnet, um lustige Fotos mit dem entwischten und abenteuerlustigen Zwerg zu posten. Das beschert ihm zwar jede Menge Follower, löst aber sein Problem nicht. Er bewundert heimlich seine kleine Schwester, die sofort einen Freund gefunden hat, der sich überhaupt nicht an ihrer extrem lauten Stimme stört. Sigge beschließt, sich Tipps bei seiner coolen Oma zu holen. Aber Zigaretten anbieten und zum Tanzen auffordern scheint hier auch nicht angebracht zu sein. Dann verschwindet auch noch die Schildkröte Carolina und wird mit Junos Hilfe schließlich gefunden. Was oder wer verbirgt sich hinter dem Mädchen mit der auffälligen, türkisfarbenen Perücke ? Sigge lüftet nicht nur dieses Geheimnis, lernt, dass es am besten ist, wenn man sich nicht verstellt, hilft bei der Umsetzung eines Lebenstraums, erfährt, dass Reden hilft und begreift, dass er genau das Leben leben kann, von dem er träumt. Denn was kann schlimm daran sein, dass ein Junge sich für Eiskunstlauf interessiert, beim Reden mit den Armen fuchtelt und einen Vater in Australien hat, den er noch nie sah. Gemeinsam werden sie das hinkriegen, Sigge und seine liebenswerte Familie und genau: Sigges neue Freunde ! Jenny Jägerfeld beweist einmal mehr, was skandinavische Kinder- und Jugendliteratur seit Jahrzehnten fertig bringt: authentische Geschichten, ganz nah an der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen, schwierige Themen mit leichter Hand erzählt, dafür aber mit umso mehr Humor. Die großartige Oma Charlotte, die natürlich nicht Oma genannt werden will, die am liebsten wahnsinnig schnell Auto fährt und absolut antiautoritäre Erziehungsmethoden vertritt, ist eine Gestalt, die man nicht so schnell vergisst. Das skurrile Interieur ihres Hauses, in dem ausgestopfte Tiere eine große Rolle spielen, die liebenswerten Macken der Geschwister, der Hausgast Krister mit seinen Filmideen, die auch mal schwache Mutter Hannah, die trotzdem immer das Richtige sagt und tut - alle verkörpern ein an John Irving erinnerndes Setting. Man lacht und weint mit dem Helden Sigge, man rauft sich die Haare und hält den Atem an - was will ein gutes Buch mehr als viele, viele Leser*innen, auch und gerade welche mit 12+...
- KS Die Nacht so groß wie wir
Jäger, Sarah
192 Seiten, Rowohlt
Die fünf unzertrennlichen Freunde Suse, Pavlow, Bo, Maja und Tolga wollen nach der Abiturzeugnisverleihung eine letzte gemeinsame Nacht als eingeschworene Gruppe verbringen, bevor sich ihre Wege trennen werden. Natürlich soll diese Nacht zu etwas ganz Besonderem werden. Dazu soll sich jeder in einer Art Mutprobe seinen ganz eigenen Dämonen stellen. Nur wer sein altes Leben hinter sich lässt, kann den Schritt ins Erwachsenenleben erfolgreich meistern, meint Pavlow. Wie nicht anders zu erwarten, geht dabei so einiges schief und was als magische Nacht beginnt wird für die einzelnen mehr und mehr zum Alptraum und stellt ihre Freundschaft auf eine harte Probe. Das Buch ist in Kapitel untergliedert, die jeweils aus der Perspektive eines der Protagonisten geschrieben sind. Diese Darstellung erlaubt einen tiefen Einblick in die individuelle Gedankenwelt der Teenager, die durch einen unterschiedlichen Schreibstil zusätzlich betont wird. Die Gruppendynamik wird hier greifbar, aber auch, dass nicht alles so eindeutig ist, wie es von außen erscheint. Auch wenn sie fast alles miteinander teilen, hat schließlich doch jeder seine kleinen Geheimnisse. Sarah Jäger liefert dem Leser eine coming of age Geschichte, deren Setting nicht wirklich neu ist, die aber mit Tempo, Direktheit, Überraschungen und authentischen Persönlichkeiten zu überzeugen weiß. Der innere Dialog der Figuren im Kontext mit der Handlung ist klug komponiert und lässt einen kaum los, schließlich will man wissen, wie die Nacht wohl enden wird.
- CS Tier aus Stein, Tier aus Gold
Einer muss zu Stein werden, der andere zu Gold, der Dritte aber wird sehend blind sein
Die neunjährigen Jungen Ion, Kedros und Smirkos langweilen sich während einer Opfer-Zeremonie zu Ehren der hohen Göttin und schlagen sich hinter deren Tempel in die Büsche. Dort finden sie eine wundersame Landschaft voller vertrauensseliger Tiere vor. Im kindlichen Übermut ahmen sie die soeben erlebte Opferszene im Tempel nach und verletzen dabei eine Eidechse leicht, sodass deren Blut auf die Erde tropft. Ohne es zu wissen, haben sie dadurch die Stätte der Göttin entweiht und einen Fluch auf sich geladen, der ihnen fünf Jahre später das Leben kosten könnte. Sie werden von den Arai, den Fluchgeistern, verfolgt, Gestaltwandlern, die den Urteilsspruch der Göttin wahr werden lassen: „Einer muss zum Tier aus Stein werden, der andere zum Tier aus Gold. Der Dritte aber wird sehend blind sein.“ Die Geschichte wird nun abwechselnd aus der Sicht der drei Jugendlichen erzählt, die sich ihrem ganz speziellen Schicksal stellen müssen: Ion wird in eine Ziege verwandelt und mit Goldfarbe angestrichen, Kedros an einen Mühlstein geschmiedet und zu Sklavenarbeit bei der Mehlherstellung gezwungen, das ihn mehr und mehr zu einer Steinstatue werden lässt, und Smirkos erlebt hellseherische Träume, kann das, was er gesehen hat, aber nicht deuten. So entspinnt sich eine rasante Hetzjagd mit der Zeit: sollten nämlich Ion und Kedros jemals ihre Situation akzeptieren, dann wäre der Fluch erfüllt und sie würden sterben. Ist Smirkos zu dem letzten Opfer bereit, das von ihm verlangt wird?
Unschwer ist die griechische Mythologie als Hintergrundfolie des Jugendromans rund um Ion, Kedros und Smirkos zu erkennen: die Handlung spielt im fantastischen Helladien, wo mächtige Götter wohnen, die sich von den Opfergaben der Pilger nähren, wo die antike Gesellschaftsordnung von Freien und Sklaven herrscht und die Raubzüge von einfallenden fremden Stämmen ganze Inseln ins Verderben stürzen können. Die Jungen bereiten sich auf ihr Kranichfest, das Fest ihrer Mannwerdung vor, das auch darüber entscheidet, was sie mit ihrem Leben einmal anfangen wollen. Dennoch ist die Geschichte auch eine der Jetztzeit: geht es doch um Freundschaft, die Bereitschaft, für die Allgemeinheit Opfer zu bringen und letzten Endes auch um die Frage des eigenen Lebenssinns.
Ein fantastischer antiker Adolszenzroman nicht nur für Mythologie-begeistertes jugendliche Leser von heute.
Dumme Ideen für einen guten Sommer
übersetzt von Susanne Klein
Die 12-jährige Edie wird von ihren hypernervösen Eltern stets in Erwartung der nächsten Katastrophe erzogen. Deswegen ist sie auf jedem Gebiet des Lebens unsicher und zurückhaltend. Im Kontrast dazu versteht ihre coole Cousine Rae Regeln im Allgemeinen und Besonderen bloß als unverbindliche Empfehlung. Die beiden lernen sich bei einem Aufenthalt im Haus ihrer kürzlich verstorbenen gemeinsamen Großmutter Petunia kennen, das von der Familie geräumt werden muss. Gemeinsam durchstöbern sie die alten Sachen ihrer Großmutter und finden eine Liste mit Ideen, die sich Petunia für den Sommer 1962 vorgenommen hat. Aus Langeweile beschließen die beiden Mädchen, diese abzuarbeiten. Stets umschwärmt von ihren nervigen Zwillingsgeschwistern und den Eltern, die sie zu Arbeiten im Haus einteilen wollen, freunden sich die beiden Mädchen an und finden heraus, dass es manchmal einen Haufen irrer Ideen braucht, um einen Sommer perfekt zu machen.
Während dieser Zeit entwickelt sich Edie von einem verschreckten, eingeschüchterten Kind zu einer Jugendlichen, die zunehmend ihr eigenes Leben in die Hand nimmt und sich von ihren Eltern ablöst. Die unkonventionelle Rae, aber auch die Mutproben, auf die sich Edie einlässt, zerbrechen langsam den Panzer, der ihre Erziehung ihr verpasst hat, und sie spürt das erste Mal so etwas wie Freiheit in ihrem Leben.
Sprachlich fällt bei dem aus Edies Sicht erzählten Roman auf, dass die darin verwendete Jugendsprache äußerst authentisch und witzig gewählt wurde. Dieser Umstand ist wohl besonders der guten Übersetzung von Susanne Klein zu verdanken.
Ein lesenswerter Jugendroman über die ersten eigenen Gehversuche hin zum Erwachsenwerden.
Asphalthelden
übersetzt von Anja Hansen-Schmidt
"Eigentlich sollte diese Geschichte ja so anfangen wie alle supergenialen Geschichten: mit einem Schulbus, der vom Himmel fällt."
In 10 Kapiteln entwirft Jason Reynolds in "Asphalthelden" (viel besser der Originaltitel "Look both Ways. A Tale Told in Ten Blocks") ein vielfarbiges Bild des Lebens rund um eine amerikanische Schule. Als Ordnungskriterium hat er dabei interessanterweise die Straßen gewählt, die die Jugendlichen beim Nachhausegehen verwenden: die besten Freunde TJ und Jasmin in der Marston Street zum Beispiel, die Superkurzhaar-Gang in der Placer Street oder Canton und seine Mutter an der Ecke Portal Avenue. Die Geschichten, die Reynolds jeweils von den ganz unterschiedlichen Jugendlichen erzählt, sind dennoch verwoben und aufeinander bezogen, genauso wie die darin angesprochenen Themen: die Abwesenheit eines Elternteils, Krankheit, Mobbing, der Tod eines Familienmitgliedes, Unfälle, erste Liebe, Armut, Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper oder Homosexualität. Dadurch entsteht das vielzitierte Kaleidoskop, das mit jedem Kapitel neu geschüttelt und dadurch einen neuen Blick auf ein und dasselbe Bild gewährt, das sich vor dem Leser entwickelt. Bis zum Schluss wird dabei die Spannung aufrechterhalten, was es mit dem eingangs zitierten fliegenden Schulbus wohl auf sich hat.
Dennoch ist jede einzelne Geschichte für sich ebenfalls verständlich, ja jeweils ein Kleinod der Erzählkunst. Nicht nur einmal wird im Verlaufe der Geschichte die Lesererwartung auf den Kopf gestellt. Da entpuppen sich Kleinkriminelle als fürsorgliche Kinder, unzugängliche Außenseiter als traumatisierte Angehörigen oder ungeschlachte Riesen als treue Freunde.
Ein großartiges Sammelsurium an Originalen und Themen, die sich zu einem Teppich verweben, der eine Ahnung davon bereithält, was es heute bedeutet, in den USA jugendlich zu sein.
- MD
Dunkelnacht
Boie, Kirsten | -
112 Seiten, Oetinger
Dunkelnacht dokumentiert die Vorgänge in Penzberg, einer oberbayerischen Kleinstadt 50 km südlich von München, am Vorabend der Befreiung vom Nationalsozialismus. Während die kriegsmüden Bewohner den Einmarsch der Amerikaner herbeisehnen, wird der beschauliche Ort zum Schauplatz absolut sinnloser Verbrechen. Ein Trupp Wehrmachtssoldaten zieht durch den Ort und hinterlässt eine blutige Spur. Wer dem Terror entkommt, kann immer noch nicht aufatmen, da der "Werwolf" anschließend mit weiteren, vermeintlichen Verrätern kurzen Prozess macht.
Die Geschichte wird aus unterschiedlichen Perspektiven von Penzberger Bürgern und anderen Protagonisten erzählt. Die bekannte Kinder- und Jugendbuchautorin Kirsten Boie greift dabei auf zeitgeschichtlich Protokolle und Gesprächserinnerungen zurück und dokumentiert die Geschehnisse auf beklemmend reale Art und Weise.
Im zweiten Weltkrieg gab es sicherlich viele noch viel bestialischere Verbrechen als die hier beschriebenen. Was die Ereignisse hier aber absolut erschütternd macht, ist deren völlige Willkür besonders zu diesem Zeitpunkt, als kurz vor der endgültigen Kapitulation ohnehin bereits alles verloren ist. Die geschundene Bevölkerung hätte nach den Entbehrungen der Kriegsjahre nur noch einen einzigen Tag bis zum Einmarsch der amerikanischen Soldaten überstehen müssen und fiel dennoch den eigenen unbarmherzigen Häschern zum Opfer. Das lässt den Leser ebenso wütend wie auch fassungslos zurück, ähnlich wie bei so vielen anderen Berichten aus der Zeit des Holocaust.
Dunkelnacht präsentiert einen harten Lesestoff aus der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte, der lange nachhallt und sicher nichts für zarte Gemüter ist. Daher empfiehlt sich das Buch erst für ältere Jugendliche als Lektüre. Als Zeitdokument, bei dem alles auf wahren Begebenheiten und (Gesprächs-)Protokollen beruht, lässt es sich sicherlich auch in der Oberstufe gut als Schullektüre nutzen.
- CS
Broken Things
Alles nur (k)ein Spiel
Fünf Jahre nach dem Mord an der jungen Schülerin Summer kommen ihre besten Freundinnen, Mia und Brynn, an den Ort des Geschehens zurück. Zusammen mit Owen, der, genau wie die beiden Mädchen, dringend tatverdächtig war, wollen sie die damaligen Ereignisse aufarbeiten und den wahren Täter finden. Der Schlüssel zu dem Verbrechen liegt dabei in einem Fantasybuch, das die Kinder damals fasziniert hat und dessen Fortsetzung sie nicht nur selbst geschrieben, sondern auch nachgespielt haben. Nicht nur in der Fantasiewelt Lovelorn ist nicht alles wie es scheint, auch in der Realität ist vieles verworrener als es auf den ersten Blick wirkt. Das gilt vor allem für die komplexen Beziehungen zwischen den Teenagern, in der Gegenwart wie auch in der Vergangenheit. Das Buch wird abwechselnd aus der Sicht von Mia und Brynn erzählt. Meist spielen die Kapitel im hier und jetzt, es gibt aber auch Rückblicke in die Zeit vor fünf Jahren, als der Mord geschah. Diese unterschiedlichen Perspektiven machen das Buch interessanter, auch wenn sie als Stilmittel nichts Neues sind. Broken Things ist eine etwas langatmige und am Ende doch recht konventionelle Kriminalgeschichte mit wenigen echten Höhepunkten. Das Buch verliert sich sehr in den Charakterisierungen der Hauptpersonen. Diese sind allesamt mit verschiedenen Problemen beladen und jede auf ihre eigene Weise nicht besonders sympathisch, aber genau das macht andererseits auch wieder den Reiz der Geschichte aus. Die psychologischen Aspekte der Dynamik um Mia, Brynn und Summer sind sehr ausführlich dargestellt. Wer sich für zwischenmenschliche Beziehungen und Probleme interessiert, wird hier reichlich bedient. Wer jedoch einen spannenden Thriller sucht, wird am Ende eher etwas enttäuscht zurückbleiben.
- CS Das kostbarste aller Güter. Ein Märchen
übersetzt von Edmund Jacoby
Die arme Holzfällersfrau, die tagtäglich im Wald in der Nähe der Bahnstrecke das Holz zusammenklaubt, um wenigstens am Abend etwas Wärme in das kärgliche Heim zu bringen, wünscht sich so sehr ein Kind. Aber es herrscht Krieg, Hunger und Gewalt. Ihr Mann ist dankbar, dass er nicht noch ein Maul stopfen muss, denn es reicht jetzt schon nicht zum Leben und zum Sterben. Einzig der Zug, der täglich zur selben Zeit durch den Wald und durch das entbehrungsreiche Leben der Frau fährt, scheint ein Bote aus einer anderen und besseren Wirklichkeit zu sein, so dass die Frau mit diesem Zug spricht, wenn er vorbei fährt, ihn anfleht, ihr doch etwas seiner geladenen Güter, etwas zu essen zukommen zu lassen. Und eines Tages passiert das Wunder: das, was aus dem Zug und beinahe vor ihre Füße fällt, ist ein Säugling. Sofort stürzt sich die Frau in ihre Mutterrolle, verteidigt das Kind, obwohl es, wie der Holzfäller gleich feststellt, ein Abkömmling der verfluchten Rasse ist. Sie beschützt und liebt das kleine Wesen und schafft es, gegen alle Schwierigkeiten, das kostbare, kleine Gut am Leben zu erhalten und aufzuziehen. Jean-Claude Grumberg gelingt in diesem kleinen und kostbaren Buch ein Märchen, welches die Schrecken der Shoah und die Kraft der Liebe in meisterhafter Sprache erzählt. Kongenial übersetzt von Edmund Jacoby und ebenso meisterhaft wie düster illustriert von Ulrike Möltgen. Ein Buch, das nachdenklich macht zutiefst bewegt.
- JPS
Optimisten sterben früher
übersetzt von Anja Herre
Die 15-jährige Petula hat eine Menge Zwänge und Vermeidungsstrategien entwickelt, um einigermaßen klar zu kommen. Dafür muss sie u.a. ständig Umwege gehen um Baustellen zu vermeiden, darf nie einen Fahrstuhl nehmen, benötigt massenhaft Desinfektionsmittel und kann niemals eine öffentliche Toilette benutzen. Alle diese Zwangshandlungen haben sich entwickelt, seit ihre kleine Schwester Maxine gestorben ist und Petula sich die Schuld an Maxines Tod gibt. Aufgrund ihrer Schuldgefühle und Ängste ist sie Teil der Kunsttherapiegruppe in ihrer Schule, frei übersetzt mit: „Basteln für Bekloppte“. Schuldgefühle sind das tragende Thema in dieser Gruppe und damit auch dieses Buches, in dem die Kanadierin Susin Nielsen viel Humor und einen stets liebevollem Blick auf die jeweiligen Protagonisten beweist. Hier kämpfen nicht nur die Jugendlichen in der Kunsttherapie -gruppe (interner Name: FuKJu), sondern auch die Erwachsenen, Eltern, Sozialarbeiter und Lehrer mit Schuldgefühlen. Es werden verschiedene, mehr oder weniger funktionierende Methoden des Umgangs mit Schuldgefühlen vorgestellt, besonders dynamisch wird es jedoch mit Jacobs Eintritt in die FukJu Gruppe. Jacob ist ein begabter Video-Filmer und weckt mit diesem Medium die Kreativität der Gruppenmitglieder. Plötzlich wird eine Begegnung mit der Geschichte hinter der Schuld möglich- und für Petula eine Begegnung mit sich selbst und mit der Liebe zu Jacob.
Mir viel Einfühlungsvermögen und (therapeutischem) Hintergrundwissen gelingt der Autorin eine außergewöhnliche Liebesgeschichte - und außerdem eine Geschichte über die Heilkraft des Bastelns und über die Heilkraft der Gruppentherapie, die mich als Kunsttherapeutin erfreut und bereichert. Nach „Adresse Unbekannt“(nominiert für den DJLP 2021) ein weiteres, absolut lesenswertes Buch von Susin Nielsen!
- JPS
Poet X
übersetzt von Leticia Wahl
Xiomara, Tochter von Migrant*innen aus der Dominikanischen Republik, wächst gemeinsam mit ihrem Zwillingsbruder Xavier in Harlem auf. Beide sind extrem unterschiedlich: Xavier eher der Stille, Bedachte, das „Genie“, der auf eine Schule für Hochbegabte geht, Xiomara das Gegenteil, laut, überbordend, wegen ihrer ausladenden Körperfülle von den Jungs oft belacht, aber sie weiß sich zu wehren. Zum Glück wird sie unterstützt von ihrer Freundin Caridad, zu dritt sind sie ein unschlagbares Team.
Aber: Dinge beginnen sich zu ändern: Xiomara oder „X“, wie sie auch genannt wird, beginnt „Wahrheiten“ zu hinterfragen : „Wenn man mir sagt, dass mein Leben für mich nichts als Angst und Feuer bereit hält“ oder „Wenn ich mich in der Kirche umsehe und keiner der Engel oder Jesus oder Maria, nicht einer der Jünger so aussieht wie ich: dunkel, kurvig und wütend.“
Zum Entsetzen ihrer Mutter verweigert sie wiederholt das Abendmahl, obwohl sie ihn eigentlich mag, den Pater Sean, aber sie teilt nicht seine Antworten auf ihre drängenden Fragen.
Im Bio Unterricht lernt sie Aman kennen und verliebt sich in ihn. Natürlich ein absolutes „no go“ für eine gute und anständige Latina. All diese Ungerechtig-keiten brodeln in ihr, formen sich zu Wörtern und werden aufgeschrieben in ihrem geheimen Notizbuch. Aber auch Xavier ist verliebt, unglücklicherweise in eine Jungen, noch mehr no go.
Ihre Lehrerin Ms Galliano ahnt, was in Xiomara schlummert und versucht sie zu einer Teilnahme am Slam Poetry Club zu überreden. Es braucht einen geheimen Halloweenabend mit Aman, 1x Küssen im Zug und dabei von der strengen Mutter erwischt werden und das Drangsalieren des Zwillingsbruders durch Klassenkameraden, bis es nicht mehr anders geht und sie dem beharrlichen Werben ihrer Lehrerin folgt. Ihre Worte wollen raus und Gehör finden. Die Clubbesuche finden heimlich statt, anstelle des Kommunions-unterrichtes, sie werden zum wichtigen Fixpunkt in ihrem Leben. Endlich trifft sie auf Gleichgesinnte, fühlt sich verstanden. Ein „open mic“ Abend mit Caridad und Xavier in einer legendären slam location wird zur Offenbarung, als sie die Bühne rockt, denn ihre Freundin hat sie heimlich angemeldet.
Bleibt noch die nicht leichte Beziehung zu Aman, bleibt ihre höchst gespannte Beziehung zu ihrer Mutter und es kommt erneut zum Eklat, bei dem ihre Mutter ihr geheimes Notizbuch verbrennt. Unvorstellbar, undenkbar. Am Ende ist es unerwarteterweise der Pater, der ihr hilft...Mit dem „poetischen Freispruch“ ihrer Mutter kann sie nicht anders als den New York Cityslam zu gewinnen, denn „In meinen Worten liegt Kraft“ - und was für welche !
Alles nur aus Zuckersand
Kummer, Dirk
144 Seiten, Carlsen
Wie lange dauert es wohl, von der DDR aus bis nach Australien zu graben? Mindestens 100 Tage meint Fred, der Vorteil ist aber, dass sein bester Freund Jonas nach der Ausreise von der anderen Seite anfängt, dann geht es sicher erheblich schneller, vielleicht sogar in nur 12 Tagen. Die beiden Freunde leben in der DDR unter unterschiedlichsten Bedingungen. Während Freds staatstreuer Vater beim Zoll angestellt ist, lebt Jonas nach dem Tod seines Vaters mit der regimekritischen Mutter alleine. Dennoch erschaffen sich die beiden Jungs eine eigene Traumwelt, in der sie Abenteuer erleben und sich trotz der allgegenwärtigen Vorschriften eine „normale“ Kindheit erschaffen. Erst als Jonas Mutter einen Ausreiseantrag stellt ändert sich alles und das Leben der Jungen und ihre Freundschaft wird auf harte Proben gestellt.
„Alles nur aus Zuckersand“ ist ein bezauberndes Buch über Freundschaft gegen alle Widrigkeiten. Trotz des überschaubaren Umfangs ist dem Autor hier eine rührende Geschichte gelungen, die jungen Lesern die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens in der DDR behutsam vor Augen führt. Dabei ist es hier gar nicht die Beobachtung durch die Stasi und die Drangsalierung durch den Staat, die unterschwellig Unwohlsein erzeugt, sondern eher die DDR-Begeisterung des Vaters, der das Regime mit Nachdruck allgegenwärtig werden lässt und das tägliche Mobbing in der Schule, wenn man eben nicht politikkonform im Strom mitschwimmt. Dirk Kummer erzählt hier eine gute Geschichte, die Kindern den Unrechtsstaat der DDR wieder ein Stück näher bringt und gegen das Vergessen und die Ostalgie angeht. Sicherlich auch gut als Schullektüre geeignet.
- CS
Sibiro Haiku
Vilė, Jurga | Itagaki, Lina
240 Seiten, Baobab
Der Großvater der Autorin wird im Alter von 8 Jahren mit seiner Familie und vielen Bewohnern seines lettischen Dorfes von den Russen nach Sibirien verschleppt. Trotz unmenschlicher Bedingungen und schwerer Arbeit im harten sibirischen Klima erhalten sich die Gefangenen ihre Menschlichkeit. Mit einem Buch über japanische Haikus und durch die Gründung eines Chors trotzen Sie ihrem Schicksal mit Humor, Phantasie und der Erinnerung an die Heimat.
Die hierzulande wenig bekannte Geschichte der lettischen Bevölkerung im 2. Weltkrieg bekommt durch Jurga Vilės Buch ein Gesicht. Dass sie die wahre Geschichte Ihres Großvaters sehr persönlich erzählt macht das Buch umso authentischer. In eigenwilligen Bilder der Künstlerin Lina Itagaki und Texten, die in ungewöhnlicher, kindlicher, Handschrift gestaltet sind, wird die Geschichte abwechslungs- und facettenreich erzählt. So entstand eine ungewöhnliche Graphic Novel zu einem bis dato wenig beachteten Thema.
Aus Sicht der Kinder erzählt, ergibt sich eine völlig andere Sicht auf das Lagerleben als aus erwachsener Perspektive. Dass die Geschehnisse gänzlich anders wahrgenommen und berichtet werden macht sicherlich die Faszination dieses Buch für erwachsene Leser aus. Wenn man die Lektüre Kindern unkommentiert überlässt, besteht allerdings die Gefahr, dass die Schrecken der Gefangenschaft unterschätzt werden, da hier Vieles eher wie ein Spiel wirkt. Daher erfordert diese, inhaltlich wie gestalterisch, ungewöhnliche Graphic Novel etwas Kontext für junge Leser. Ist dieser gegeben, kann das Buch pädagogisch sicherlich sehr wertvoll sein und z.B. auch im Schulunterricht genutzt werden.
- CS Verraten
Poppe, Grit
336 Seiten, Dressler
Die DDR befindet sich im Jahr 1986 irgendwo zwischen Glasnost und Tschernobyl. Mittendrin lebt Sebastian bei seiner Oma, nachdem seine Mutter verstorben ist. Als Halbwaise kommt er ins Jugendheim, als seine Oma die beiden nicht mehr alleine versorgen kann. Während ihn sein leiblicher Vater aus dem Heim holt gelingt es einer anderen Insassin, Katja, in die Freiheit zu fliehen. Fortan versteckt sie sich bei Sebastian auf dem Speicher. Nachdem Sebastians Vater in der Vergangenheit Werbung für die polnische Solidarnoc Bewegung gemacht hatte, musste er wegen Landesverrats vier Jahre im Gefängnis verbringen. Wer einmal in die Mühle des Überwachungsstaats gerät kommt da so schnell nicht mehr raus. Das merkt auch Sebastian, als er plötzlich Besuch von Herrn Möller bekommt, der ihn mit immer stärker werdendem Druck zum Stasispitzel macht und auf seinen Vater und seine Klassenkameraden ansetzt. Für Sebastian beginnt ein moralischer Seiltanz aus Angst wieder in ein Jugendheim zu müssen. Wird er zum Verräter? Immerhin steht nicht nur seine eigene Zukunft auf dem Spiel, für seinen Vater und Katja geht es um weit mehr. Zwischen allen Stühlen muss sich Sebastian entscheiden, wo seine wahre Loyalität liegt. Wie es ausgeht wird nicht "Verraten", lediglich, dass man am Ende gerne noch weitergelesen und mehr über das weitere Leben erfahren hätte, schließlich ist der Mauerfall fast schon in Sichtweite.
Der Roman wird abwechselnd aus Katjas Sicht in der ich-Form und Sebastians Perspektive in der er-Form erzählt. Durch die gleichberechtigte Darstellung einer weiblichen und männlichen Hauptfigur ist das Buch für Mädchen wie Jungen gleichermaßen geeignet. Interessant ist der Blick in die Jugendheime der DDR, die mehr Gefängnissen ähnelten. Die Geschichte basiert auf wahren Informationen eines jugendlichen IMs, der auch im Anschluss in einem Interview zu Wort kommt. Zusätzlich werden noch Originaldokumente gezeigt, die auch in ähnlicher Form im Buch eine Rolle spielen. Das beweist, wie authentisch die Ereignisse dargestellt sind und welche psychischen Tricks von der Stasi angewendet wurden um Druck auszuüben und die IMs immer mehr in Ihren Bann zu ziehen. Wer immer noch nicht anerkennen will, dass es sich bei der DDR um einen Unrechtsstaat gehandelt hat, dem ist spätestens nach so einem Bericht auch nicht mehr zu helfen.
Der Leser findet hier ein spannendes und authentisches Buch über ein dunkles Kapitel der gesamtdeutschen Geschichte, das sich als Deutschlektüre oder im Geschichtsunterricht sicher auch gut für die Schule verwenden lässt. Dank einer starken Geschichte und der gesellschaftlichen Relevanz ist das Buch zu recht auf der Nominierungsliste für den deutschen Jugendliteraturpreis.
- CS After the fire
übersetzt von Wolfram Ströle
Moonbeam wächst im Camp einer christlichen Sekte auf. Als die abgeschottete Basis der „Legion Gottes“ bei der Erstürmung durch die Polizei in einer Brandkatastrophe untergeht beginnt für Moonbeam ein völlig neues Leben. In den therapeutischen Sitzungen mit einem Psychologen und einem FBI Agenten erforscht Sie ihre Gefühle und die Geschehnisse in der Basis. Zusammen mit anderen überlebenden Kindern muss sie ihr Trauma überwinden und in die Normalität zurückfinden. Mit der Zeit kommen immer mehr schmerzhafte Wahrheiten ans Licht, je weiter sich Moonbeam vorwagt und sich den beiden Männern anvertraut.
Die Kapitel gliedern sich in die Zeit „Davor“ und „Danach“ und erzählen die Geschehnisse auf zwei, sich ergänzenden, Zeitebenen. Wie kam es zu den traumatisierenden Erlebnissen und wie werden sie von Moonbeam verarbeitet? Behutsam öffnet sich Moonbeam den Fragen der beiden Männer und die unglaublichen Geschehnisse entfalten sich langsam zu einem Gesamtbild, das den Wahnsinn des Sektenführers und seiner loyalen Anhänger in seiner ganzen Schrecklichkeit portraitiert. Dabei erweist sich Moonbeam als eine charakterstarke Persönlichkeit, die in einer absoluten Grenzsituationen Mut und Tapferkeit beweist. Trotz der jahrelangen Indoktrination hat sie sich ihre Menschlichkeit bewahrt. Gerade ihre Verletzlichkeit und Unsicherheit machen sie sympathisch und lassen sie besser als Vorbild geeignet erscheinen, als so manchen fehlerlosen Superhelden.
Das Buch und seine Geschehnisse sind emotional aufwühlend und bleiben dem Leser im Gedächtnis, vor allen da es sich um eine wahre Geschichte handelt. Angelehnt an das Schicksal der Branch Davidians in Waco Texas wird hier eine fesselnde Story erzählt. Das ist nichts für zartbesaitete Kinder, sondern richtete sich eher an ältere Jugendliche. Die Geschichte zeigt deutlich die Gefahren von Leichtgläubigkeit, Manipulierbarkeit und Gehirnwäsche durch religiösen Fanatismus, transportiert damit eine wichtige Botschaft, und kommt dennoch ohne moralischen Zeigefinger aus. Trotz des schwierigen Themas absolut lesenswert!
- CS Unheimliche Geschichten: Band 2
Poe, Edgar Allen | Lancombe, Benjamin
208 Seiten, Jacoby & Stuart
Die Geschichten von Edgar Allen Poe angereichert mit Illustrationen von Benjamin Lancombe, was soll da schief gehen? Dabei muss man erwähnen, dass die Geschichten in der ursprüngliche Originalübersetzung dargeboten werden. Die oftmals altertümliche Sprache ist wahrscheinlich nicht jedermanns Sache und grade für junge Leser hie und da etwas mühsam, passt aber natürlich wunderbar zum Inhalt und erzeugt das gewisse Flair, dass durch die viktorianisch anmutende Bebilderung noch weiter vertieft wird.
Fans von Edgar Allen Poe und Freunde gediegener Erzählungen mit leichtem Gruselfaktor finden hier ein wunderbares Buch. Auch wenn die Geschichten nach heutigen Maßstäben nicht besonders schockierend anmuten muss man das natürlich im Kontext ihrer Entstehungszeit betrachten. Freunde von Benjamin Lancombe werden die Illustrationen lieben, wer ihn noch nicht kennt, wird sie lieben lernen. Die Auswahl der Geschichten ist in diesem Band zwei allerdings nicht 100% gelungen; auch wenn die Erklärung zu Maelzels Schach Spieler ein wichtiges Werk in Poes Schaffen darstellen mag, passt Sie irgendwie nicht wirklich zum restlichen Charakter des Buches. Vielleicht waren aber auch schon zu viele von Poes Klassikern im ersten Band veröffentlicht, sodass die Auswahl hier bereits knapper war?
- CS Future History 2050
übersetzt von Edmund Jacoby
Billy interviewt im Jahr 2050 ihre Oma Nancy zum Zeitraum der vergangenen 30 Jahre. Nach der Klimakatastrophe hat sich das Leben in vielen Bereichen grundlegend geändert. Politik, Religion und Gesellschaft sind kaum widerzuerkennen. Die Kluft zwischen den normalen Menschen und den Superreichen ist noch größer geworden. Obwohl sie in einem regulierten Polizeistaat leben, sind die Menschen dankbar für die Sicherheit und die alltägliche Sorgenfreiheit durch ein sicheres Grundeinkommen. Durch die Erzählungen ihrer Großmutter erkennt Billy langsam größere Zusammenhänge. Ein guter Freund ihres verstorbenen Onkels, der sich seinerzeit als Umweltaktivist viele Gegner gemacht hat, hilft ihr, ihr Wissen in die Vergangenheit zu schicken um die Menschen wachzurütteln und schlimmsten Veränderungen noch zu verhindern.
Das Buch berichtet über die kommenden Veränderungen in der Rückschau durch Billys Aufzeichnungen. Das diese Erzählweise funktioniert, liegt auch daran, dass der Text durch viele fiktive Dokumente und Bilder ergänzt wird, die der Geschichte zusätzlich Leben einhauchen. Florian Topernpong hat hier eine eigene Welt erschaffen, die sich in sehr authentisch wirkenden Werbeanzeigen, Fotos, Postkarten und vielem mehr präsentiert. Diese abwechslungsreiche und sehr kreative Gestaltung mit unterschiedlichsten Techniken entführt den Leser glaubwürdig in die Zukunft. Future History 2050 ist ein äußerst ungewöhnlicher Roman im Dokumentationsstil, der eine mögliche Zukunft für die Welt prognostiziert, die wir lieber nicht erleben wollen. Durch die Notizen von Billy werden die Leser mehrmals eindringlich aufgefordert es nicht soweit kommen zu lassen, sondern ihr eigenes Leben zu ändern um der Natur wieder ein Chance zur Erholung und Anpassung zu geben. Vielleicht wirkt diese Form der Darstellung besser als direkte Apelle, vielleicht auch nicht. Es bleibt aber auf jeden Fall ein interessantes und intelligent arrangiertes Projekt, dass man als Leser sicher nicht bereut.
- CS Reden ist Verrat
übersetzt von Verena Kiefer
In den besetzten Niederlanden schließen sich die beiden jugendlichen Schwestern Freddie und Truus dem Widerstand gegen die Deutschen an. Was mit einfachen, wenn auch nicht ungefährlichen Botendiensten beginnt, wird bald bitterer Ernst, als die Widerstandsgruppe holländische Verräter, Kollaborateure und besonders brutale deutsche Besatzer ins Visier ihrer Aktionen nimmt. Die beiden Mädchen sind als vermeintlich harmlose und unverdächtige Lockvögel prädestiniert, Zielpersonen in die Falle zu locken. Doch schon bald beginnen für Freddie die ersten Selbstzweifel. Zwischen Rache, Selbstjustiz und Widerstand stellt sich die Frage: was ist im Krieg erlaubt? Darf man Verräter gewaltsam zur Rechenschaft ziehen? Und was ist mit den Vergeltungsschlägen der Deutschen die unschuldige Bürger treffen? Was mit einfachen Antworten begann, wird schnell zum moralischen Dilemma, aus dem es keinen einfachen Ausweg gibt.
Wilma Geldorf erzählt eine spannende Geschichte, die auf wahren Begebenheiten und den Erinnerungen der echten Freddie Oversteegen beruht. Viele innere Monologe verdeutlichen Freddies Zerrissenheit zwischen Mut und Unsicherheit, Liebe und Angst und wie sie die allgegenwärtige Gewalt immer wieder vor sich selbst rechtfertigt. „Reden ist Verrat“ ist kein Heldenepos sondern ein starkes Buch über eine mutige junge Frau, die in jungen Jahren unsagbare Erfahrungen machen musste. Niemandem trauen zu können und sich niemandem anvertrauen können erweist sich als schwere Bürde. Nicht einmal ihrem angebeteten Peter kann sich Freddie anvertrauen, nur Oma Brache, eine versteckte Jüdin, wird zu einer Vertrauensperson, aber was passiert, wenn die entdeckt wird? Das Buch lässt einen atemlos zurück, von der ersten bis zur letzten Seite ist die Spannung greifbar und man fiebert mit Freddie und ihrer Gruppe mit. Auch an den Zweifeln und der Unsicherheit, das Richtige zu tun, nimmt der Leser eindringlich teil. Neben der geschichtlichen Relevanz ist das ein wichtiger Punkt, der sicherlich Anlass zu vielen spannenden Diskussionen bietet und das Buch auch als Schullektüre gut geeignet erscheinen lässt.
- CS Sankt Irgendwas
Bach, Tamara
180 Seiten, Carlsen
Die 10b ist auf Studienfahrt in einer anonymen Ortschaft, begleitet von ihrem Klassenlehrer Dr. Utz und der jungen Lehrerin Kaiser. Die Klasse wird während der gesamten Woche auf Schritt und Tritt kontrolliert. Dr. Utz nimmt das Prinzip der „Studienfahrt“ sehr ernst und es muss an jedem Tag mehrere Führungen und von den Schülern gehaltene Referate geben. Die Beziehung zwischen dem Klassenlehrer und den Schülern spitzt sich immer mehr zu, er lässt seinen Schülern keinerlei Freiheiten; bis zum Schluss die Situation eskaliert und der Busfahrer, der mittlerweile mit den Schülern mitleidet, die zwei Lehrer an einem Aussichtspunkt stehen lässt und mit den Schülern abfährt…
Tamara Bach erzählt auch diese Geschichte wie gewohnt als Miniatur der hohen Erzählkunst. Dieses Mal hat sie sich für das Prinzip der Collage entschieden, die aus direkten Reden von Schülern anderer Klassen besteht, aus Elternbriefen von Dr. Utz, aus dem Protokoll, das die 10b während des Aufenthaltes gestaltet sowie aus Postkarten, die die Schüler den Daheimgebliebenen schreiben.
Interessant ist vor allem die Entwicklung der Schüler, die anfangs von ihrem Klassenlehrer eingeschüchtert sind, am Schluss jedoch nicht mehr können und ausbrechen. Oder die Figur des Busfahrers, der zu Beginn die Klasse so wie Dr. Utz gängelt und kontrolliert, sich später jedoch mit ihr solidarisiert und den Schülern einen Tag am Strand und einen Abend in der Stadt ermöglicht. Dr. Utz hingegen verändert sich während der gesamten Handlung keinen Millimeter: er ist und bleibt ein Steinzeitlehrer, der keinerlei Widerspruch duldet, auch wenn er im Unrecht ist, und so jedwedes Klischee eines schlechten Lehrers erfüllt.
Zurecht nominiert für den deutschen Jugendliteraturpreis 2021
- MD Die ganze Wahrheit (wie Mason Buttle sie erzählt)
übersetzt von André Mumot
Mason Buttle ist ein spezieller Junge, er ist Legastheniker und Synästhetiker, sehr groß für sein Alter und schwitz ständig stark. Darüber hinaus ist er aber auch ein treuer Freund und ein überaus ehrlicher und freundlicher Mensch, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Leider liegt in seiner Heimatstadt Merrimack ein dunkler Schatten über ihm, seit sein damaliger bester Freund bei einem Sturz aus Masons Baumhaus ums Leben gekommen ist. Da wird der Außenseiter schnell zum Verdächtigen. Mason lebt auf der ehemaligen Apfelplantage seiner Familie, die von seiner Oma und seinem Onkel verwaltet wird. Nach dem frühen Tod seiner Eltern ist die ganze Familie in einer langwierigen Depression gefangen, was Masons Leben zusätzlich erschwert. In der Schule lernt er aber schließlich Calvin kennen, freundet sich mit ihm an und das Leben sieht plötzlich wieder viel freundlicher aus. In der Folge erleben die beiden Außenseiter viele Abenteuer zusammen und schaffen sich Ihre eigene Welt, bis schon wieder etwas Schlimmes passiert.
Die Erzählung entwickelt sich langsam und behutsam, ohne jemals langweilig zu sein. Die Sprache ist präzise in kurzen Sätzen gehalten. Die Charaktere von Mason, Calvin und Mrs. Blinny, ihrer Schul- Sozialpädagogin, hat man rasch ins Herz geschlossen. Aus diesen Zutaten entsteht eine wunderbare Geschichte, die einen schnell in ihren Bann zieht. Auch wenn das Ende nicht vollkommen überraschend ist, so fiebert man doch mit Mason mit und hofft, dass alles gut ausgeht. Dafür ist er einfach zu liebenswert; in vielen Punkten erinnert er mit seiner schonungslosen Ehrlichkeit und Freundlichkeit an Forrest Gump. „Die ganze Wahrheit“ ist ein liebevolles Buch über ein spezielles Kind, über Mobbing und den schwierigen Schulalltag, wenn man eben nicht „dazu passt“. Aber es ist auch eine Geschichte über Trauer, Freundschaft, Treue und innere Werte. Immer mit einem Schuss Hoffnung dank Masons unbeugsamer, positiver Einstellung allen Widrigkeiten zum Trotz. Davon könnten sich viele Menschen eine Scheibe abschneiden. Absolut lesenswert.
- CS Zu cool um wahr zu sein
Lystad, Mina
224 Seiten, Hummelburg
Die Norwegische Autorin Mina Lystad erzählt in „Zu cool um wahr zu sein“ eine klassische Highschool Geschichte vor dem Hintergrund von Social Media und Internethype. Marie ist ein ganz normales Mädchen, in ihren eigenen Augen sogar viel zu normal um interessant zu sein. Außer Espen, den sie schon seit dem Kindergarten kennt, hat sie keine engen Freunde. Als sie für die Schule ein Social Media Projekt starten soll, trifft sie, nach anfänglichem Widerwillen, überraschend ins Schwarze und ihre Situation ändert sich grundlegend. Plötzlich suchen sogar die Alpha-Mädchen um die Klassenqueen Heddy den Kontakt zu ihr. Ungewollt beginnt darunter die Beziehung zu Espen zu leiden und die Anpassung an das neue Leben fällt Marie zunehmend schwer. Ein unbedachter Moment endet dann auch noch mit einer persönlichen Katastrophe für Marie und sie lernt, wie schnell das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlagen kann. Flüssig geschrieben, liest sich der Roman leicht und locker. Das liegt auch an den Charakteren, Marie hat man schnell ins Herz geschlossen und durchlebt gerne alle Höhen und Tiefen mit ihr. „Zu cool um wahr zu sein“ ist ein kurzweiliger Roman über das Erwachsenwerden, wahre Freunde und was wirklich zählt im Leben. Es bleibt zu hoffen, dass einiges davon übertrieben ist, die traurige Wahrheit dürfte aber sein, dass hier nicht allzuviel überbordende Phantasie am Werk war. Der Einfluss und die Reichweite einiger Influencer in den sozialen Netzwerken ist schon beeindruckend - und das mit Themen, die häufig über Schminktipps oder Computerspiele nicht hinausgehen. Sobald der Schneeball für diese „Experten“ einmal ins Rollen gekommen ist, hält ihn erstmal so leicht nichts mehr auf, und sie bekommen ein regelmäßiges Publikum, für das jeder Politiker dankbar wäre. Das schneller Ruhm und Erfolg aber auch sehr kurzlebig sein können, wenn das Pendel in die andere Richtung ausschlägt, erlebt Marie am eigenen Leibe. Der nächste „Shitstorm“ lauert hinter jedem unbedachten Post. Wenn sich die Internetgemeinde dann gegen einen verschwört, kann die schöne Glitzerwelt auch ebenso schnell zusammenbrechen und in Mobbing, Stalking und wüste Beschimpfungen umschlagen, wie auch Marie bald feststellen muss. Für Jugendliche wäre es besser Marie nachzueifern, als Heddy. Vielleicht führt die Lektüre dazu, dass der eine oder andere Leser ins Grübeln kommt, was wirklich wichtig ist und was nur auf den ersten Blick toll aussieht, hinter der Kulisse aber schnell an Glanz verliert. Das Buch ist auf jeden Fall ein starkes Plädoyer für die Maries dieser Welt, die man trotz ihrer Fehler nur unterstützen kann.
- CS Papierklavier
Steinkellner, Elisabeth | Gusella, Anna
140 Seiten, Beltz & Gelberg
Wie ist es für einen weiblichen Teenager, im 21. Jahrhundert in der Pubertät zu sein? Elisabeth Steinkellner und Anna Gusella beantworten diese Frage mit dem schmalen Band „Papierklavier“, einem Tagebuch der 16-jährigen Maia, die die Hochs und Tiefs ihres abwechslungsreichen Alltags in Wort und Bild festhält. Gemeinsam mit ihren zwei Schwestern und ihrer Mutter lebt sie in einer kleinen Wohnung, leidet unter ihrem Aussehen und dem ihrer Freundinnen und erlebt die ersten Verwirrungen der Liebe. Als dann auch noch ihre Nachbarin, die sie liebevoll Oma Sieglinde nennen, stirbt, gerät Maias ohnehin schon fragiles Leben vollends aus den Fugen. All dies erzählt Elisabeth Steinkellner in einem einfachen, an der gesprochenen Sprache orientierten Stil, wobei besonders die Interdependenz zwischen Bild und Text jeder Doppelseite zusätzliche Tiefe verleiht: Großartig, wie Anna Gusella in ihren in schwarz-weiß-grün gehaltenen teils fantastischen Illustrationen die ständig wechselnden Stimmungen der Protagonistin einfängt, wobei auch der in verschiedenen Schriftarten gehaltene Text Teil der künstlerischen Gestaltung ist.
Gemeinsam mit dem heftartigen Einband des Buches ergibt sich also ein Gesamtkunstwerk aus Inhalt, Text und Bild, das an aktuelle Lese- und Sehgewohnheiten á la Instagram oder TikTok angelehnt ist (obwohl die Protagonistin das Konzept dieser sozialen Netzwerke leidenschaftlich ablehnt): Lebenserkenntnisse, in ungeschminkter Sprache ausgedrückt, schonungslos-treffende Bilder und ein loser, assoziativer Textzusammenhang zeichnen das „Papierklavier“ aus, in dem die Künstlerinnen die verschiedenartigen Töne in der Lebensmelodie der Protagonistin auf authentische Art zum Klingen bringen.
Mehrfach preisgekrönt und nun auch zurecht nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis.
Ein alltäglich-großartiges sowie emotional-feinfühliges Lesevergnügen nicht nur für Heranwachsende.
- MDKronox heißt der neue Jugendroman des Autorenduos Reifenberg und Tielmann, das uns schon die Ocean City Trilogie geschenkt hat. Diesmal spielt die Handlung in Deutschland, gerade einmal 10 Jahre in der Zukunft. Paul hat seit kurzer Zeit seltsame Kopfschmerzen und zwar immer zur gleichen Tageszeit. Durch Zufall lernt er drei weitere Jugendliche kennen, die ähnliche, unerklärliche Symptome aufweisen. Schnell wird klar, dass hier etwas nicht stimmt und die vier ungewollt Teil eines größeren Experiments sind. Die zugrunde liegende Verschwörung zieht sich bis in die höchsten Kreise der Politik, sogar der BND und die junge Bundeskanzlerin sind darin verwickelt. Paul und seine Freunde stehen plötzlich im Zentrum von Intrigen die nicht nur die nächste Wahl entscheidend beeinflussen können, sondern bei denen es um Leben und Tod geht.
Kronox ist eine Action-Story mit aktuellen Bezügen. Leider wirkt die Geschichte und die geschilderte Technik etwas hanebüchen, wenn man bedenkt, dass sich die Geschichte gerade einmal 10 Jahre in der Zukunft abspielt. Hier haben sich offenbar in kurzer Zeit technische und gesellschaftliche Quantensprünge ereignet. Auch die geschilderte Politik wirkt zu einfach gestrickt und plakativ: die junge dynamische Bundeskanzlerin mit Ökoanstrich auf der einen Seite, der unsympathische konservative Oppositionsmann auf der anderen. Das ist alles etwas oberflächlich, genauso, wie die etwas blutleeren Hauptcharaktere, zu denen man im ganzen Buch keine echte Beziehung aufbauen kann. Obwohl sie im Zentrum des Orkans stehen verhalten sie sich häufig unnatürlich und nicht nachvollziehbar. Der Roman wirkt an vielen Stellen, wie mit der heißen Nadel gestrickt um unter Zeitdruck fertig zu werden. Da hat dann auch das Lektorat den einen oder anderen Rechtschreib- und Grammatikfehler übersehen. Etwas mehr Zeit, sowohl für die Details der Handlung und die Entwicklung der Charaktere hätte sich hier sicherlich ausgezahlt. Schade, die Grundidee hätte mehr hergegeben, so bleibt es bei einem seichten Thriller, der sich an dem einen oder anderen Urlaubstag leicht lesen lässt. Die Stärken von Ocean City konnten hier leider bei Weitem nicht erreicht werden.
- CS Traumtreffer! Leon kickt sich durch
Wolf, Julien
224 Seiten, Carlsen
Für den 16-jährige Leon erfüllt sich der Traum unzähliger Kinder, er wird in das FC Bayern Fußballinternat in München aufgenommen. Hier erlebt er alle Höhen und Tiefen, die so eine Fußballkarriere mit sich bringt kennen. Tore und Siege, Verletzungen und Rivalitäten in der eigenen Mannschaft aber auch Freundschaft und Teamgeist. Als eine interne Intrige Leons aufstrebende Karriere bedroht, erkennt Leon auf wen er sich wirklich verlassen kann, denn er braucht jede Hilfe die er bekommen kann.
Die Geschichte verklärt den ganzen Wahnsinn des Fußballgeschäfts, der sich sehr schön in einem Satz von Leons Mutter zeigt, die in der erste Woche im Internat darauf hinweist, dass der FC Bayern den Nachwuchskickern 1500 Euro im Monat „Taschengeld“ überweist, was mehr ist, als sie selbst als Floristin im Monat verdient.
Aus einer erwachsenen Perspektive wirkt das Buch häufig oberflächlich und mit Klischees überfrachtet. Sprachlich erinnert es manchmal eher an eine Sportreportage als an einem Roman, in den Fußballpassagen, passt das aber teilweise ganz gut. Was ein wenig stört ist die Überfrachtung mit Jugendsprache. Das bildet in den Gesprächen der Jugendlichen untereinander wohl die Realität ab, nervt aber in den Erzählpassagen. Hier sind die Dinge leider zu oft „fett“, „safe“ oder „krass“ „gechillt“. Die Story, gerade was die Intrige angeht, ist inhaltlich etwas an den Haaren herbeigezogen und krankt an den logischen Details. Dennoch bleibt es ein spannendes Buch, das wahrscheinlich jeden fußballbegeisterten Teenager fesseln wird. Wenn die Kinder dann lieber das Buch lesen als an der Konsole zu zocken, wie ihre Fußballer Pendants im Buch, hat es seinen Zweck schon erfüllt. Eine literarische Offenbarung sollte man aber nicht erwarten, genauso wenig wie von dem Vorwort von Mats Hummels. Das ist inhaltlich so dünn, dass man es auch problemlos weglassen könnte, aber man wollte wohl den prominenten Namen als Verkaufsförderer nicht missen.
- CS Falling Skye Band 1
Kannst du deinem Verstand trauen?
Die USA sind zur gläsernen Nation geworden. Alle Menschen werden in „Emotionale“ und „Rationale“ unterteilt. Nur die Rationalen werden für hohe Ämter vorgesehen, die Emotionalen werden zunehmend aus der Arbeitswelt verdrängt. Um ihrem Status zugeordnet zu werden müssen sich die Jugendlichen einer eingehenden Prüfung unterziehen. Skye, die Tochter eines einflussreichen Politikers, will unbedingt eine Rationale werden um auf der führenden Universität studieren zu können. Die Prüfungen stellen sich allerdings anders dar, als erwartet und verlangen den Mädchen alles ab. Nach und nach bröckelt die makellose Fassade der gläsernen Nation.
Das Buch erzählt eine dystopische Zukunftsvision in den USA einer nicht zu fernen Zukunft. Was harmlos beginnt entwickelt sich mehr und mehr zu einem Alptraum für die Hauptperson, mit allen Höhen, Tiefen und emotionalen Achterbahnfahrten die dieses Genre so mit sich bringt. Das ist auch schon der größte Kritikpunkt, man hat den Eindruck alle Versatzstücke schon mal gelesen zu haben. Die Story wirkt, wie aus verschiedenen anderen zusammengesetzt. Es ist klar, dass man das Rad nicht immer wieder neu erfinden kann, aber etwas origineller darf es dann doch sein. Wer mit dem Genre beginnt findet das sicher interessant, alte Hasen reißt es eher nicht vom Sitz.
Der Schreibstil von Lina Frisch ist durchaus ansprechend und flüssig. Dennoch bleiben die Protagonisten relativ oberflächlich, vieles ist klischeebeladen und die Handlungen wirken oftmals unnatürlich. Dazu kommen noch ein paar logische Ungenauigkeiten, die gerade beim Thema Hightech-Überwachung seltsam wirken. Auch die Spannung kommt nicht so richtig auf, an der einen oder anderen Stelle wirkt der Roman etwas langatmig, da wäre ein wenig mehr Schwung wünschenswert gewesen. Unter dem Strich bleibt ein engagiertes aber auch irgendwie blutleeres Debut einer jungen deutschen Autorin, die durchaus Talent besitzt, aber hier noch nicht alle PS auf die Straße bringt.
- CS Überleben für Anfänger
Düwel, Franca | D`Oro, Miri
440 Seiten, Arena
In diesem seitenreichen Tagebuch-Roman (mit Umweltzertifikat Blauer Engel) erzählt die ca. 15 jährige Mia von ihren Erlebnissen in der Schule und während eines unfreiwilligen Aufenthalts in einem Survival-Camp auf der Azoren-Insel Pico. Außerdem sind Emails, in anderer Typografie gesetzt, die sie mit ihrer Therapeutin und mit ihrer Freundin Aylin wechselt, Teil des Romans.
Grundsätzliches „Problemfeld“ dieser Geschichte ist Mias Hochsensibilität, die bei ihr in Verbindung mit pubertären Gefühlslagen zu recht extremen Unsicherheits-und Angstzuständen führen kann. Mia fühlt sich nicht nur verfolgt und beobachtet, sie wird in der Schule tatsächlich auch gemobbt. Diese Gemengelage macht es nachvollziehbar, dass von Seiten der Eltern eine Therapie vorgeschlagen wird. Hier fasst Mia nach anfänglichem Zögern Vertrauen und lässt sich auf Therapeutin und email-Hausaufgaben ein.
In teilweise durchaus spannenden Passagen entrollt sich vor dem Leser ein Panoptikum aus Selbstanklagen in Teenagersprache, vereinfacht dargestellten psychologischen Praktiken und Räuberpistole. Eine bunte Mischung an Persönlichkeiten mit diversen Genderprioritäten, mit menschlichen und pädagogischen Abgründen, mit Freundschaften, die sich erst beweisen müssen und Ahnungen, dass man es ja vorher schon gewusst hat. Das alles dekoriert mit kleinen Emojis und Icons, mit Zeichnungen auf den Tagebuchrändern und ab und zu mal einer größeren Illustration.
Alles in Allem leichte Unterhaltung, die etwas zu dick aufträgt ...
- JPS Die Spiegelreisende: Das Gedächtnis von Babel
übersetzt von Amelie Thoma
Nachdem sie von Thron getrennt wurde, wird Ophelia die Zeit in der Heimat lang und sie kommt von den Geschehnissen aus den ersten beiden Bänden nicht los. Zu viele Fragen blieben offen. Daher macht sie sich inkognito auf die Suche nach Antworten und ihrem Ehemann. Diesmal verschlägt es sie auf die Arche Babel. Nicht nur geographisch betritt sie dabei Neuland, Babel ist auch gesellschaftlich wiederum völlig anders, als die bisher besuchten Archen Pol und Anima. Alles ist streng reglementiert und überwacht. Kann Ophelia unter diesen Umständen hier überhaupt fündig werden? Schließlich will sie nicht nur Thorn zurück, sondern auch die Geheimnisse um die Archen, die Familiengeister und, im wahrsten Sinne des Wortes, um Gott und die Welt lüften?
Band 3 der Spiegelreisenden Saga ist anders als die bisherigen Bücher. Viele der bekannten Charaktere nehmen plötzlich nur noch Nebenrollen ein. Da sich Ophelia alleine auf die Suche begibt muss sie sich ohne ihre bisherigen Gefährten in Babel durchschlagen. Einzig ihr treuer Schal begleitet sie. Auch auf Babel erwartet sie wieder eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Neue Allianzen aber auch neue Gegner und Gefahren lauern hier und die Rahmenhandlung entwickelt sich ein gutes Stück weiter. Einige drängende Fragen klären sich auf, aber hinter jeder Antwort steckt schon wieder ein neues Rätsel. Was als spannendes Fantasymärchen begonnen hat verwandelt sich ein Stück weit, genau wie die Welt, durch die Ophelia wandelt. Im Laufe des Buches erkennt sie, dass sie selbst viel mehr in alles verstrickt ist, als sie sich das jemals vorgestellt hat. Das ist nicht besser oder schlechter als zu Beginn, aber doch deutlich anders und gefällt vielleicht nicht mehr jedem Leser so gut, wie die ersten Bände. Das Ende lässt aber auch hier nicht nur Ophelia, sondern auch den Leser atemlos zurück und weckt sogleich die Sehnsucht nach dem letzten Band.
- CS Die Spiegelreisende: Im Sturm der Echos
Übersetzt von Amelie Thoma
Band vier der Spiegelreisenden Saga von Christelle Dabos stellt sich endgültig den großen Fragen aus den ersten Bänden. Ophelia ist immer noch auf der Arche Babel und versucht zusammen mit Thorn dem Geheimnis der zerstörerischen Echos auf den Grund zu gehen. Auch wenn sie nur bruchstückhafte Informationen darüber besitzen, scheint das gesuchte Füllhorn der Schlüssel zur Lösung zu sein. Während sich die Welt unter ihren Füssen wahrlich in Auflösung befindet müssen die beiden mehr denn je zusammenarbeiten. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Können die beiden gemeinsam allen Gefahren trotzen, den Anderen, Eulalia Gort und das Füllhorn finden und die Welt vor dem Untergang bewahren?
Wie bereits in Band drei hat sich auch hier das Erzähltempo im Vergleich zum Beginn der Saga geändert. Dieser Teil entwickelt sich sehr langsam und nimmt erst zum Ende hin an Fahrt auf, wenn alle offenen Fragen endlich geklärt werden. Die Erklärungen sind allerdings zum Teil sehr verworren. Auch wenn das Gedankengebäude in sich logisch erscheint, ist Vieles nur sehr schwer nachzu-vollziehen. Gerade jüngere Leser dürften da doch etwas ratlos auf der Strecke bleiben. Wer die ersten Bände gelesen hat kommt natürlich um das Ende nicht herum. Man sollte sich allerdings darauf gefasst machen, das Buch mit einem etwas unbefriedigenden Gefühl zu zuklappen. Die Magie, vor allem der ersten beiden Bände, wird hier leider nicht mehr ganz erreicht.
- CS Über die Berge und über das Meer
Reinhardt, Dirk
272 Seiten, Gerstenberg
Tarek lebt als Hirtenjunge bei den Kuchi, einem Nomadenstamm im pakistanisch-afghanischen Grenzgebirge. Soraya wächst ihrerseits in einem kleinen afghanischen Dorf auf, das von Tareks Stamm in den Sommermonaten besucht wird. Da Soraya die siebte Tochter ihrer Eltern ist, wird sie Samir genannt und als Junge aufgezogen, um ihre Familie vor der „Schande“ zu bewahren, ausschließlich mit Mädchen „gestraft“ zu sein. Zwischen den beiden Hauptpersonen hat sich über die Jahre eine tiefe Freundschaft entwickelt. Nachdem die beiden unabhängig von einander in Konflikte mit den Taliban geraten, müssen sie ihre Heimat und ihre Familie in Afghanistan zurücklassen um sich vor der Bedrohung für ihr Leben im Sicherheit zu bringen.
Der Anfang des Buches gibt interessante Einblicke in die Lebenswirklichkeit von Kindern und insbesondere Mädchen am anderen Ende der Welt. Der karge Lebensalltag ist von Arbeit und Strapazen geprägt, aber auch immer wieder durch kleine und einfache Freuden unterbrochen. Mädchen haben es hier ungleich schwerer als Jungen, wobei Soraya durch ihre Sonderstellung beide Welten erlebt. Teil zwei beschreibt die Gefahren der Flucht, die von skrupellosen Schleusern, Konflikten, aber auch Solidarität und Freundschaft zwischen den Flüchtenden geprägt ist. Das Ende zeigt, wie sich beide in ihrer neuen Umgebung zurecht finden, bzw. mit welchen Problemen sie dort zu kämpfen haben, auch wenn sie jetzt nicht mehr um Leib und Leben fürchten müssen.
Auch wenn der Autor hier fiktive Charaktere erfindet sind die Geschichten wohlrecherchiert und stehen stellvertretend für viele Einzelschicksale. Der stärkste Teil des Buches ist sicherlich die Beschreibung der Situation in der kargen Heimat in Afghanistan und Pakistan, die von den Protagonisten trotz, oder vielleicht auch gerade wegen, ihrer Einfachheit und relativen Armut geliebt wird. Der Kontrast zu unserer konsumorientierten Überflussgesellschaft wird hier überdeutlich und regt zum Nachdenken über unser eigenes Leben an.
Dirk Reinhardt entwirft eine spannende Geschichte, die zum Ende hin etwas an Intensität nachlässt. Das Buch ist definitiv lesenswert, schafft es doch Verständnis für die Situation der vielen namenlosen Flüchtlinge, die es nach Europa geschafft haben oder sich noch auf der Flucht befinden. Auch als Schullektüre könnte es eine Grundlage zu interessanten Diskussionen dienen.
- CS Long way down
übersetzt von Petra Bös
Wills Bruder Shawn wird auf offener Straße von einer rivalisierenden Gang erschossen. Seinem kleinen Bruder diktiert das Gesetz der Straße was nun zu tun ist: Rache nehmen und den Schützen seinerseits zur Rechenschaft ziehen. Mit Shawns Waffe macht er sich am nächsten Morgen auf den Weg. Dass er damit der Spirale der Gewalt weiter Vorschub leistet, kommt ihm selbst nicht so recht in den Sinn. Zum Glück wohnt er im achten Stock und muss bis in die Lobby erst einmal den Aufzug nehmen. In einer Minute kann sich vieles ändern, denn es ist ein langer Weg bis nach ganz unten…
Jason Reynolds hat sich entschieden, das Buch in Versform zu schreiben. Das dürfte für viele Leser anfangs gewöhnungsbedürftig sein, auch wenn man das in den letzten Jahren bei Jugendbüchern schon mehrfach gesehen hat. Manchmal findet sich nur ein Satz oder einzelner Gedanke auf einer Seite. Das beschleunigt das Lesen und transportiert die Story genauso schnell wie den Aufzug in der Geschichte. Das Buch ist temporeich und eindringlich, wie ein Hip-Hop oder Rapsong. Die kurzen Sätze prasseln im Stakkato auf den Leser ein. Wie in einem poetry slam werden hier Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Gefühle, Fact und Fiction vermischt. Die Seiten haben zarte Linien im Hintergrund, die an die zerkratzten Wände oder den zunehmenden Zigarettenrauch in der Liftkabine erinnern. Das alles ist ansprechend gestaltet und spannend inszeniert. Man erfährt langsam immer mehr über die Hintergründe von Wills Familie, der Tat an sich und wie es soweit kommen konnte. Die Sprache wird durch die kurzen Sätze extrem verdichtet, viel spielt sich im Kopf des Lesers zwischen den Zeilen ab. Leerstellen, kursive Einrückungen, alles hat hier eine Bedeutung. Ein ungewöhnliches Buch, das eine interessante Leseerfahrung jenseits des gewöhnlichen Jugendromas bietet. Die Botschaft ist immer aktuell, gerade wenn man sich die zunehmende Gewalt auf den Straßen ansieht. Schön, dass es mit Jason Reynolds eine starke Stimme gibt, die diese wichtige Botschaft jugendgerecht transportiert.
- CS Exit Now!
übersetzt von Petra Knese
Ava und Sam besuchen die gleiche Schule in London, einige Jahre nach dem Brexit. Hier hören die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf. Während Sam als Tochter des stellvertretenden Premierministers in einem goldenen Käfig lebt, spürt Ava, die mit ihrem alleinerziehenden Vater in bescheidenen Verhältnissen lebt, die raue Wirklichkeit am eigenen Leib. Die beiden unterschiedlichen Teenager kommen sich näher, nachdem Ava als Nachhilfelehrerin für Sam engagiert wird. Um sie herum verschärft sich die politische Situation, nachdem es zu Anschlägen und Unruhen in der Bevölkerung kommt. Sams Vater erlässt drakonische Strafen, die sich vor allem auch gegen die aufbegehrende Jugend im Vereinigten Königreich wenden. Daraufhin regt sich auch in den beiden Teenagern der Widerspruch.
Während die aufkeimende Freundschaft zwischen den beiden jungen Damen im ersten Teil des Buches den meisten Raum einnimmt, geht es in der zweiten Buchhälfte mehr um den Kampf zwischen den politischen Lagern. Ava, die eigentlich den interessanteren Charakter abgibt, spielt dann leider nicht mehr die Hauptrolle, das Buch fokussiert sich hauptsächlich auf Sams persönliche Situation. Zwischen Widerstand und anfänglicher Loyalität zu Ihrem Vater ergibt sich zwar ein interessantes Spannungsverhältnis, ihr plötzliches bedingungsloses Engagement wirkt aber im Vergleich zu ihrer ursprünglichen Lethargie etwas unglaubwürdig. Durch die ausführliche Beschreibung ihrer inneren Zerrissenheit geht zudem die politische Rahmenhandlung etwas unter, die mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt hätte.
Der Roman erscheint manchmal etwas oberflächlich, reißerisch und sensationsheischend (Todesstrafe für 12-jährige?). Positiv hervorzuheben ist allerdings, dass hier die graduelle Entstehung eines brutalen Regimes in Zeitraffer gezeigt wird, anstatt mit einer fertigen Überwachungsgesellschaft zu beginnen. Das Buch besitzt durch den realen Brexit brisante Aktualität, es bleibt natürlich zu hoffen, dass uns die gezeigte Dystophie erspart bleibt. Auch in der Realität sind die Jugendlichen die Leidtragenden einer Entscheidung, die sie mehrheitlich nicht wollten und die ihnen durch politische Fehler und die Gleichgültigkeit vieler älterer Bürger eingebrockt wurde. „Exit now!“ wurde als Prequel zu Terrys erfolgreicher „Gelöscht“-Trilogie geschrieben. Als Ergänzung ist es für Fans sicher lesenswert, für sich alleine genommen nicht schlecht, aber auch nicht komplett zufiredenstellend.
- CS Kein Teil der Welt
de Velasco, Stefanie
430 Seiten, Kiepenheuer & Witsch
Wie lebt es sich, mittendrin in dieser Welt, zu der man doch nicht gehören darf?
Esther und ihre Freundin Sulamith jedenfalls tun sich schwer. Als jugendliche Mitglieder der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas müssen sie streng nach den Regeln leben, die vorgegeben werden. Sie gehen von Haus zu Haus, um neue Mitglieder zu gewinnen und stehen mit dem Wachturm vor Kaufhäusern. Sie besuchen die Regelschule, dürfen aber außerhalb des Unterrichts mit Weltlichen keinen Kontakt pflegen, es sei denn, um diese zu bekehren. Insbesondere Sulamith tut sich immer schwerer damit, einfach alles zu glauben, was ihnen gesagt wird. Esther muss mit ansehen, wie die liebste Freundin und engste Vertraute sich immer weiter entfernt. Dann verliebt Sulmith sich auch noch in David, einen Mitschüler. Als sie beschließt, die Gemeinschaft zu verlassen, eskaliert die Situation. Esthers Familie beschließt daraufhin mit Sack und Pack in den Osten Deutschlands umzuziehen. Dort warten nach dem Mauerfall noch viele Aufgaben auf die Religionsgemeinschaft. Esther aber findet nicht mehr so recht ihren Platz in der Verkündung. Wie Sulamith stellt sie vieles in Frage. Aber wie lebt es sich in einer Welt, in der man nicht mehr drin, aber auch nicht draußen ist?
Die Autorin selbst ist Mitglied der Zeugen Jehovas gewesen, hat sich aber mit 15 Jahren davon gelöst. Wer, wenn nicht sie, kann daher so detailgenau davon berichten, wie es sich anfühlt, außerhalb der Religionsgemeinschaft nirgendwo dazu zugehören. Fast atemlos verfolgt man den langen Weg der beiden Freundinnen. Durch die Schulbildung, die sie an Regelschulen durchlaufen müssen, bekommen sie Einblick in das, was es bedeutet, ein denkender Mensch zu sein. Wir erleben, wie schwer es daher ist, zuhause dann kritiklos alles zu glauben und zu befolgen.
Es ist ein wichtiges Buch, seine Aussage geht weit über das hinaus, was die Zeugen Jehovas ausmacht. Ich jedenfalls musste beim Lesen oft an die jungen Muslime denken, die oft auch in zwei Welten leben.
Ab 15 Jahren
- KW Die Spiegelreisende: Die Verschwundenen vom Mondscheinpalast
übersetzt von Amelie Thoma
Die französische Autorin Christelle Dabos schenkt uns hier die Fortsetzung des grandiosen Debutromans über die liebenswürdige Ophelia und ihre Abenteuer auf einer alternativen Erde. Das Buch schließt nahtlos an Teil eins an und schreibt die Story im gleichen Stil fort, der die Leser schon im Vorgänger verzaubert hat. Ophelia kann sich dem Sog von Faruks Hofstaat nicht mehr entziehen und wird in eine zweifelhafte Karriere als Geschichtenerzählerin gedrängt. Mit der exponierten Stellung nehmen Neid und Missgunst weiter zu und machen ihr das Leben schwerer als es ohnehin schon ist. Die Ränkespiele am Hof gehen in eine neue Runde, als plötzlich mehrere wichtige Charaktere spurlos verschwinden. Überraschenderweise wird Ophelia mit der Suche beauftragt. Was folgt ist eine gefährliche Achterbahnfahrt, bei der man nicht nur eine ganze Menge über die Arche und ihre skurrilen Bewohner erfährt, sondern auch über die Geschichte der Welt und ihre mögliche Zukunft. Auch die Entwicklung der Hauptpersonen kommt nicht zu kurz und man lernt neue Facetten an allen Beteiligten kennen, die Vieles in neuem Licht erscheinen lassen.
Wer Teil eins mochte, wird auch hier nicht enttäuscht. Während Fortsetzungen oftmals darunter leiden, dass im Auftakt bereits alle Ideen verbraten wurden, kann davon hier keine Rede sein. Christelle Dabos findet die richtige Mischung aus Weiterentwicklung der Geschichte, ihrer Personen und der Welt, ohne dabei auf ständige Wiederholungen zurückzugreifen. Dabei wird das Tempo hochgehalten und es wird, trotz des Umfangs, nie langweilig. Alles sprüht weiterhin vor Ideen. Der Kriminalfall ist spannend, es gibt überraschende Wendungen und die Rahmenhandlung wird vorangetrieben. Alles erscheint aus einem Guss und man möchte nach der letzten Seite gleich in Band drei weiterlesen. Auch wenn man einiges klarer sieht bleiben noch viele Fragen offen. Dazu sind wahrlich große Neue hinzugekommen, etwas weg von der persönlichen Ebene hin zu den wirklich existentiellen Themen, die im wahrsten Sinne Gott und die Welt betreffen.
Der einzige negative Punkt am ganzen Buch ist der Titel, bei dem die Lektoren und der Verlag offenbar im grammatikalischen Tiefschlaf lagen. Das lässt sich aber leicht verschmerzen, wenn die phantastische Reise so weitergeht, wie sie begonnen hat!
- CSSasha und Richard haben außer ihrem Alter nicht viel gemein. Er ist ein Afroamerikaner aus einem sozial schwachen Milieu, ein freundlicher, anderen zugewandter junger Mann, aber leicht beeinflussbar durch Dritte. So hat er bereits einen Jugendarrest hinter sich. Sasha hingegen besucht eine private Highschool. Sie ist körperlich ein Junge, findet aber schnell heraus, dass eigentlich kein Geschlecht zu ihr zu passen scheint. Sie nennt sich genderqueer und findet in der entsprechenden community scheinbar ihren Weg. Sie trägt verrückte Kleidung, wie Krawatten und Westen zu Röcken. Was die beiden Jugendlichen teilen, ist die Buslinie 57, die die so unterschiedlichen Stadtteile innerhalb Oaklands miteinander verbindet. Und hier passiert es dann auch. Richard- von seinen Freunden angestachelt- zündelt am Rock der schlafenden Sasha. Dieser geht rasch in Flammen auf und die Flammen verletzen sie schwer. Bei seiner späteren Vernehmung gibt er an, homophob zu sein. Das wird zum Anlass genommen, seine Tat als Hassdelikt einzustufen. Daher soll er nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden. Damit wäre das Strafmaß sehr viel höher und er müsste nach Vollendung des 18.Lebensjahres in den normalen Strafvollzug wechseln.
Niemand aus Richards Umfeld kann glauben, dass er aus Hass gehandelt hat, kennen ihn doch alle als einen sehr angenehmen jungen Mann. Selbst Sasha und ihre Familie setzen sich dafür ein, dass Jugendstrafrecht weiter gelten soll. Während Sasha sich nach und nach von den schlimmen Verbrennungen erholt und sie ihren Weg unbeirrt weitergeht, bangt Richard um das Ende des Prozesses.
Es ist kein Roman, keine Erzählung, der wir hier folgen. Die Autorin berichtet über den Tathergang, der auf einer wahren Begebenheit beruht, im Stil einer Berichterstattung. Sie beleuchtet die Hintergründe der Tat, taucht in die Lebenswelten der beiden Familien ein und beleuchtet das amerikanische Rechtssystem. Wir bekommen einen Eindruck, wie es sein mag, sich keinem Geschlecht zugeordnet zu fühlen und womit die Familien nicht weißer Herkunft zu kämpfen haben. Beide Protagonisten gehören einer Minderheit an, die es schwer hat, sich zu finden in der amerikanischen Gesellschaft. In der derzeitigen Debatte um „all life matters“ ein wahrlich aktuelles Thema.
Wegen seiner Komplexität für Jugendliche ab 16 Jahren.
- KW Hundert Stunden Nacht
übersetzt von Andrea Kluitmann
Stromausfall im Winter in New York! Das Orkantief Sandy hat ausgerechnet zu dem Zeitpunkt die Millionenstadt erreicht, als die 14jährige Holländerin Emilia sich diese Stadt als Fluchtpunkt ausgesucht hatte. Wenige Tage zuvor war Emilias Leben so komplett aus der Bahn geraten, dass sie nur noch einen Ausweg sieht: zu flüchten, dahin, wo sie niemand kennt und wo sich niemand für sie interessiert. New York scheint der ideale Platz zu sein, um unterzutauchen, bis Gras über die Sache gewachsen ist- wenn das überhaupt jemals passieren wird . Und obwohl Emilia von zuhause aus alles gründlich vorbereitet hat, stellt sich heraus, dass es das von ihr gemietete Apartment nicht gibt. Zusammen mit Emilias Zwangsstörung und dem Orkan, der Elektrizität und Wasserversorgung lahmlegt, ist die Ausgangslage alles andere als gemütlich. Aber passenderweise tauchen andere Kinder und Jugendliche auf, man gründet in einer Wohnung ein Orkan –Asyl und unterstützt sich gegenseitig, kocht und isst gemeinsam und ist für einander da. Als es aufgrund der Witterung auch noch bitterkalt wird, spitzt sich die Situation weiter zu.
Bereits in „Gips“ hat Anna Woltz ihr besonderes erzählerisches Geschick bewiesen, auch schon damals hervorragend und sprachlich dicht übersetzt von Andrea Kluitmann. Auch in „Hundert Stunden Nacht“ gelingt ihr ein packender Jugendroman, dem man die eine oder andere Ungereimtheit
im Plot verzeiht. Die Protagonisten mit ihren speziellen Macken, Traumata und Familiengeschichten wachsen dem Leser schnell an Herz und zeigen auf, dass Freundschaft enorm vieles möglich macht.
- JPS Die Spiegelreisende: Die Verlobten des Winters
übersetzt von Amelie Thoma
Die Erde wird von 21 Archen umkreist, die von den Nachkommen der jeweiligen Gründerfamilien bewohnt werden. Jede Familie besitzt besondere Fähigkeiten, die sie von den anderen unterscheidet. Ophelia, die junge Protagonistin, kann durch Spiegel in andere Räume gehen und durch Berührung die Geschichte von Objekten erspüren. Auf Druck ihrer Familie soll sie auf der Arche „Pol“ den einflussreichen aber von allen gehassten Thorn heiraten. Mit ihrer Tante als Anstandsdame reißt sie auf die unwirtliche Eiswelt um ihre neue Heimat und ihren ausgewählten Gemahl kennenzulernen. Nicht nur die Umgebung, auch Sitten und Gebräuche sind dort gänzlich anders und ungleich aggressiver als in ihrer Heimat. Zu allem Überfluss verhält sich Thorn sehr unnahbar oder sogar abweisend. Illusionen, politische Ränkespiele und Intrigen um die Macht gehören zur Tagesordnung. Schnell begreift Ophelia, dass ihre Heirat viele Gründe hat, zu denen Liebe eher nicht gehört. Nichts und niemand ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Die anfangs unbedarfte Ophelia findet sich schneller als ihr lieb ist zwischen allen Fronten wieder und es beginnt ein Kampf ums Überleben, bei dem es nie klar ist, wer eigentlich auf welcher Seite steht.
Der Roman ist außergewöhnlich phantasievoll geschrieben ohne die inzwischen klassischen Fantasysujets a la „Harry Potter“ oder „Herr der Ringe“ zu bedienen. Für einen Jugendroman werden die einzelnen Figuren bemerkenswert komplex gezeichnet, niemand entspricht gängigen schwarz-weiß Schemata. Wer ist hier eigentlich Gut und Böse, von der liebenswürdig schrägen Hauptfigur einmal abgesehen? Das ist alles wohltuend anders und lässt auch erwachsene Leser das Buch kaum aus der Hand legen. Schreibstil, Detailreichtum, Figuren und das Ideenfeuerwerk, das hier abgebrannt wird, sorgen für ein kurzweiliges Lesevergnügen, so dass die über 500 Seiten wie im Flug vergehen. Der Schluss, aber auch die vielen Fragen, die sich um das Konzept der Welt, ihrer Geschichte und der Entwicklung der Archen auftun, lassen sofort Sehnsucht nach den weiteren Teilen aufkommen. Definitiv eine der schönsten Neuentdeckungen in diesem Genre seit langer Zeit.
- CS Elektrische Fische
Kreller, Susan
191 Seiten, Carlsen
Für Emma, ihren Bruder Dara und ihre Schwester Aoife ist es nicht leicht, als ihre Mutter sie aus Irland in ihre Heimat nach Deutschland umsiedelt. Und dann noch nach Veltow, ein Dorf „...in das niemand zieht. Wenn überhaupt zieht man von dort weg.“ So tun sie sich sehr schwer. Aoife, die nur sehr wenig deutsch kann, beschließt, gar nicht mehr zu reden. Und Emma weiß, sobald sie einen Plan hat und Aiofe wieder redet, fährt sie zurück zu ihren Großeltern nach Irland. Dann lernt sie Levin kennen, der es zuhause schwer hat mit einer psychisch kranken Mutter. Und der einen Plan für sie entwickelt. Mit Levin wird vieles leichter für Emma, sie merkt es an „dem warmen Gefühl, wenn jemand (Levin) zum ersten Mal deinen Namen sagt.“ Plötzlich aber fühlt sie sich „eingequetscht zwischen Heimaten und dazwischen ist kein Zuhause“. Als Levin ihr den fertigen Plan gibt, ist sie „irgendwie nicht mehr hier, aber auch nicht dort.“ Beginnt sie sich zuhause zu fühlen? Will sie überhaupt noch zurück?
Susan Kreller beschreibt mit einer so schönen Sprache die Gefühle dieser jungen entwurzelten Menschen, dass es eigene Worte für eine Rezension fast nicht braucht. Die Geschichte, die auch überall in Ländern, in denen Geflüchtete zu bleiben hoffen, spielen könnte, zieht den Lesenden in ihren Bann. Obwohl man schon ahnt, dass die Freundschaft mit Levin alles ändern könnte, bleibt es spannend bis zum Schluss. „Home ist, wenn du zum ersten Mal denkst, hier könntest du bleiben“. Besser kann man es nicht beschreiben.
Zu empfehlen für Jugendliche ab 12 Jahren.
- KW Junge ohne Namen
Tasane, Steve
144 Seiten, Fischerverlage
„Wer will spielen?“ Diese Frage wird von Kindern überall auf der Welt gestellt. Aber wie und womit und mit wem kann man spielen, wenn man sich in einem Lager für geflüchtete Menschen aufhält – irgendwo. Der Junge, der diese Frage stellt, hat keinen Namen und ist 10 Jahre alt. Er nennt sich in der Geschichte einfach I, seine Freunde heißen L, E und V. Später kommt noch das Kleinkind O dazu. Die Kinder haben sich auf der Flucht gefunden. Sie sind alle unbegleitete, minderjährige Geflüchtete und leben gemeinsam in einer selbst gebauten Hütte auf dem Lagergelände. Nur das eine oder andere gerettete Foto verbindet sie mit ihrer Vergangenheit.
Ein Spiel könnte zum Beispiel so aussehen: Als Geheimagenten Äpfel suchen. „Äpfel“ bedeutet in dem Fall: von den Wärtern weg geworfene Apfelreste. Für diese Kinder, die ständig Hunger haben und bei Essenslieferungen stets den Kürzeren ziehen, ist das schon eine Köstlichkeit.
Der schlimmste Feind sind die Wärter und ist die Langeweile. Die Schule ist gnadenlos überfüllt, eine Art Jugendclub wurde geschlossen. Aber es gibt auch Hilfe. Da ist der junge Freiwillige, der unbeirrt versucht, den Kindern Lesen bei zu bringen. Und da ist vor allem Charity mit ihrem alten Bus, der Frauen und Kindern Zuflucht bietet vor Übergriffen im Lager. An guten Tagen bekommen die Kinder dort ein Frühstück, vor allem aber Zuwendung und Zuspruch von Charity. Ihr Sohn C , der sie begleitet in den Ferien, hat immer seine Handykamera in Aktion, sehr hilfreich, wie sich später heraus stellen wird.
Während I bemüht ist, sich irgendwie mit dem Leben im Lager zu arrangieren so gut es geht, versucht das hartnäckige Mädchen V alle davon zu überzeugen, dass sie unbedingt ein Visum bekommen muss, um zu ihrer Tante in dem schönen, großen Haus zu ziehen. Überhaupt ist das natürlich im Lager das Wichtigste: die Papiere, ein Ausweis, hier „Lebensbuch“ genannt. Denn ohne hat man kein Leben. Doch meistens sind die Papiere bei der Flucht verschwunden, im Wasser gelandet.
Mit dem Kleinkind O vergrößert sich die Kinderfamilie und somit die Zahl der Mitspieler*innen. Im Müll gefundene Plastikfiguren werden neu angemalt zum größten Schatz.
Eines Tages überrascht I seine Freunde mit einem Geschenk: außerhalb des Lagers hat er an einen Baum für jedes Kind aus Blättern, die er mit dem roten Saft von Beeren beschrieben hat, ein neues Lebensbuch gestaltet. Die Kinder sind überglücklich – das Glück währt jedoch nicht lange. Denn plötzlich sind aus dem Lager Schüsse und Geschrei zu hören: aus hygienischen Gründen wird das Lager, das trotz der widrigen Umstände, eine Art Heimat war, geräumt, die Menschen umgesiedelt. Die Kinder finden Zuflucht im Bus von Charity. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach O, der im Chaos der Räumung verschwunden ist.
So begeben sie sich auf eine neue Reise ins Unbekannte.
Ist es ein Zufall, dass die Buchstaben der geflüchteten Kinder zusammen das Wort „Live“ ergeben? Ich glaube nicht.
Das Buch kommt äußerlich als eine Art Kladde daher und beginnt ganz unvermittelt und ohne Titelseite bzw. Vorsatzpapier. Das verleiht ihr etwas Provisorisches, so schnell hin geschrieben, wie das der junge Erzähler auch in seinem Lageralltag nur machen kann. Geschildert wird das Geschehen sehr eindrücklich aus der Perspektive des Jungen I. Er vermittelt jungen, aber auch erwachsenen Lesern nachhaltig, was es bedeutet, in einem Lager zu leben. Die Solidarität der Kinder spielt eine große Rolle, aber auch die Fantasie, mit deren Hilfe sich die Kinder das Lagerleben schön spielen – eine gute Möglichkeit, dem Elend für eine Weile gemeinsam zu entfliehen. Die Namenlosigkeit der Kinder, bzw. die Verwendung einzelner Buchstaben ist beim Lesen schon gewöhnungs-bedürftig. So stehen sie aber auch für bestimmte Menschentypen, die unterschiedlich mit ihrem Schicksal umgehen. Eine scheinbar sachliche Distanz verstärkt die Empathie und man möchte wie Charity, als rettender Engel in jedem Lager vorfahren und die Kinder da raus holen.
Eine sehr berührende Lektüre, die als Diskussionsgrundlage gut in Gruppen verwendet werden kann.
- KS Mein neues Herz lernt, wie man liebt
übersetzt von Bernadette Ott
Für die zwölfjährige Sunny kam es dicke. Der Vater gestorben, von der Mutter im Alter von 4 Jahren verlassen, lebt sie bei Kate, die eine Mutter für sie ist. Margot als beste Freundin ist besonders wichtig. Dann wird Sunny krank und braucht ein Spenderherz. Die Freundin wendet sich anderen Mädchen zu, mit denen sie etwas unternehmen kann. Vor allem aber verrät Margot Sunnys intimste Gedanken. Schon wieder also wird sie verlassen von einem Menschen, der ihr etwas bedeutet. Sunny beschließt, sich nicht unterkriegen zu lassen. Nachdem die Transplantation erfolgreich war, fasst sie einen Plan, was ich die nahe Zukunft bringen soll: eine neue beste Freundin finden und den ersten Kuss bekommen. Als Quinn auftaucht, scheint Plan 1 schon realisiert. Wie aber soll es mit Plan 2 weitergehen? Und dann taucht auch noch ihre Mutter plötzlich wieder auf. Wie soll ihr neues Herz das nur alles verkraften?
Keine Frage, das Buch liest sich flüssig und gut und auch durchaus interessant. Aber es ist ein bisschen viel, was den jungen Lesenden – und für junge Menschen ab 12 ist es gedacht- da begegnet. Verlassen werden, Adoption, lebensbedrohende Krankheit, Nahtoterfahrung, Transplantation, Freundinnenverrat, die Frage der sexuellen Orientierung, Loyalitätskonflikte… und das ist noch nicht alles. Obwohl Sunny eine Heldin ist, deren neues Herz das alles wuppt und die Charaktere überaus sympathisch sind, ich mag es nicht empfehlen, ohne dass ich eine erwachsene Person an der Seite der jungen Leser/in wüsste, die für all die aufkommenden Fragen zur Verfügung steht.
Ab 12 Jahren
- KW Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte
Zipfel, Dita | Flygenring, Ran
194 Seiten, Carl Hanser
Lucie ist 13 Jahre alt und rechnet sich aus, wie oft sie mit dem Hund Gassi gehen muss, bevor sie sich ein Zugticket nach Berlin leisten kann. Die Hundesitter-Anzeige stammt vom schwarzen Brett des Supermarktes, und der Wunsch, abzuhauen, hat sich stark konkretisiert, seit „der Michi“, Mamas neuer Freund, bei Lucie zuhause eingezogen ist. Und Lucies kleiner Bruder ist in letzter Zeit auch keine Stütze mehr. Das Hundesitting ist überdurchschnittlich gut bezahlt, aber wie sich nach kürzester Zeit herausstellt, gibt es gar keinen Hund. Dafür ist Herr Klinge aber der durchgeknallteste Alte, den Lucie bisher kennen gelernt hat. Lucie soll dafür bezahlt werden, dass sie seine Kochrezepte aufschreibt. Diese hält Klinge allerdings für hochsensibles Geheimwissen und ein entsprechendes Bohei macht er darum. Er ist in beinahe jeder Hinsicht ein für Senioren untypisches Exemplar: oft barfuss, ungewöhnlich schnell und gut trainiert und von beeindruckend schroff-unfreundlichem Wesen. Zunächst ist er nur als Geldquelle für Lucie von Interesse, aber trotz Klinges ruppigem Wesen entwickelt sich so etwas wie eine Beziehung zwischen den beiden. Und Lucie, die liebend gerne kocht, kann der Versuchung von Klinges Geheimrezepten nicht dauerhaft widerstehen.
Dann bekommt die ohnehin angespannte Situation zuhause bei Lucie noch eine zusätzliche Komponente durch den schönen Mitschüler Marvin, der sich plötzlich für Lucie zu interessieren scheint, was unter Anderem zu Stress in der Schule führt. Und zu den vielen unsäglichen Teenager-Peinlichkeiten, an die wir uns alle lieber nicht erinnern möchten...
Dass Dita Zipfel ein aufregendes, schönes und witziges Hirn hat, glaubt man nach der Lektüre ihres rasanten Erstlingsromans sofort. Da es sich unter Rezensent*innen herum gesprochen hat, dass es nicht klug ist, die ganze Geschichte bereits in der Rezension zu verraten, empfehle ich dieses Buch ALLEN. Und zwar ausdrücklich! Und noch besonders denen, die sich für schräge Typen, hervorragende Kochrezepte UND Rán Flygenrings zauberhafte Illustrationen erwärmen können. Zu Recht nominiert für den DJLP. Also: lest!
- JPS Vor uns das Meer
übersetzt von Janina Piel
In seinem Buch „Vor uns das Meer“ hat Alan Gratz drei unterschiedliche Fluchtgeschichten miteinander verwoben. Obwohl sich alle drei Flüchtlingsschicksale in verschiedenen Epochen und in unterschiedlichen Teilen der Welt abspielen gibt es weit mehr Parallelen als nur das Meer, das alle Protagonisten zu überwinden haben. Josef flieht mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester vor dem Nationalsozialismus aus Deutschland. An Bord des Kreuzfahrtschiffs St. Louis versucht die Familie mit fast 1000 weiteren Juden Kuba zu erreichen um sich dort in Sicherheit zu bringen. Isabel versucht kurz vor der Jahrtausendwende mit ihren Eltern in einem selbstgebauten Boot von Kuba nach Florida zu kommen um den Repressionen durch das Regime von Fidel Castro zu entkommen. Die dritte Geschichte spielt in der jüngsten Vergangenheit, der junge Mahmoud und seine Familie fliehen vor dem syrischen Bürgerkrieg und versuchen sich aus dem umkämpften Aleppo nach Deutschland durchzuschlagen.
Entbehrungen, Terror, Angst und Schrecken, wenn auch durch unterschiedliche Ursachen bedingt, sind in allen drei Geschichten allgegenwärtig. Dem gegenüber stehen Hoffnung, Sehnsucht und Träume von einem besseren Leben in Sicherheit. In diesem Spannungsverhältnis erzählt das Buch starke Geschichten, die sich an wahren Biographien orientieren. Aus Sicht der Kinder geschrieben wird die Verzweiflung und das Unverständnis über die jeweiligen Situationen noch deutlicher. Spannend und clever erzählt, werden die Geschichten auch über die unterschiedlichen Zeitebenen miteinander verzahnt, was die Leser am Ende mit der einen oder anderen Überraschung belohnt.
Das Buch stellt die Situation von Flüchtenden und ihre Beweggründe sehr anschaulich dar. Somit wird vielleicht auch bei hartgesottenen Abschottungsbeführwortern ein wenig Verständnis geschaffen, dass nur die wenigsten Menschen ihre Heimat gerne und aus freien Stücken verlassen, sondern oftmals lebensbedrohliche Zwänge zur Flucht zwingen, die von den Betroffenen nicht selbstverschuldet wurden. „Vor uns das Meer“ ist ein spannendes, berührendes und interessant komponiertes Buch, dass sich sicher auch für den Schulunterricht gut eignet.
- CS Keine halben Sachen
Herden, Antja
136 Seiten, Beltz & Gelberg
Als Robin auf Leo trifft, ist dieser alles, was Robin sich zu sein wünscht. Bisher war in seinem jungen Leben „alles nur fast“. Er fand sich „beinahe gechillt, beinahe krass, beinahe echt“. Dann wählt plötzlich dieser Leo ausgerechnet ihn zum Freund. Und da ist dieses neue Leben! Kiffen, Trinken, Schule schwänzen: einfach nur sein. Und dann auch noch die Mädchen. Das erste Mal verliebt und der erste Sex mit der schönsten von ihnen. Alles scheint möglich. Was macht es da, dass sie Drogen nimmt und ihn auch dazu überredet. Da hilft es auch nicht, dass Leo sich plötzlich abwendet. Als der Absturz dann schmerzhaft kommt, sind plötzlich alle scheinbar verschwunden. Was ist nur passiert? Warum scheint niemand von Leo etwas zu wissen?
Antje Herden beschreibt anschaulich, was in pubertierenden Jugendlichen vorgeht und wohin es führen kann. Robin ist eigentlich ein behütetes Kind, den die scheinbare Leere seines Lebens anspringt und der daher anfällig für Gelegenheiten ist. Sie schafft es, die Ambivalenz der Gefühle deutlich zu machen. Das ungewöhnliche Ende hätte ich nicht gebraucht, es lässt mich ob seiner Intension ein wenig ratlos zurück.
Für Jugendliche ab etwa 13 Jahren.
Der Mantel
Jünger, Brigitte
203 Seiten, Jungbrunnen
Die 14-jährige Pariserin Fanette ist mit ihrem hochbetagten jüdischen Nachbarn Aron Schatz gut befreundet und erforscht während eines Deutschlandaufenthaltes seine Vergangenheit in seiner Heimat Fliesteden. Währenddessen zieht ihr muslimischer Schulfreund Moumouche zu Schatz, um sich um ihn zu kümmern. Die beiden freunden sich an und lernen in langen Gesprächen viel voneinander. Dann entdeckt Fanette, dass der alte Mantel von Aron Schatz‘ Familie, der vor 75 Jahren einem deutschen Schneider zur Verwahrung aufgegeben wurde, noch immer existiert…
Brigitte Jünger entwirft in ihrem Roman für jugendliche Leser ab 13 Jahren eine verschlungene Geschichte, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft. Die etwas konstruiert wirkende Personenkonstellation eröffnet ihr die Möglichkeit, nicht nur Aron Schatz‘ Vergangenheit, also die Shoah, zu thematisieren, sondern auch die Situation der arabisch-stämmigen Franzosen der Gegenwart. All dies ergänzt sie durch die Stimmen der während des Zweiten Weltkrieges ermordeten Mitglieder der Familie Stock/Schatz, die gespensterhaft aus dem Off sprechen und der Erzählung der Vergangenheit weitere Perspektiven hinzufügen.
Von einigen didaktisch-belehrenden Abschnitten abgesehen, die sich vorrangig in den Gesprächen zwischen Aron Schatz und Moumouche verorten lassen, kann Brigitte Jüngers Roman Jugendliche nachhaltig dafür sensibilisieren, dass die Erinnerung an die Katastrophe der Shoah niemals abgetan oder erledigt ist – die Mechanismen des Rassenhasses und des Sündenbockdenkens sind allgemein menschlich und kehren immer wieder. Im Nachwort formuliert die Autorin es so: „Wer gehört zu unserer Gesellschaft? Wer ist ein Einheimischer, wer ein Fremder? Hat jemand mehr Recht, an einem Ort zu leben, als ein anderer? Diese Fragen gehören nicht der Vergangenheit an, sondern sind nach wie vor aktuell. Wenn wir die Vergangenheit anschauen und uns mit ihr auseinandersetzen, können wir vielleicht die ein oder andere Antwort finden.“
Ein wichtiger Roman, der im Nachwort noch durch einige Hinweise auf die historische Familie Stock ergänzt wird, inklusive einiger Fotografien, die für die Handlung des Romans eine wichtige Rolle spielen.
- MD Fragen an Europa
Susan Schädlich | Grotrian, Gesine
67 Seiten, Beltz & Gelberg
Klug, kritisch, kreativ – ein Buch für Menschen, die Europa mitgestalten wollen. Bereits die erste Grafik ist Programm: Die Weltkarte auf den Kopf gestellt. Europa? Plötzlich nicht mehr Nabel der Welt, sondern ein Randgebiet im Südosten von Afrika. „Stellen wir die Welt also mal auf den Kopf“, heißt es im Text dazu, „und damit auch unsere üblichen Bilder von ihr.“ Und genau das tut dieser absolut großartige Band, der in keiner Bücherei, in keinem Haushalt, keinem Café und in keinem Backpack fehlen sollte (da wohl am besten als e-book im pdf-Format). Ein wahres Vademecum für junge Europäer, die sich ein eigenes Bild von Europa machen wollen jenseits von glänzenden Werbebroschüren für die Europawahl oder populistischer Miesmacherei. Die Flaggen der europäischen Länder kennt man ja und schaut kaum mehr hin. Aber erscheinen sie kreisförmig nach Farben geordnet, ergeben sich plötzlich unerwartete Nachbarschaften, die zum Nachdenken anregen. Oder wie wäre es mit einem Bilderrätsel, in dem Länder aus ihrem geografischen Kontext herausgerissen und nach Einwohnerzahlen aufgelistet sind? Welches Land ist das beste in Fußball? Was tun gegen Jugendarbeitslosigkeit? Wie ungleich leben Frauen & Männer? 60 Fragen hat das Team Grotrian-Schädlich von Jugendlichen gesammelt. Sie kreisen um Identität, Geschichte, Visionen, Hoffnungen und Ängste. „Was lieben wir? Was fürchten wir?“ heißt der Untertitel und macht deutlich, dass es hier um mehr als reine Fakten geht und der Jugendbeirat fleißig mitgemischt hat. Einfache Antworten gibt es dementsprechend nicht. Manche fallen ganz individuell aus – z.B. die zu Identität – bei anderen gibt es Zahlen, die aber mehr Fragen aufwerfen als beantworten. Jede der 60 grafisch genial gestalteten Doppelseiten gibt Anlass zum Überdenken, Hinterfragen, Träumen, vielleicht auch Handeln. Ein Anhang „Weiterlesen“ (auch online auf www.beltz.de/fragenaneuropa) liefert Hintergrundinformation zu einigen Fragen, gibt Quellen an und klärt über ihre Nutzung auf und schließt mit einer ganzen Seite Danksagungen ab – ein letzter Beweis, dass dieses Projekt durch und durch weltoffen und kollaborativ ist. Nachhaltig produziert ist es natürlich auch!
- NvM Morgen ist woanders
Etz, Elisabeth
390 Seiten, Tyrolia
Jacob hätte sich Mart nicht ausgesucht, den Mann, den seine Mutter geheiratet hat. Irgendwie passt es nicht. So überlegt sich der 17-jährige, ein Auslandsschuljahr einzulegen, um aus dem Haushalt fort zu kommen. Aber Mart will das nicht unterstützen. Nach einem Streit darüber kündigt Jacob an, fortan bei seinem Vater wohnen zu wollen. Nur das dieser ihn gar nicht unterbringen will in seiner neuen Familie. Nach Hause aber will Jacob auch nicht zurück. Da kommt er auf die Idee, sich als Rucksacktourist Jeremy aus Schottland – dem schottischen au pair sei Dank- auszugeben und sich mit Couchsurfing durchzuschlagen. Als Jeremy fühlt sich Jacob viel souveräner, als Jacob es je war. Er genießt die Rolle und lernt zunächst tolle Menschen kennen. Auch in der Schule kommt er bei den Mitschülerinnen viel besser an und Nadine interessiert sich plötzlich für ihn. Mehr und mehr aber wird das Doppelleben und die Suche nach geeigneten hosts zum Stress. Zumal es Winter geworden ist und die Nächte ohne Quartier und Geld ihm hart zusetzen. Er hat Angst, seinen neuen Status in der Schule und Nadine zu verlieren, aber wie lange kann er das noch durchhalten?
Die Geschichte zeigt vor allem eins: Dass es befreiend sein kann, alte, eingefahrene Muster hinter sich zu lassen und sich neu auszuprobieren. Da wo niemand weiß, dass du schüchtern bist, musst du es auch nicht zwingend sein. Sich eine Geschichte zu einem Namen auszudenken und dann diese Person erfolgreich verkörpern zu können, macht deutlich, dass du eigentlich alles bist. Schüchtern und forsch, kommunikativ und zurückhaltend; ein Nerd und ein Frauenschwarm. Du musst es nur entdecken in dir. Eine schöne Botschaft für junge Menschen ab 14 Jahren.
- KW
Peace Maker
Übersetzt von Julia Süßbrich
Mikas Mutter kommandiert ein Erkundungsraumschiff der Allianz. Für die Menschen geht Frieden über alles, das geht soweit, dass alle Kinder einen Peace Maker Chip eingepflanzt bekommen, der alle gewalttätigen Gedanken und Phantasien überschreibt. Mika hat ihren Chip manipuliert, da sie sich nicht anpassen will. Sie träumt von Abenteuern, liebt alte Romane und erfindet ihre eigenen Geschichten. Als die Besatzung aus Versehen in das Gebiet der Kamra eindringt, die keineswegs friedliebend zu sein scheinen, kommt es zu einer Auseinandersetzung und die Menschen müssen sich entscheiden, ob sie kämpfen oder lieber für ihre Ideale sterben wollen. Wie weit darf Selbstbestimmung gehen, wie weit muss man sich anpassen? Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft sind hervorragende Eigenschaften, aber lassen sie sich um jeden Preis durchhalten? Das Spannungsfeld zwischen Mut, Tapferkeit und Aggression auf der einen und Friedensliebe, Sanftmut und Idealismus auf der anderen Seite gibt den Rahmen für die Geschichte vor. Mikas Unangepasstheit birgt zuerst viele Probleme für das Mädchen, aber in der Not stellt sie sich als großer Gewinn heraus. Spannend geschrieben, kurz und knackig, mit guter Moral. Für Science Fiction begeisterte Jungleser eine nette Geschichte, die sie nicht bereuen werden, auch wenn ein paar Seiten mehr der Geschichte noch besser zu Gesicht gestanden hätten.
- CS 12 Things To Do Before You Crash And Burn
übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn
Der 16jährige Hercules wird von seiner Mutter kurz nach der Beerdigung seines ungeliebten Vaters zu dessen Bruder nach Baltimore verfrachtet. Mit seinem Onkel verbindet ihn eine raubeinige Männer-freundschaft, trotzdem ist der junge Mann nicht gerade begeistert von seiner Zwangs-verschickung. Und Onkel Anthony hat sich dann auch noch eine besondere Beschäftigung für seinen Neffen ausgedacht: der soll eine Liste mit 12 Punkten abarbeiten, an jedem der 12 Tage seines Aufenthalts Einen. Die Liste sieht, für sich betrachtet, ziemlich merkwürdig aus, aber irgendwie rutscht Hercules mehr oder weniger bewusst in die Erfüllung dieser Aufgaben hinein. Dass er dabei sowohl neue Seiten an sich selbst als auch an Baltimore entdeckt, versteht sich von selbst... Außerdem geht es um Mädchen, natürlich, und nicht zuletzt um Herc´s Verhältnis zu seinem verstorbenen Vater. In 49 kurzen, kürzesten oder längeren Kapiteln berichtet Hercules von seinen Gefühlen, Bemühungen, Ausflüchten und zufälligen Begegnungen. Obwohl er fest entschlossen war, alles ziemlich doof zu finden, ist er doch ehrlich genug zuzugeben, dass er sich zeitweilig köstlich amüsiert, ganz zu schweigen von einer Liebesgeschichte oder eigentlich zwei. Die trockene, authentische Sprache, von Uwe-Michael Gutzschhahn trefflich übersetzt, macht das Buch schnell und mitreißend.
Klasse!
- JPS Dry!
Übersetzt von Pauline Kurbasik und Kristian Lutzke
In Kalifornien versiegen die letzten Wasserreserven nachdem die Nachbarn den Colorado River aufstauen um einer eigenen Trockenheit vorzubeugen. Der Staat sitzt buchstäblich von einem auf den anderen Tag auf dem Trockenen. Für Alyssa und ihre Familie beginnt ein Kampf um das nackte Überleben in einer dystopischen Welt, die sich im Handumdrehen von der gutbürgerlichen Vorstadtidylle in ein Katastrophengebiet verwandelt hat. Plötzlich ist sich jeder nur noch selbst der Nächste. Hilfe kommt allerdings von unerwarteter Seite, denn im Sohn der seltsamen Nachbarn, die lange als Prepper und Außenseiter belächelt wurden, gibt es einen heimlichen Verehrer. Durch viele kleine und große Katastrophen entsteht eine Schicksalsgemeinschaft von 5 Jugendlichen, die plötzlich auf sich alleine gestellt sind.
Der Roman wird aus Sicht der jugendlichen Protagonisten erzählt, die die Geschichte abwechselnd aus ihrer Perspektive vorantreiben. Aufgelockert wird die, teilweise heftige Handlung durch sogenannte „Snapshots“, in denen die Rahmenhandlung aus Sicht von anderen Leuten erweitert und illustriert wird. Die Story wird durchweg spannend und flüssig erzählt. Auch die persönlichen Probleme und unterschiedlichen Ansichten der grundverschiedenen Jugendlichen kommen nicht zu kurz. Daraus ergibt sich ein unterhaltsames zwischen-menschliches Spannungsfeld, dass durch die äußeren Umstände immer wieder auf die Probe gestellt wird.
„Dry“ zeichnet eine ziemlich düstere Sicht auf die Zukunft und ein kritisches Menschenbild im Angesicht der Katastrophe. Einfach und schnell zu lesen, trotz mehr als 400 Seiten, stellt der Roman wichtige Fragen zum Thema, „was wäre wenn“. Nach der Coronapandemie mit ihren plötzlichen einschneidenden Änderungen im täglichen Leben und dem allgegenwärtigen Klimawandel besitzt der Roman geradezu prophetische Aktualität. Eine spannende Sommerlektüre, die Jugendliche sicher nicht bereuen werden.
You are (not) safe here
übersetzt von Uwe-Michael Gutschhahn
Von außen sieht das kleine Haus in Auburn aus wie viele Häuser dieser Kleinstadt in Pennsylvania. Aber es hat eine besondere Fähigkeit: es verbirgt das subtile Klima der Wut und der Gewalttätigkeit, dem Leighton, ihre Mutter und ihre Schwestern ständig ausgesetzt sind, perfekt. Nach jedem Vorfall sind die kaputten Fensterscheiben, die Risse in den Wänden am nächsten Morgen wie von Zauberhand wieder heil. Leighton versucht, sich und ihre jüngeren Schwestern so gut sie es schafft, durch dieses Leben zu bringen. In so einer kleinen Stadt, wo jeder jeden kennt und die Ehre der Männer hochgehalten wird, will niemand etwas sehen, oder gar helfen. Zugleich wird die Stadt von abertausenden Krähen heimgesucht. Was wollen sie hier in der Stadt und warum sind die meisten über dem Haus der Familie anzutreffen? Aussichtslos erscheint das Leben darin- und auch der Schreibwettbewerb, dessen Preisgeld Leighton die Freiheit bringen soll, scheint nicht zu funktionieren. Denn das Motto: „In Auburn geboren. Stolz auf Auburn“ will für sie so gar nicht passen. Dann aber läuft das Fass über und die Idee für den Text ist geboren, denn „es sind nicht die Krähen, die Auburn hässlich machen“.
Die Autorin schreibt in ihren Anmerkungen „Im Kern ist You are not safe here eine Survival-Story“. Und genauso liest sie sich auch. Die ständige Gefahr, die über allen Situationen liegt, ist immer fühlbar. Jedes Wort kann eines zu viel sein, jeder verlorene Schlüssel das Ende. Wir bangen mit den Protagonisten um`s Überleben und hoffen so sehr, dass es gelingen möge, sich zu befreien. Eine beklemmende Geschichte, die sehr einfühlsam die Vielschichtigkeit häuslicher Gewalt aufzeigt. Und immer schwingt doch ein wenig Hoffnung mit. Das war auch das Anliegen der Autorin, wie sie später erklärt. Und die im Anhang wertvolle Hinweise gibt, an wen sich Betroffene wenden können. Ein wichtiges Buch für alle ab etwa 15 Jahren.
- KW
Likes sind dein Leben
Ruwisch, Ulrieke
96 Seiten, Carlsen Clips
Die Serie Carlsen Clips hat den Anspruch, leicht lesbare, kurze Romane für Jugendliche bereitzustellen, die für diese Zielgruppe interessante Themen behandeln.
In „Likes sind dein Leben“ wird Hannah präsentiert, die aufgrund der Scheidung ihrer Eltern wenig Taschengeld bekommt und daher von ihren Klassenkameraden weitgehend gemieden wird. Gut nur, dass sie auf einem Frage-Antwort-Portal einen Fake-Account hat, wo sie sich so verrucht und überlegen geben kann, wie sie gerne wäre. Im Übermut lädt sie auf dieses soziale Netzwerk ein freizügiges Foto hoch, das am nächsten Tag von einem anonymen User dafür verwendet wird, sie zu erpressen. Gleichzeitig läuft es in ihrem realen Leben plötzlich erstaunlich rund, da der Mädchenschwarm ihrer Klasse sich ohne Vorwarnung für sie interessiert und mit ihr eine Beziehung beginnt…
„Likes sind dein Leben“ löst einige Versprechen ein, die im Zusammenhang mit dieser Jugendbuchserie vom Verlag gegeben wurden: der Roman für Leser ab 13 Jahren ist kurz, leicht zu lesen und behandelt mit den Schwierigkeiten, in die Jugendliche beim Posten in sozialen Netzwerken geraten können, ein für diese Zielgruppe relevantes Thema. Dennoch ist der Inhalt des Romans selbst für 13-Jährige dann doch etwas zu vorhersehbar und das Ende wenig glaubwürdig. Es ist fraglich, ob der Roman, der als Schullektüre positioniert wurde (umfangreiches Unterrichtsmaterial findet sich auf der Verlagshomepage), wirklich in der Klasse einsetzbar ist und den Schülern gefällt. Vielleicht trifft das hauptsächlich auf Klassen zu, die zu großen Teilen aus Wenig-Lesern bestehen.
Es ist dem Carlsen-Verlag hoch anzurechnen, dass sie eine eigene Serie mit modernen, für jugendliche interessanten Themen herausgeben, aber es darf ruhig etwas anspruchsvoller sein.
Erebos 2
Poznanski, Ursula
512 Seiten, Loewe
10 Jahre nach ihrem Erfolgsroman „Erebos“ hat die österreichische Autorin Ursula Poznanski mit „Erebos 2“ eine bemerkenswerte Fortsetzung vorgelegt.
Der inzwischen erwachsene Nick Dunmore finanziert sich sein Studium mit Fotografier-Jobs für Hochzeiten, Schulen und Restaurants. Plötzlich sieht er zu seinem Entsetzen den vertrauten Schriftzug des Computerspiels Erebos auf seinem Smartphone aufleuchten. Auch sein Laptop scheint infiziert zu sein. Alle Versuche, das Programm zu löschen bzw. nicht mehr in das Computerspiel hineingezogen zu werden, scheitern, da Erebos dazugelernt hat und seine Mitspieler auf mannigfaltige Weise bei Fehlverhalten bestrafen kann. Dabei nutzt es die sozialen Netzwerke ebenso wie eine fortgeschrittene Stimmen-Imitations-Technologie und die Möglichkeiten der modernen Überwachungstechnik. Gleichzeitig gerät der 16-jährige Derek in die Fänge des Spieles und so entwickelt sich ein abwechselnd aus verschiedenen Perspektiven erzählter Handlungsbogen, der durch verschiedene Plot-Twists auf einem fulminanten Höhepunkt zusteuert.
Eine großartige Fortsetzung, die – in typischer Poznanski-Manier – eine unvorhersehbare und geniale Auflösung bereithält. Für eine Trilogie fehlt jedoch noch ein Teil.
- MD Mind Games
übersetzt von Petra Knese
England in ferner Zukunft. Nach dem 3. Weltkrieg beherrscht PareCo England: die auf virtuelle Realität spezialisierte Computer-Firma kontrolliert über implantierte Zugangsportale die Menschen, indem sie sie zum ständigen Online-Spielen animiert. Nur wenige verweigern sich der neuen Technologie: die jugendliche Luna ist eine davon. Obwohl sie es nicht für möglich gehalten hat, wird sie trotz ihrer Technik-Verweigerung eines Tages zu einer der seltenen Prüfungen zugelassen, die einen sicheren Job und eine finanzielle Absicherung ihrer gesamten Familie verspricht. Zunächst rätselt sie, was PareCo von ihr erwartet, schnell merkt sie jedoch im Verlauf der Testung, dass Kräfte in ihr schlummern, die sie nie für möglich gehalten hat und die von ihrer geheimnisvollen verschollenen Mutter herrühren. Ein atemloser Wettlauf gegen die Zeit beginnt…
Die an die „Matrix“-Trilogie und an „Avatar“ erinnernde Handlung ist – wie alle dystopischen Jugendromane Teri Terrys – bis zur letzten Seite spannend und mitreißend. Die Autorin zeichnet eine Welt, die sich nur mehr im Virtuellen abspielt und dadurch letzten Endes ihre Menschlichkeit verliert. Eine wohl dystopische, aber doch nicht so ganz von der Hand zu weisende Zukunftsvision.
- MD Kinder mit Stern
übersetzt von Andrea Kluitmann
„Kinder mit Stern“ bündelt Kurzgeschichten aus Holland während des 2. Weltkriegs, die aus den Aufzeichnungen von Überlebenden des Lagers Westerbrok entstanden sind. Das hier alles aus Sicht der Kinder geschildert wird, verleiht dem Schrecken eine zusätzliche Dimension des Grauens. Die Kinder verstehen nicht genau, was eigentlich um sie herum passiert, haben aber dennoch ein feines Gespür für die allgemeine Stimmung und die heraufziehende Gefahr. Das Unfassbare nicht zu begreifen, ist aus vielen Erwachsenen-geschichten bekannt, hier wird es noch tragischer, z.B. wenn sich die kleine Rosa an ihrem sechsten Geburtstag freut, weil sie jetzt endlich ihren eigenen Stern bekommen hat und nun schon zu „den Großen“ gehört. Oder wenn Klaartje nicht verstehen kann, dass die Deutschen die Juden nicht mögen, weil sie anders sind. „Niemand sieht, das wir anders sind“. „Aber anders ist doch gerade schön?“.
Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert; vor dem Krieg, im Lager und nach Kriegsende. So erfährt der Leser sehr anschaulich, wie die Situation der Juden langsam immer schlimmer wird. Die Kinder dürfen nicht mehr auf den Spielplatz, in die Straßenbahn oder in die Schule. Im Lager versuchen sie sich einen Teil ihrer Kindheit zu erhalten, stoßen aber immer wieder auf die allgegenwärtigen Gefahren der deutschen Willkürherrschaft. Über allem schwebt das Damoklesschwert der Bahntransporte in den Osten, auch wenn die Kinder nicht wissen, was das wirklich bedeutet. Da die Zeit nach der Befreiung auch noch vorkommt, endet das Buch dennoch tröstlich und zeigt, dass auch in der dunkelsten Zeit noch ein Funken Hoffnung auf Besserung besteht.
Die aquarellierten Zeichnungen von Julie Völk, die sich stilistisch an Kinderbildern orientieren, passen hervorragend zu den Geschichten und ergänzen den Text ganz wunderbar. Fast meint man, die Kinder aus den Geschichten hätten die Bilder selbst gemalt. Das kindlich naiv Gemalte steht dabei in erschreckendem Gegensatz zum gezeigten Inhalt. Martine Letterie ist ein wichtiges Buch gegen das Vergessen und die Relativierung der Verbrechen während der Besatzungszeit gelungen. Da die Themen von Kindern alleine vielleicht nicht richtig eingeordnet und in ihrer gesamten Tragweite erfasst werden können, eignet sich das Buch gut zum Vorlesen und gemeinsamen Besprechen.
- CS Twittern ist auch keine Lösung, Donald Trump
Riederer, Britta | Uhlenbrock, Dirk
48 Seiten, Coppenrath
Der Titel suggeriert auf den ersten Blick ein Buch mit viel Kritik an Donald Trump; der amerikanische Präsident bietet dafür natürlich auch reichlich Angriffsfläche. Allerdings handelt es sich vielmehr um mehrere fiktive Briefe von fiktiven Jugendlichen an die Mächtigen der Welt. Die Briefe wenden sich an Alle(s), was in der Politik momentan Rang und Namen hat. Dabei vermeiden sie wohltuend dumpfe Stereotypen, die man aus den Medien bereits zur Genüge kennt. Von Angela Merkel, über Macron und Putin, bis zu Kim Jong-Un sind alle dabei, die man aus den Abendnachrichten kennt. Natürlich darf auch Barack Obama nicht fehlen. Die Schüler stellen Fragen zu aktuellen Themen aus dem jeweiligen Einflussbereich der Politiker, z.B. wird Macron über die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich befragt und auch nach dem Klima wird gefragt.
Das Buch ist ungewöhnlich, aber doch ansprechend gestaltet. Bilder in knalligen Farben, die an Linoldrucke aus dem Kunstunterricht erinnern, wurden zusätzlich mit Handzeichnungen angereichert. Daneben stehen die Briefe, die wie auf der Schreibmaschine getippt aussehen. Abgerundet wird jede Nachricht durch kurze Steckbriefe der jeweiligen Adressaten. Das sieht gut aus und liest sich leicht. Etwas ermüdend ist auf die Dauer, dass immer wieder betont wird, das die Freunde des Schreibers auch schon Briefe an andere Politiker geschrieben haben.
Bei all den Briefen ist mir nicht klar, wer eigentlich die Zielgruppe des Buches sein soll. Kinder im Alter der fiktiven Schreiber eher nicht; ältere Jugendliche, die an den behandelten Themen interessiert sind, sind heute schon deutlich besser informiert und finden den Inhalt wahrscheinlich eher trivial. Daher scheint mir das Buch vor allem von Erwachsenen für Erwachsene geschrieben zu sein, was aber auch irgendwie am Bedarf vorbei geht. Dazu sind die Fragen dann doch zu naiv und einfach gestellt, als dass Sie zu großem Nachdenken anregen würden. Spannender wäre es gewesen, echte Kinder zu Wort kommen zu lassen. So bleibt, bei aller ansprechenden Gestaltung ein Fragezeichen, wozu das Ganze gut sein soll.
- CS Wir sehen alles
übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn
Lex lebt im „Streifen“, einer eingezäunten Enklave in einem dystopischen Außenbezirk des zukünftigen London. Der passionierte Computerspieler Alan schafft zeitgleich die Aufnahmeprüfung als Drohnenpilot beim Militär. Er lebt außerhalb der Sicherheitszone und beobachtet das Leben dort durch die sicheren Kameras der fliegenden Beobachter. Sein Job ist es die Bewohner zu bespitzeln und ultimativ besonders gefährliche Individuen mittels Raketen auszuschalten. Als der Vater von Lex zur Zielscheibe der Beobachter wird kreuzen sich plötzlich die Schicksalswege der beiden jungen Männer, die sich ansonsten nie begegnet wären.
Das Buch ist zweigeteilt, abwechselnd aus der Perspektive von Alan und Lex geschrieben. Die Handlung erinnert stark an den Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern und überträgt den Gazastreifen in die Londoner Vororte. Die Eingeschlossenen schießen mit Raketen nach draußen und werden ihrerseits von den Belagerern drangsaliert. Im Buch bleiben die Hintergründe allerdings im Dunkeln, der Leser erfährt nicht, wie es soweit kommen konnte, was die Bewohner auf beiden Seiten des Zauns unterscheidet, oder warum es das Ghetto überhaupt gibt. Vielleicht ist das auch ein Fingerzeig, dass jegliche Unterschiede ohnehin willkürlich und menschengemacht sind.
Das Buch besitzt eine erschreckende Aktualität in Zeiten der ferngesteuerten Drohnenkriege. Wer kennt nicht Bilder aus Filmen oder den Nachrichten, die Raketeneinschläge zeigen, die aus tausenden Kilometern Entfernung gesteuert werden und zuletzt in der Obama Ära massiv ausgeweitet wurden? Töten als real live Computerspiel. Der Tod von Unbeteiligten wird billigend in Kauf genommen. Der Roman gibt diesen „Kollateralschäden“ eine Geschichte und macht eindringlich deutlich, wie fragil die Linie zwischen Leben und Tod oftmals ist und wie anscheinend unbedeutende Entscheidungen weitreichende Auswirkungen haben können. Das Buch wirft interessante Fragen auf, regt zum Nachdenken über viele aktuelle Themen an und ist als spannende Lektüre für Teenager auf jeden Fall empfehlenswert.
- CS Renegades - Gefährlicher Freund
übersetzt von Charlotte Lungstrass-Kapfer
Ein weiteres Buch über Superhelden, das klingt zunächst nicht besonders aufregend, gibt es doch bereits eine Vielzahl von Comics, Büchern und Filmen aus dem Marvel-Universum. Dieses hier unterscheidet sich aber doch wohltuend vom üblichen Narrativ.
Die Stadt Gatlon wird vom Rat der Renegades beherrscht, welcher Wunderkinder als eine Art Polizisten instrumentalisiert, um Recht und Ordnung zu gewährleisten. Dagegen stehen die verbliebenen Anarchisten, ebenfalls Wunderkinder, die vor langer Zeit in einem finalen Kampf den Mitgliedern des Rates unterlegen sind. Da sie sich nicht dem Rat unterwerfen wollten, leben sie seither im Untergrund. Das Mädchen Nova alias Nachtmahr, die andere Menschen durch Berührung einschlafen lassen kann, macht den Rat für den Verlust ihrer Eltern verantwortlich und sinnt auf Rache. Dazu schleusen sie die Anarchisten als Doppelagentin bei den Renegades ein.
In Gatlon treten die Superhelden mal anders in Erscheinung und es stellt sich recht schnell die Frage: wer er ist hier eigentlich gut oder böse? Die Grenzen verschwimmen und der Leser wird gezwungen, die unterschiedlichen Positionen aus der jeweiligen Perspektive zu verstehen und die Motivation der verschiedenen Personen nachzuvollziehen. Wie im echten Leben ist hier eben nicht alles einfach schwarz und weiß, eine durchaus eine wichtige Lektion für junge Leser. Leider fehlt der Geschichte aber „das große Ganze“, der Leser bekommt nur wenig Hintergrundinformationen zu dieser Welt der Wunderkinder. Woher kommen die ganzen Wunderkinder eigentlich? Was geschieht außerhalb von Gatlon City? Im Kontrast zu diesen Auslassungen wird die Geschichte teilweise sehr kleinteilig und mit vielen Wiederholungen erzählt. 150 Seiten weniger hätten dem Buch gut getan, ohne an der Handlung viel kürzen zu müssen. Wer nach der Lektüre des Klappentextes auf eine romantische Liebesgeschichte ala West Side Story spekuliert hat, wird enttäuscht, die Romanze zwischen Nova und Adrian findet nur sehr sporadisch statt, das hat sich die Autorin vielleicht für Teil 2 aufgehoben. Die Story selbst leidet ein wenig unter der wenig glaubhaften Tatsache, dass sowohl Novas als auch Adrians Alter Ego trotz offensichtlicher Hinweise bis zuletzt nicht auffliegt. Sieht man von diesen Schwächen und den vorhandenen Längen ab, bietet das Buch aber spannende Actionpassagen und präsentiert viele nette Ideen und interessante Charaktere mit sehr kreativen Superkräften, die man so noch nicht gesehen hat.
- CS Wer ist Edward Moon?
übersetzt von Cordula Setsman
Sarah Crossan nimmt sich in „Wer ist Edward Moon?“ ein ungewöhnliches und schwieriges Thema für ein Jugendbuch vor: der 17-jährige Joe reist alleine nach Texas um seinem älteren Bruder beizustehen, dessen Hinrichtung, nach 10 Jahren in der Todeszelle, unmittelbar bevorsteht. Joe hat nur noch Kindheitserinnerungen an seinen Bruder, während der Gefängniszeit bestand zwischen den beiden kein Kontakt mehr. Es stellen sich daher viele Fragen. Wer ist der Mann im Gefängnis eigentlich? Wie hat ihn die lange Haft verändert, hat er noch etwas mit dem geliebten Bruder von früher gemeinsam? Hat ihn die Familiensituation ins Verderben gestürzt, oder ist die Familie erst an Edwards Tat zerbrochen? Interessanterweise steht die eigentliche Schuldfrage gar nicht so sehr im Mittelpunkt, lediglich für Joe selbst spielt es anfänglich ein Rolle, ob sein Bruder tatsächlich schuldig ist. Joe nimmt die schwierige Aufgabe auf sich, diese Fragen zu beantworten und vielleicht sogar seinen Bruder vor dem sicheren Tod zu retten.
Das Buch ist in Versform in unzähligen kurzen Kapiteln geschrieben. Die kurzen Zeilen und Kapitel haben durchaus eine hypnotische Kraft und machen das Lesen einfach. Dem steht die Handlung gegenüber, die an vielen Stellen zum Nachdenken über das Leben, Familie, Recht und Gerechtigkeit, anregt.
Die Autorin präsentiert das Thema sehr gefühlvoll und entwickelt die Handlung sehr behutsam. Joes eigenes Leben und sein täglicher Kampf im hier und jetzt stehen im Kontrast zu der öden Gleichförmigkeit des Gefängnisalltags seines Bruders. Durch Erinnerungen erfährt man in Rückblicken, wie die beiden ungleichen Jungen in die jeweilige Lebenssituation geraten sind. Das ist nicht unbedingt etwas für zarte Gemüter sondern gleicht eher einer emotionalen Achterbahnfahrt. Dieses Buch legt niemand einfach so weg, es bleiben zwangsläufig viele Gedanken übrig, die einen noch eine ganze Weile beschäftigen.
- CS You are awesome: Wie du so ziemlich alles erreichen kannst
Syed, Matthew | Toby Triumph
160 Seiten, Knesebeck
Der Autor wurde in seiner Jugend britischer Meister und Olympiateilnehmer im Tischtennis und teilt nun seine persönlichen Erfolgsrezepte mit den Lesern. Aufgewachsen als normales Kind in England hat er es im Sport und als Schriftsteller weit gebracht, obwohl er für beides, laut eigener Aussage, keine besondere Begabung mit auf den Weg bekommen hat. Vielmehr schöpft er seine Motivation und Stärke aus dem ständigen Wettkampf mit seinem Bruder.
Die Aussage, dass man vieles (alles?) erreichen kann, wenn man nur will, macht Mut und kommt bei jungen Lesern sicher gut an. Ebenso die Ansicht, dass eigentlich jeder auf seine Art bereits „awesome“ ist, da er ohnehin schon unglaublich viele komplexe Fähigkeiten besitzt. Leider erschöpft sich das Buch im ersten Teil allzu oft in Plattitüden und Phrasen: „harte Arbeit, nie aufgeben und von Rückschlägen nicht entmutigen lassen, sondern aus Fehlern lernen“ sind die Kernthemen. Der Autor geht davon aus, dass es „Talent“ eigentlich nicht wirklich gibt, sondern Erfolg immer günstigen äußeren Umständen, harter Arbeit und Durchhaltevermögen zu verdanken ist.
Im weiteren Verlauf werden die Tipps etwas spezifischer und nicht mehr so oberflächlich. Beispielsweise schlägt er vor, Probleme in kleine Teile zu zerlegen, die jeweils einfach zu meistern sind, in der Summe aber zu großen Fortschritten führen. Ob das reicht, um jedem Leser eine olympische Karriere zu ermöglich, sei mal dahingestellt, aber es kann sicherlich auf viele Probleme angewendet werden, denen die Leser im Alltag begegnen.
Das Buch ist lustig und abwechslungsreich aufgemacht, mit vielen kleinen Gags und Illustrationen, teilweise wirkt das Ganze dann aber fast schon wieder zu crazy. Unter dem Strich ein nettes Buch, das schnell gelesen ist, ein paar gute Anregungen gibt und dem einen oder anderen vielleicht Mut macht, sich mehr zuzutrauen.
- CS Wir sind die Adler
übersetzt von Jan Möller
Todd Hasak-Lowy hat mit „Wir sind die Adler“ ein mitreißendes Buch über die Jugend von Michael Gruenbaum im Konzentrationslager Theresienstadt geschrieben. Nach einer unbeschwerten Kindheit in Prag wird Gruenbaums Vater von den Nazis ermordet und der Junge muss mit seiner Mutter und seiner älteren Schwester nach Theresienstadt umsiedeln.
Bereits während der Zeit in Prag wird in beklemmender Art und Weise beschrieben, wie der Junge Mischa die ständig zunehmenden Gängelungen durch die Nazis erlebt. Vor allem sein Unverständnis und die allgegenwärtige Frage nach dem „warum“, wo es offensichtlich keine Erklärung gibt, sind wirklich erschütternd geschildert. Die Zeit im Ghetto erscheint dagegen fast schon „harmlos“. Die Kinder versuchen sich zwischen Fußball und selbstorganisiertem Unterricht ein erträgliches Leben einzurichten. Unterstützt werden sie dabei durch Franta Maier, einen jungen Mann, der als „Vorsteher“ mit ihnen das Jungenzimmer teilt und immer mehr zum Vaterersatz wird. Franta schafft es, die Jugendlichen zusammenzuschweißen und aus ihnen die „Nesarim“ (Adler) zu machen, die zusammen durch dick und dünn gehen und Freunde fürs Leben werden.
Es gibt viele Bücher über den Holocaust, aber wenige, die so eindringlich und nachhaltig ein Gefühl dafür vermitteln, wie die Kinder diese schrecklichen Erfahrungen erlebt haben und dennoch überleben konnten. Es ist faszinierend und unglaublich spannend, wie die Häftlinge mit Ihrem Schicksal umgehen, immer unter dem Damoklesschwert der Transporte nach Ausschwitz, von denen der junge Mischa überhaupt nicht weiß, was er davon halten soll. Kann es überhaupt noch schlimmer werden, als es in Theresienstadt schon ist? Diese Gedankengänge stehen natürlich in krassem Gegensatz zu unserem heutigen Geschichtswissen und sind gerade deshalb umso spannender. Als Leser möchte man Mischa die Wahrheit förmlich zurufen und ihn warnen.
Ein sehr starkes Buch ohne Pathos, das große Gefühle und Emotionen auslöst und das man kaum aus der Hand legen kann und sicher nicht so schnell vergisst. Nichts für schwache Nerven und zarte Gemüter aber absolut lesenswert.
- CS Das Mädchen im blauen Mantel
übersetzt von Cornelia Stoll
Hanneke Bakker ist Schwarzmarkt-Händlerin in Amsterdam. Sie besorgt Zigaretten, Wurst, Kaffee oder Schokolade für ihre Kunden und ernährt vom Gewinn sich und ihre Eltern. Diese denken allerdings, Hanneke würde das Geld im Beerdigungsunternehmen verdienen, in dem sie angestellt ist. Im Frühjahr 1943 beginnt diese Geschichte um Hanneke und die Situation unter deutscher Besatzung in den Niederlanden. Beim Versuch den deutschen Einmarsch zu stoppen starb Hannekes Freund Bas an der Front. Hanneke trauert sehr um Bas, aber „das Überleben geht vor“ und so betrachtet sie ihre illegalen Geschäfte als eine Form der Rebellion gegen die Nazis. Eines Tages jedoch bekommt sie von einer Kundin einen heiklen Auftrag: sie soll das verschwundene jüdisches Mädchen Mirjam finden. Hanneke weiß, dass das viel gefährlicher ist, als alles Schmuggeln. Dennoch reizt es sie, das Mädchen zu finden: „ich bin gut im Sachen finden“. Doch je mehr Hannie sucht, nach Menschen, die Mirjam gekannt haben, nach Möglichkeiten, wo sie sein könnte, um so mehr Widersprüche und Komplikationen treten auf. Von Ollie, dem Bruder ihres gefallenen Freundes, wird Hanneke wird für den Widerstand angeworben, kann sich aber lange nicht dazu entschließen. Schließlich lässt sie sich darauf ein, in der Absicht, Unterstützung beim Finden von Mirjam zu bekommen. Aber im Widerstand geht es immer um die Rettung Vieler und nicht einer einzelnen Person. So entsteht reichlich Konfliktstoff aber auch Verständnis Respekt und Vertrauen.
Dieser historische Roman entwickelt sich temporeich und packend wie ein Krimi. Die Figuren der Akteure sind glaubwürdig und mit ihren diversen persönlichen Hintergründen gezeichnet. Das Leben unter den deutschen Besatzern wird nachvollziehbar und deren Willkür und Gräuel gegenüber den Juden und anderen Minderheiten erschreckend deutlich. Auch die Bedrohung durch niederländische Kollaborateure wird nicht verschwiegen.
Mit Hanneke spricht hier eine starke, weibliche Icherzählerin von Mut, Verzweiflung und Überforderung. Eine absolut empfehlenswerte Lektüre für junge Menschen.
- JPS Der große schwarze Vogel
Höfler, Stefanie | Klose, Lisa
182 Seiten, Beltz & Gelberg
Die Geschichte, die der 14jährige Ben erzählt, beginnt „Davor“. Denn, bevor wir von dem plötzlichen Tod seiner Mutter an einem strahlenden Oktobertag erfahren, bevor Ben das Geräusch des Defibrillators hört, bevor Ben in dem dunklen Wohnungsflur steht, in den der Vater ihn schickt, noch hoffend, dass die Sanitäter die Mutter wieder ins Leben zurückholen können, erzählt Ben von einer Erinnerung, in der seine Mutter voller Begeisterung hoch oben in eine Kastanie klettert, um ihrem Sohn die Früchte herunterzuwerfen. Sie wollen Kastanientiere basteln, sofort, nicht erst einen oder zwei Tage später, wenn die Früchte eh hinunterfallen würden. Es eilt, keine Zeit auf ein Morgen zu warten.
Mit dem Tod der Mutter vergeht die Zeit anders für Ben, seinen kleinen Bruder Karl, genannt Krümel und seinen Vater. Ben will erzählen, „wie das ist, wenn jemand plötzlich stirbt. Wie die ersten Tage vergehen, wie man damit klarkommt. Oder wie man eben nicht damit klarkommt.“ Die Kapitel dazu heißen „Sonntagvormittag“ oder „Mittwochnacht“ und Ben erzählt darin die erste Woche nach dem Tod seiner Mutter. Dazwischen heißen die Kapitel erst „Davor“, dann „Jetzt“ und in der zweiten Hälfte des Buches „Danach“. Stefanie Höfler gelingt es, nicht nur durch ihren empathischen Erzähler, sehr präzise von dem Weiterleben nach dem Tod der Mutter zu erzählen, von der eigentlichen Unerträglichkeit, der Veränderung aller Wahrnehmung, von dem Erleben des Unvorstellbaren. Es beginnt mit dem Tod und dem Moment des Abschiednehmens bis hin zur Beerdigung. Sie erzählt die ersten Stunden und Tage, in denen das Leben weitergeht, auch wenn es einem nicht möglich scheint. Diese Beschreibung vom Abschiednehmen bis hin zur Beerdigung wird durch Rück- und Vorblenden immer wieder unterbrochen. So erzählt Höfler auch davon, wie es dennoch ein Davor, ein Danach und ein Jetzt gibt und wie jeder in der Familie, auf sich zurückgeworfen wird, gezwungen ist, sich neu zu finden und sich auch wieder den anderen und der Welt zu öffnen. Der kleine Bruder macht sich immer wieder allein auf den Weg, um der Mutter z.B. ein Mausoleum zu bauen, der Vater taucht ab, Ben funktioniert, sucht seinen Bruder, verschließt sich aber auch gleichzeitig. Und doch geht das Leben weiter. Stefanie Höfler füllt diesen tröstenden Spruch, der manches Mal nur noch wie eine Hülse daherkommt mit Ereignissen und Erfahrungen der Familienmitglieder und lässt das Buch über den Tod zu einem Buch über Veränderung und immer wieder neue Wege in das Leben werden. Die enge Beziehung der Mutter zur Natur, die der Sohn Ben mit ihr teilt, bietet eindrückliche Bilder für die Verbundenheit zum Leben, für jeden auf seine Weise. So dass Ben, nach der ersten Trauer wieder im Jetzt angekommen, für sich erkennen kann: „Ich bin kein Bäume-Kletterer, sondern ein Bäume-Umarmer, … Und das ist völlig okay für mich.“
- KE Anders als wir
übersetzt von Birgit Erdmann
Der Roman dreht sich um die Familie der berühmten Schriftstellerin Virginia Woolf. Die Nichte Angelica Bell lebt mit Ihren beiden Brüdern in einem Cottage an der englischen Küste kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs. Jeder in Charleston ist kreativ, malt, töpfert oder ist literarisch tätig. Nur ein normales Familienleben findet nicht statt, weil jeder zu sehr mit sich selbst, seiner Kunst oder wechselnden Liebschaften beschäftigt ist. Zeituntypisch für ein Mädchen genießt Angelica absolute Freiheit und kann sich nach Herzenslust ausleben. Was für andere Kinder ein Segen wäre wird von ihr zunehmend als Last empfunden. Sie sehnt sich nach Normalität und emotionaler Nähe, die ihr von der Mutter verwehrt wird.
Nach dem Verschwinden der berühmten Tante bittet Angelica ihren Bruder Quentin ihre Jugenderinnerungen aufzuschreiben, um sie im familieninternen Memoir Club vorzutragen. Fortan wird das Familienleben von Quentin durch die Augen der kleinen Angelica portraitiert. Jugenderinnerungen wechseln von nun an mit Gegenwartsbeschreibungen. Durch diese Konstruktion ändert sich ständig die Perspektive zwischen den handelnden Personen, aber auch zwischen dem Hier und Jetzt und der vergangenen Kindheit. Das erlaubt dem Leser tiefe Einblicke in das Familienleben und vermittelt ein Gefühl dafür, warum die Hauptpersonen sich so und nicht anders entwickelt haben und wie ihre Weltsicht geprägt wurde. Toleranz, Pazifismus, Feminismus, Klassenunterschiede und Homosexualität sind einige widerkehrende Themen im Umfeld der liberalen Künstlerkolonie, die hier diskutiert werden. Das bis dahin unbeschwerte Leben der Familie kontrastiert mit der aufziehenden Katastrophe in Europa und wird durch den Tod des älteren Bruders im spanischen Bürgerkrieg auf eine harte Probe gestellt.
Der Roman ist clever arrangiert und sehr gut geschrieben, aber ist das wirklich der Stoff, für den sich Jugendliche ab 12 Jahren interessieren? Das Buch wirkt eher wie eine „ungeliebte Schullektüre“, bei der die Kinder wichtige Lektionen des Erwachsenwerdens und Toleranz lernen sollen. Falls die Kinder das Buch Jahre später noch einmal in die Hand nehmen, werden sie es sicher zu schätzen wissen, ob es sie im jugendlichen Alter bereits anspricht, erscheint zumindest zweifelhaft. Wer hingegen absolut begeistert ist, kann sogar noch weiterlesen. Der Autor hat zuvor bereits einen Roman veröffentlicht, der den Fokus auf die Geschichte der beiden Brüder Quentin und Julian legt („Brüder für immer“).
- CS Wenn Worte meine Waffe wären
Aamand, Christina
271 Seiten, Dressler
Sheherazade lebt seit ihrer frühen Kindheit in einem Hochhausghetto in Kopenhagen. Sie ist das einzige Kind ihrer palästinensischen Eltern und auf ihr ruhen hohe Erwartungen. Ihr Vater, ein verfolgter Dichter, nennt sie seinen „Pfeil in die Zukunft“, die, nach der Vorstellung ihrer Mutter, darin gipfelt, dass ihre Tochter Ärztin wird und jede Menge Kinder bekommt. Die Belastungsprobe für die ohnehin schon sehr angespannte Familiensituation wird noch höher, als der Vater mit einer posttraumatischen Belastungsstörung ins Krankenhaus kommt. Bei einem ihrer Besuche lernt Sheherazade das dänische Mädchen Thea kennen. Diese besucht dort regelmässig ihre schwer erkrankte Mutter. Die beiden Mädchen verstehen sich auf Anhieb und Thea, aus wohlhabendem Hause stammend, ist offen und neugierig, die Lebenssituation ihrer neuen Freundin kennen zu lernen. Durch den Blick von Thea, beginnt She, wie sie von nun an genannt wird, ihre stark den muslimischen Traditionen verhaftete Lebenswelt immer mehr zu hinterfragen. Warum liegt das Lebensglück im Verheiratet werden mit einem Mann, den man häufig gar nicht kennt? Warum soll sie Ärztin werden, wenn sie eigentlich Schriftstellerin sein möchte? Warum ist es so immens wichtig, was die Nachbarn denken? Warum muss sie immer wieder erklären, dass sie ein Kopftuch trägt? Warum immer diese Heimlichtuerei?
Die Situation verschärft sich, als Thea und She beginnen, sich ineinander zu verlieben. Durch Thea lernt She, sich Freiheiten zu nehmen, an die sie früher nicht im Traum gedacht hat. Als Shes Mutter die beiden im Krankenhaus beim Küssen ertappt, bricht deren Welt zusammen, nun ist das Schlimmste passiert: She befindet sich nun „an der Spitze aller Zeigefinger“, wie ein arabisches Sprichwort sagt. Und wie das ausgehen kann, wird eindrucksvoll an der tragischen Geschichte von Sohane, der jungen Nachbarin, vorgeführt. Die Mutter bietet alles auf, was zur Verfügung steht, um ihre Tochter wieder auf den rechten Weg zu führen. Am Ende sagt sie sich gar von She los.
She aber bekommt unerwartet Hilfe von ihrem Vater, der sich daran erinnert, wie relativ freizügig er und Shes Mutter ihre Jugend genießen konnten, ein Kopftuch spielte damals gar keine Rolle....er baut ihr damit die Brücke aus seiner unverbrüchlichen Liebe, die die Autorin laut Nachwort mit ihrem Buch bauen möchte. Das Leben kann so aussehen oder so – irgendjemand wird sich immer an irgendetwas stören oder eben auch nicht.
Die Waffen, mit denen Sheherazade kämpft, sind selbst gebastelte „Zines“, Miniaturmagazine, illustriert mit Zeitungsausschnitten und Collagen, kleine Kunstwerke. In diesen kommen Erlebnisse mit ihrem Vater zum Ausdruck, die sie vermutlich anders nicht darstellen kann, belastende Ereignisse, in denen familiäre Gewalt eine große Rolle spielt. Die „Zines“ sind eine Zuflucht, eine Rettung, Shes Form der Verarbeitung. Am Ende traut sie sich sogar, ihre Werke auf einer Bühne zu präsentieren.
Es gibt mittlerweile viele Bücher, die sich mit der Lebenswirklichkeit junger muslimischer Frauen in Europa beschäftigen. Dieses ragt eindeutig heraus. Die Autorin thematisiert mit dem Aspekt der erwachenden Homosexualität nicht nur ein Tabuthema des islamischen Glaubens, sondern stellt in gewisser Weise auch die eigenen „Vorurteile“/Erwartungen auf den Kopf. Dass sich letzten Endes der Vater mit seiner Tochter solidarisiert, erscheint ungewöhnlich und gerade das zeichnet dieses Buch aus. Irritierende Momente sorgen für ein ständiges Hinterfragen der eigenen Einstellung.
Die Geschichte ist in klarer, leicht verständlicher Sprache geschrieben. Die grafisch toll gestalteten Zines – ein Lob an die deutsche Nachbearbeitung – sind ein extrem reizvolles Stilmittel und regen zur Nachahmung an. Trotz knapp 300 Seiten so auch für Leseungewohnte eine spannende und mitreißende Lektüre, mit hohem Identifikationsfaktor.
Unbedingte Empfehlung für Diskussionsfreudige – gerade auch als Klassenlektüre in der Sekundarstufe.
- KS Deathland dogs
übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn
In einer postapokalyptische Welt gibt es nur noch drei überlebende Gruppen, Menschen, Dau und Hunde. Ressourcenknappheit zwingt die wenigen verbliebenen Menschen in ihrer einzigen Stadt zu einem ewigen Existenzkampf. Das Menschenkind Jeet ist bei den Hunden in den wüstenähnlichen Deathlands aufgewachsen und von den Menschen gerettet worden. Jetzt hilft er ihnen, zusammen mit seiner Freundin Chola Se, bei ihrem finalen Kampf gegen die Dau.
In Deathland Dogs zeichnet Kevin Brooks einen interessanten, wenn auch nicht unbedingt plausiblen Hintergrund für die Welt der Zukunft. Wenn man sich darauf einlässt macht das Buch durchaus Spaß, auch wenn es einige Schwächen hat. Die Actionszenen wirken manchmal sehr übertrieben, vor allem, wenn sich die Hauptfiguren alleine gegen alle versammelten Gegner durchkämpfen. Da wird es nicht nur etwas abstrus, sondern auch phasenweise sehr brutal für einen Jugendroman! Das ist für sensiblere Gemüter sicherlich zu viel des Guten, auch wenn es zur Beschreibung der Welt passt, dass die Protagonisten hier nicht sehr zaghaft und zögerlich handeln. Mitunter wirkt die Handlung etwas langatmig, vor allem wenn die verschiedenen Schießereien und Verfolgungsjagden endlos ausgewalzt werden. Dennoch ist Deathland Dogs ein spannendes Fantasy-Abenteuer, das Fans von Kevin Brooks sicher zu schätzen wissen, enthält es doch viele Elemente seiner früheren Erfolgsromane.
- CS One of us is lying
McManus, Karen M.
448 Seiten, cbj
Fünf Schüler müssen unberechtigt zum Nachsitzen, einer stirbt dabei. Pikant ist, dass der Tote der Urheber und Verfasser der schulweiten Klatsch- und Tratsch-App ist, die schon viele Teenager-Leben zerstört hat. Jeder der vier verbleibenden Schüler hat seine eigenen Leichen im Keller und damit ein Motiv für den Mord.
In diesem Jugendbuch trifft der „Breakfast Club“ aus dem bekannten 80er Jahre Film auf eine klassische Krimi Handlung. Angereichert wird der Plot durch bekannte amerikanische Highschool-Elemente. Die stereotypen Charaktere, Beauty-Queen, Sportstar, unangepasster Außenseiter und Streber dürfen auch hier nicht fehlen. Dennoch wirkt das Ganze nicht so klischeehaft, wie es sich vielleicht anhört, sondern liest sich flüssig und spannend, ohne dabei reißerisch zu sein. Die Kapitel sind jeweils abwechselnd aus Sicht eines der vier Protagonisten geschrieben, wodurch man die Motive und Hintergründe der Charaktere jeweils gut nachvollziehen kann. Mit der Zeit entwickeln sich gewisse Sympathien für jeden der vier Jugendlichen. Die Spannung entsteht auf der psychologischen Ebene aus der Tatsache, dass es nur einer gewesen sein kann und derjenige offensichtlich lügt.
Unter dem Strich ein spannender Jugendkrimi mit einigen interessanten Wendungen, der bis zum Schluss Lust auf das Weiterlesen macht.
- CS Kompass ohne Norden
übersetzt von Ingo Herzke
Wie fühlt sich eine psychische Krankheit, genauer gesagt: eine bipolare Schizophrenie, für den Betroffenen an? Der bis dahin gesunde Teenager Caden erlebt es am eigenen Leib und schildert seine Eindrücke in sehr eindringlicher Form. Das Buch spielt auf zwei Ebenen, der realen Welt und der eingebildeten Welt in Cadens Kopf, die sich auf einem Segelschiff abspielt. Hier erlebt Caden die Dinge, wie sie sich ihm in seiner eigenen Wirklichkeit darstellen.
Was das Buch außergewöhnlich macht, ist die Tatsache, dass es die wahre Geschichte des Sohnes des Autors aus Sicht des Betroffenen erzählt. Zusätzlich wird der Text durch Originalzeichnungen illustriert, die der Sohn während seiner Krankheit angefertigt hat. Die Handlung auf dem Schiff greift immer wieder reale Vorkommnisse auf und spiegelt diese in Cadens Kopf auf andere Art und Weise wider. Durch die Abwechslung mit Kapiteln, die in der Wirklichkeit spielen entsteht so ein spannendes hin und her und der Leser erfährt, wie Cadens Hirn die Realität für ihn verzerrt abbildet. Seine Erfahrungen, Gefühle und Ängste werden auf einer Ebene verarbeitet, die für gesunde Menschen nur schwer vorstellbar ist. Es ist dabei gar nicht so sehr die verzerrte Wahrnehmung die ihm Angst macht, sondern vielmehr die Unfähigkeit, das Reale vom Eingebildeten zu unterscheiden. „Nichts macht mehr Angst, als nie zu wissen, was Du im nächsten Moment glauben wirst.“
Kompass ohne Norden ist ein interessantes und ungewöhnliches Buch, das tiefe Einblicke in die Gedankenwelt eines Schizophrenen gewährt. Das regt zum Nachdenken an und schafft Empathie und Mitgefühl, wo vorher vielleicht Vorurteile und Misstrauen überwogen. Die Handlung berührt den Leser so stark, weil man sich immer wieder vor Augen führt, dass auf dem Schiff nicht eine nette Fantasy-Geschichte spielt, sondern, dass es sich für Caden um seine wahrgenommene und „geglaubte“ Realität handelt. Ein starkes Buch, zu einem wichtigen und oftmals vernachlässigten Thema, in einer Zeit, in der psychische Erkrankungen, gerade auch unter Jugendlichen, immer mehr zunehmen.
- CS Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen
übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn
Harry wächst mit seinem Bruder in armen Verhältnissen bei seinem Vater auf. Die Mutter ist bereits gestorben, worunter jedes Familienmitglied auf seine eigene Art leidet. Der Vater arbeitet hart, und die Kinder sind häufig auf sich allein gestellt. Was nach einer traurigen Kindheit klingt, stellt sich im Alltag zwischen Schule, großen und kleinen Abenteuern, Raufereien und Streichen, Hoffnungen und Träumen, doch als erfüllte Jugend dar. Gerade weil die Kinder viel Freiheit genießen und dennoch wissen, dass sie sich jederzeit auf den liebevollen Vater verlassen können.
Was sofort auffällt ist die poetische Form des Buches, das sich in kurzen, abgehackten Zeilen, wie eine Sammlung von Gedichten, präsentiert. Die einzelnen „Kapitel“ sind nie länger als 2 Seiten und wechseln zwischen verschiedenen Jugenderinnerungen aus Harrys Leben hin und her. Freud und Leid, Trauer und Hoffnung stehen hier oft direkt nebeneinander; genau wie so häufig auch im richtigen Leben. Diese einzelnen Episoden setzten sich langsam zu einem dichten Gesamtbild zusammen. Die kurzen Kapitel zwingen förmlich zum Weiterlesen.
Melancholisch, teilweise traurig aber auch hoffnungsfroh und durchweg wirklich bewegend ist hier ein wunderbares Jugendbuch mit Potential zum Klassiker entstanden.
- CS Eine Insel zwischen Himmel und Meer
übersetzt von Birgitt Kollmann
Crow ist als Baby in einem winzigen Boot auf einer kleinen Insel vor der Küste Maines angespült worden. Der Einsiedler Osh nimmt sich der Kleinen an und zieht sie auf wie ein Vater. Miss Maggie, eine freundliche Dame von der Nachbarinsel hilft ihm dabei. Je älter Crow wird, desto mehr Fragen stellt sie sich nach ihrer Herkunft und ihren Eltern. Ihre Nachforschungen führen sie auf die Nachbarinsel, auf der es vor vielen Jahren eine Leprakolonie gab. Im weiteren Verlauf tauchen immer neuen Fragen auf, wer waren Ihre Eltern, warum wurde sie ausgesetzt und was hat es mit dem seltsamen Vogelkundler auf dieser Nachbarinsel auf sich? Die Antworten die sie findet sind nicht immer erfreulich und einige sogar gefährlich.
Ein gefühlvolles Buch über Einsamkeit, Glück und was es eigentlich bedeutet, eine Familie zu haben. Die Suche nach der eigenen Herkunft und deren Bedeutung und nach dem Sinn des Lebens stehen im Mittelpunkt der Geschichte. Was benötigt man wirklich um glücklich zu sein? Aus diesen Fragen entwickelt sich ein spannendes Buch, das zwar nicht alle Antworten gibt, aber definitiv zum Nachdenken anregt, z.B. auch als Schullektüre.
- CS Ocean City – Im Versteck des Rebellen
Teil 2
Den Helden aus dem ersten Teil ist die Flucht aus der schwimmenden Stadt gelungen. Diesmal müssen sie sich auf dem Festland durchschlagen um Matt Fuller, den Anführer der Rebellion zu finden. Dabei kämpfen sie mit den Eigenheiten der postapokalyptischen Welt, wie z.B. den örtlichen Warlords. Immer im Nacken sitzen die verschiedenen Agenten aus Ocean City.
Der zweite Teil der Trilogie ist so spannend und temporeich wie der erste. Das Setup ist nicht mehr ganz so interessant wie die schwimmende Stadt mit ihren Eigenheiten. Auf dem Festland ist die Welt aus gängigen Science Fiction Versatzstücken à la Mad Max aufgebaut. Die bekannten Charaktere tauchen alle wieder auf, entwickeln sich ein Stück weiter und werden um Neue ergänzt.
Das Buch liest sich schnell und flüssig, da die Handlung immer actionreich ist und schnell weitergetrieben wird, ohne große Längen zu haben. Einige Entwicklungen sind etwas arg konstruiert, aber das nimmt dem Lesespaß nicht viel, man muss es einfach akzeptieren. Isoliert betrachtet ist das Buch eher nicht zu empfehlen, da viele Informationen aus Teil eins vorausgesetzt werden und dem Leser der nötige Hintergrund für die Handlung und die Charaktere fehlt. Als Fortsetzung hingegen aber auf jeden Fall lesenswert. Für eine abschließende Meinung muss man sicher noch Teil drei in Betracht ziehen, da „Im Versteck des Rebellen“ als Mittelteil die undankbare Aufgabe hat die Brücke zu schlagen zum - hoffentlich - großen Finale.
- CS Ocean City – Die Stunde der Wahrheit
Teil 3
Der dritte Teil und letzte Teil der Ocean City Reihe fällt vor allem durch überraschende Wendungen auf. Bisher war in der Handlung alles relativ geradlinig und in den großen Linien vorhersehbar. Nachdem es die Helden wieder nach Ocean City zurück geschafft haben wendet sich nun das Blatt und es kommt zu völlig neuen Verstrickungen und Problemen. Die Handlung dreht sich weiterhin im Kern um Jackson, aber die Hauptpersonen von Ocean City, Clark Kellington und Lydia Tremont nehmen eine weit größere Rolle ein, als bisher.
Das Buch ist, wie seine Vorgänger, routiniert geschrieben, die Handlung ist nicht mehr ganz so temporeich, dafür etwas tiefgreifender. Politische Verstrickungen und Intrigen rücken in den Vordergrund, während die actionhaltigen Szenen mehr in den Hintergrund treten. Die Handlung der vorrangegangenen Bände wird schön zusammengeführt und in sich schlüssig zu einem Happy End gebracht. Das geschieht durchaus auf überraschende und spannende Art und Weise, wird aber leider etwas arg kurz abgehandelt.
Ocean City bietet eine gut geschriebene Buchreihe für junge Leser, die Spaß an Science-Fiction haben. Alles in allem ein würdiger Abschluss für die Trilogie, die aber sicher im ersten Teil ihren Höhepunkt erlebt hat.
Der dritte Teil und letzte Teil der Ocean City Reihe fällt vor allem durch überraschende Wendungen auf. Bisher war in der Handlung alles relativ geradlinig und in den großen Linien vorhersehbar. Nachdem es die Helden wieder nach Ocean City zurück geschafft haben wendet sich nun das Blatt und es kommt zu völlig neuen Verstrickungen und Problemen. Die Handlung dreht sich weiterhin im Kern um Jackson, aber die Hauptpersonen von Ocean City, Clark Kellington und Lydia Tremont nehmen eine weit größere Rolle ein, als bisher.
Das Buch ist, wie seine Vorgänger, routiniert geschrieben, die Handlung ist nicht mehr ganz so temporeich, dafür etwas tiefgreifender. Politische Verstrickungen und Intrigen rücken in den Vordergrund, während die actionhaltigen Szenen mehr in den Hintergrund treten. Die Handlung der vorrangegangenen Bände wird schön zusammengeführt und in sich schlüssig zu einem Happy End gebracht. Das geschieht durchaus auf überraschende und spannende Art und Weise, wird aber leider etwas arg kurz abgehandelt.
Ocean City bietet eine gut geschriebene Buchreihe für junge Leser, die Spaß an Science-Fiction haben. Alles in allem ein würdiger Abschluss für die Trilogie, die aber sicher im ersten Teil ihren Höhepunkt erlebt hat.
- CS Grüne Gurken
Hach, Lena | Berlin, Katja (Infografiken)
220 Seiten, mixtvision
Vielleicht wissen Sie nicht auf Anhieb, was ein Pleonasmus ist? Kein Grund zur Sorge, das wird in diesem Buch unter anderem auch erklärt: „ein Wortreichtum ohne Informationsgewinn“...(Wikipedia), wie z.B. weißer Schimmel, rotes Blut, grüne Gurken...Die blitzgescheite Lotte, 14jährige Icherzählerin und gerade aus einer hessischen Kleinstadt gegen ihren Willen nach Berlin-Kreuzberg verpflanzt, ist dennoch nicht so hochbegabt, wie ihre Eltern sich das wünschen. Dafür leidet Lotte unter ihrer Tollpatschigkeit, die sich natürlich genau dann zeigt, wenn es am peinlichsten ist. Aber nachdem Lotte den Kioskbetreiber Junus und dessen Freundin Miri kennengelernt hat, entwickelt sich aus ihrer anfänglichen Aversion gegen Berlin und alles berlinische ein zunehmendes Interesse an ihrer neuen Umgebung, was auch an Luke liegen könnte, der im Kiosk regelmäßig grüne-Gurken-Weingummis einkauft. Lotte berichtet mit viel Selbstironie von ihren Pubertätsproblemen, so gelingt Lena Hach mit ihrer Protagonistin eine authentische und witzige Mädchenfigur. Lottes Liebe zu Infografiken und Schaubildern steuert diesem coming-of-age-Roman eine schöne Anzahl an Illustrationen bei, die von Katja Berlin in schlüssige, farbige Schautafeln umgesetzt wurde, eine echte Weiterentwicklung der Listen–Jugendbücher, wie ich finde. Äußerst empfehlenswert!
- JPS Abgefahren
Pope, Dirk
228 Seiten, Carl Hanser
Der liebenswerte Loser Viorel begibt sich auf einen turbulenten Roadtrip von Essen nach Rumänien, der Heimat seiner Mutter. Nur blöd, dass die kürzlich verstorben ist und jetzt im Kofferraum überführt wird. Daneben ist die Tatsache, dass Viorel ein übergewichtiger Teenager ist und keinen Führerschein hat, eigentlich kaum noch erwähnenswert. Ebenso wie der Anhalter, den er unterwegs mitnimmt und der irgendwie an einen Vampir erinnert. Dazu kommen Verfolgungsjagden, liebenswerte Neuverwandtschaft, reichlich selbstgebrannter Schnaps und große Gefühle im Schneetreiben rund um das Schloss des Grafen Dracula. Normalität in Transsylvanien oder doch einfach nur „Abgefahren“…?
Das Buch ist definitiv turbulent und zuweilen surreal. Immer im Blick die Hauptfigur, die man durch viele innere Monologe zunehmend kennen und lieben lernt. Viorel wächst langsam an den Herausforderungen der Reise und am Ende über sich selbst hinaus. Ein wunderbares Buch, das vor allem ältere Teenager und junge Erwachsene ansprechen dürfte.
- CSDie neue Sachbuchreihe „Klartext“ ist genau, was unsere Zeit braucht: verständliche Information zu aktuellen Themen der Politik und Gesellschaft. Griffig in jeder Hinsicht: Egal ob als Taschenbuch, e-book oder im smartphone-Format, sofort hat man übersichtlichen Zugriff auf Definitionen, Variationen, Hintergrundwissen, Ressourcen. Auch der Preis greift: Für 6,99 Euro erhält man klare Auskunft, um sich eine eigene Meinung bilden, mitreden und mitgestalten zu können. Bisher sind Bände zu den Themen Fake News, Populismus und Feminismus entstanden, geschrieben von jungen Journalisten, die die Bereiche aus erster Hand kennen. Anja Reumschüssel, Jahrgang 1983, hat Publizistik, Soziologie und Theologie studiert und unter anderem in Israel, Ägypten und den USA gelebt. Ihr Blick auf Extremismus ist dementsprechend sowohl fachlich kompetent als auch authentisch, ihr Stil klar, frisch und engagiert.
In den ersten drei von insgesamt sechs klar strukturierten Kapiteln gibt die Journalistin Einblick in Grundlagen, Definitionen und Geschichte des modernen Extremismus. Kapitel vier fächert politischen Extremismus auf – vom Rechts- zum Linksextremismus, vom Neonazi bis zum Hippie. Im fünften Kapitel geht es um Formen religiösen Extremismus, wobei nicht nur Islamismus, sondern auch radikale Formen von Judentum, Christentum, asiatischen Religionen und Scientology angesprochen werden. Das siebte Kapitel ist praktisch ausgerichtet: Woran erkennt man Extremismus? Welche Maßnahmen werden gegen Extremismus getroffen? Und: „Wie kannst du helfen?“ – gefolgt von Adressen von Beratungsstellen für Angehörige oder Extremisten, die aussteigen möchten. Die meisten Kapitel enden mit einem „Denkanstoss“, der statt kategorisch zu verdammen auf durchaus produktive Impulse hinweist, die im Extremismus eben nur zur extrem geraten sind. Denn ohne radikale Forderungen, die den demokratischen Verfassungsstaat kritisieren, hätten Frauen in Deutschland nie Wahlrecht erhalten oder wären Kinder nicht vor elterlicher Gewalt geschützt. Vorurteile verfestigen, Ängste schüren, darum geht es in dieser Reihe gerade nicht. Stattdessen bietet die Reihe Klartext jungen Menschen und Erwachsenen Orientierung und Mut, sich als Bürger für die eigenen Überzeugungen und das Gemeinwohl einzusetzen.
- NvM Grimm
Die illustrierten Märchen der Brüder Grimm
Wie ein Portfolio einer Illustratoren-Agentur nimmt sich diese Ausgabe der Grimmschen Märchen aus. Und als Vertreter einer frischen Illustratoren-Generation scheint sich der Verlag Kleine Gestalten auch zu verstehen. Denn hier hat er zwanzig jungen Illustratoren die Gelegenheit geboten, ebenso viele Märchen der Brüder Grimm visuell neu zu interpretieren und ihr Können unter Beweis zu stellen. Das Ergebnis ist eine postmoderne Formenvielfalt, die die vertrauten Erzählungen von Rotkäppchen, Hänsel und Gretel, Rumpelstilzchen und Aschenputtel in ungewohntem – teils sehr grellem – Licht erscheinen lässt. Manga-Elemente, virtuell generierter aber folkloristisch inspirierter Scherenschnitt, Art-Deco-Fantasy oder psychedelische Pop-Kompositionen versetzen die Märchen in überraschend neue Fantasielandschaften. Technisch überwiegen computergestützte Ansätze, wobei neben Acrylmalerei auch Feder- und aquarellierte Bleistiftzeichnungen vertreten sind. Die Stile sind so unterschiedlich wie die Herkunftsländer der Illustratoren (v.a. Deutschland, skandinavische Länder und Japan), die am Schluss mit Arbeitsort und Internetadresse aufgelistet werden. Leider wird nirgends erwähnt, um welche der Grimmschen Textfassungen es sich bei der Ausgabe handelt. Auch vermisst man ein Vor- oder Nachwort der Herausgeber, in dem sie das Konzept des Bandes verraten. So blättert man teilweise etwas ratlos durch die kunterbunte Sammlung. Während die durchaus originellen Illustrationen vor allem Jugendliche ansprechen werden, ist die Auswahl der Märchen selbst höchst konventionell. Schade, denn hier hätte zusätzlich die Chance genutzt werden können, nicht nur die Sehgewohnheiten von Märchenfans aufzufrischen, sondern auch die Abgründigkeit der Grimmschen Sammlung aufzuzeigen.
- NvM Heimat
Ein deutsches Familienalbum
Was haben Hansaplast, Leitzordner und Uhu gemeinsam? Sie sind zuverlässig, heilen, ordnen oder geben Halt – und sie gehören zum „Katalog deutscher Dinge“, die Nora Krug, eine „heimatkranke Auswanderin“ in ihrem Notizbuch versammelt. Zieht man das „hartnäckigste Pflaster auf der Welt“ jedoch ab, „um die Narbe zu betrachten, die einem geblieben ist“, fügt sie hinzu, „schmerzt es.“ Und selbst wenn neun Tropfen Uhu genügen, einen Kleintransporter mit einem Kranhaken in die Luft zu heben, so kann „der stärkste Kleber“ der Welt „Bruchstellen nicht verdecken.“ Was die 1977 in Karlsruhe geborene und heute in Brooklyn lebende Künstlerin in diesem Buch wagt, ist ein Versuch einer schmerzvollen Betrachtung der Narben, die die deutsche Geschichte – sprich: Nationalsozialismus und Judenverfolgung – in ihrer Familie hinterlassen hat. Die Form, die sie wählt, ist eine Mischung aus Notizbuch und Foto- oder besser Sammelalbum. So dokumentiert sie ihre persönlichen Kindheitserinnerungen, Befragung der Eltern und Verwandten und spätere Spurensuche durch die Archive, Dörfer und Landschaften und setzt Familienbilder, Zeitungsartikel, Archivdokumente und Flohmarktfundstücke zueinander in Beziehung. Zusammengehalten wird das Ganze durch Krugs künstlerische Gestaltung: Zeichnungen, Collagen oder graphic-novel-artige Bildsequenzen begleiten den in Handlettering gestalteten Text. Die Grundidee, dass Geschichte nicht geglättet wird, sondern ganz bewusst Widerstände, Brüche, Widersprüche sichtbar bleiben, nimmt selbst in der Textur der Seiten Gestalt an: Schreib- oder Rechenheft – vergilbt, verblasst – Ton- und Löschpapier in verschiedenen Farben mit Falten, Rissen oder Brandspuren sind die Träger dieser zusammengetragenen Fund- und Erinnerungsstücke und verleihen Text und Bild zusätzlich Struktur und Tiefe. Ein beeindruckendes, berührendes Werk, das auch dazu anregen kann, sich auf kreativ-kritische Weise mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.
- NvM Als wir das Lügen lernten
Florian, Ilinca
192 Seiten, Karl Rauch Verlag
Nach einem Sommerurlaub am Schwarzen Meer kehrt die Familie der Erzählerin in das Bukarest der späten 80er Jahre zurück. Der triste Alltag im sozialistischen Rumänien lastet auf den Eltern. Während der Vater von einem freien Leben im Westen träumt, verfolgt die Mutter andere Interessen. Die Tochter beschreibt das Geschehen aus Ihrer kindlichen Sicht und verarbeitet dabei mit feinem Gespür die unterschiedlichen Stimmungen in der Familie.
Der Roman ist in einfacher Sprache geschrieben, viele kurze Sätze beschreiben die Lebenswelt der Hauptfigur in großem Detailreichtum. Das ist einerseits für ältere Leser sprachlich nicht besonders ansprechend, für jüngere wahrscheinlich inhaltlich überfrachtet. Die Mangelwirtschaft in Rumänien und deren Auswirkung auf das alltägliche Leben wird sehr anschaulich dargestellt, die allgegenwärtige Überwachung durch die Securitate und das Regime kommt leider etwas zu kurz. So erfährt der Leser kaum warum der Vater so dringend ausreisen möchte und was ihm sein Leben in Bukarest so unerträglich macht. Andere wichtige Themen, wie die Situation der Sinti und Roma, werden nur am Rande angeschnitten und nicht weiter ausgeführt.
"Als wir das Lügen" lernten ist ein nettes, unaufgeregtes Buch über eine Kindheit im Sozialismus. Man wird den Eindruck nicht los, dass es auch mehr hätte sein können; diese Chance wurde aber leider nicht genutzt.
- CS„Gemina“ ist der zweite Band der Illuminae-Reihe des amerikanischen Autorenduos Amie Kaufman und Jay Kristoff.
Die Handlung setzt dort ein, wo „Illuminae“, der erste Band, aufhört: Um zu verhindern, dass die Flüchtlinge aus der Kerenza-Katastrophe, die sich auf dem Transporter Hypatia der Zwischenstation Heimdall nähern, das dortige Wurmloch erreichen und Auskunft über die Kriegsverbrechen der Firma BeiTech geben können, übernimmt ein BeiTech-Terrorkommando unter der Leitung von Kommandeur Travis „Zerberus“ Falk Heimdall und tötet den Kommandanten Charles Donnelly. Ziel der Operation ist es, einem Drohnengeschwader den Weg durch das Wurmloch zu bahnen, das alle Flüchtlinge der Hypatia töten soll. Ebenso ist eine völlige Auslöschung der Heimdall-Besatzung geplant.
Donnellys Tochter Hanna hat sich verspätet und kann dem ersten Angriff entkommen. Gemeinsam mit Niklas Malikow, einem Mitglied der Mafia, und Ella Malikowa, seiner Cousine, lockt sie die Truppe Falks in mehrere Fallen und leistet erbitterten Widerstand. Gleichzeitig muss sie sich damit auseinandersetzen, dass ihr Freund sich als Verräter entpuppt. Ebenso gerät die Züchtung von sogenannten Lanima, Halluzinogen-produzierenden, wurmartigen Lebewesen außer Kontrolle. Die hochaggressiven Parasiten bedrohen sowohl Freund als auch Feind im immer mehr außer Kontrolle geratenden Kampf der Jugendlichen mit dem übermächtigen Gegner. Zu allem Unglück gerät auch noch das Wurmloch außer Kontrolle und es entsteht eine Gemina, eine Zwillingswirklichkeit, welche die Auslöschung des gesamten Universums zur Folge haben könnte…
Wie auch schon im ersten Band stellt der Roman eine Zusammenstellung von Chat-Protokollen und Abschriften von Überwachungsvideos dar. Zusätzlich noch enthält er Zeichnungen aus Hanna Donnellys Tagebuch, die aufgrund eines immer größer werdenden Blutflecks schon eine Ahnung davon geben, welche Katastrophen sich am Ende der Handlung anbahnen. Als Rahmenhandlung dient das Gerichtsverhör von Leanne Frobisher von der Geschäftsleitung der BeiTech Industries, in den sich zum Schluss Hanna Donnelly einschaltet, obwohl sie eigentlich aufgrund des Ausgangs von „Gemina“ dafür nicht in der Lage sein dürfte. Ein großartiger Cliffhanger, der den dritten Teil der „Illuminae“-Trilogie mit Spannung erwarten lässt.
Ein atemloser Thriller, der das Erfolgsrezept des ersten Bandes fortschreibt.
Grandios.
- MD Schildkrötenwege
oder Wie ich beschloss, alles anders zu machen
Nanette spielt erfolgreich im Highschool Team Fußball und ist auch sonst ein normaler Teenager. Vielleicht sogar zu normal, da sie den Unsinn Ihrer Teamkameradinnen nicht mitmachen will. Im Gegensatz zu ihnen kreist Nanettes Alltag nicht nur um Partys, Alkohol und Jungen. Nachdem ihr ein Lehrer das Buch „der Kaugummikiller“ gibt, hat das gravierende Auswirkungen auf ihr Leben. Die Lektüre bestärkt ihren Wunsch nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Als sie dann auch noch den Autor und andere Fans des Buches kennenlernt, verändert sich endgültig alles. Sie muss schnell erkennen, dass die Gesellschaft mit unangepassten Jugendlichen nicht gut zurecht kommt.
Obwohl die Prämisse des Buches interessant ist, ist die Umsetzung leider nicht ganz gelungen. Die Charaktere bleiben blutleer und als Leser fühlt man nicht wirklich mit Ihnen, obwohl sie im Verlauf des Buches einiges durchmachen. Die Handlung ist etwas langatmig und das Thema wird mehrmals in unterschiedlichen Variationen durchdekliniert. Alles in Allem ein wenig aufregender Roman über das Erwachsenwerden.
- CSJeth stiehlt mit seiner Bande für einen berüchtigten Gangsterboss Raumschiffe. Sein neuer Auftrag führt ihn genau in jenen gefürchteten Teil des Weltalls, der schon seinen Eltern zum Verhängnis wurde. Im Belgrave geschehen seltsame Dinge, Raumschiffe kommen vom Kurs ab und kehren nie wieder. Ausgerechnet hier sollen sie ein verschollenes Raumschiff bergen, das angeblich eine mächtige Waffe an Bord trägt. Als Belohnung winkt das Raumschiff seiner Eltern, die Avalon, und so zögert Jeth nicht. Wie zu erwarten läuft nicht alles glatt und Jeth steht bald vor existentiellen Entscheidungen, die nicht nur sein eigenes Leben betreffen, sondern auch das seiner Crew.
Die einzelnen Elemente des Romans, abgesehen von der jugendlichen Besetzung, sind nicht wirklich neu. Wer beispielsweise die TV-Serie „Firefly“ kennt, weiß bereits ziemlich genau, worauf es hinauslaufen wird. Dennoch wird die zum Teil relativ brutale Story spannend und flüssig erzählt. Eine Geschichte über Verantwortung, Entscheidungen und die große Grauzone zwischen Gut und Böse, Verrat und Loyalität. Das Buch ist eine Weltraumoper für junge Leser, die sicher auch Älteren Spaß macht.
- CS Das Jahr, in dem ich Lügen lernte
übersetzt von Birgitt Kollmann
Die unbeschwerte Welt der 11 jährigen Farmerstochter Annabell wird erschüttert, als das neues Mädchen Betty in ihre Klasse kommt. Zum ersten Mal muss sie sich mit Anfeindungen, Drohungen und Gewalt auseinandersetzten, bis hin zur Erpressung. Eines Tages wird Annabells Schulfreundin Ruth durch einen heimtückischen Steinwurf verletzt und verliert dadurch ein Auge. Die Frage, wer den Stein geworfen hat rückt in den Mittelpunkt. Während Annabell überzeugt ist, dass Betty und ihr Freund Andy hinter dem Anschlag stecken, sprechen die Vorurteile der Erwachsenen für den eigenbrötlerischen Weltkriegsveteran Toby als Täter. Nach und nach überschlagen sich die Ereignisse und Annabell muss sich entscheiden, wem sie glaubt, wem sie sich anvertraut und was richtig und falsch ist.
Der Roman ist am Anfang langsam und gefühlvoll erzählt, nimmt dann Tempo auf und wird zunehmend spannender. Annabell lässt ihre Kindheit hinter sich, steht zu ihren Überzeugungen und verhält sich reifer als viele Erwachsene. Mut machen ihr dabei ihre Eltern, die immer hinter ihr stehen. Lauren Wolk behandelt die Themen Erwachsenwerden, Vorurteile, Aufstehen gegen Widerstände und die Erkenntnis, dass die Welt nicht immer unbeschwert und schön sein kann in einer packenden Geschichte.
Ein sehr schöner Roman, der in Teilen an Harper Lees ikonisches Werk „To kill a Mockingbird“ erinnert. Zu Recht für den dt. Jugendliteraturpreis nominiert und absolut empfehlenswert.
- CS Broken Lands
übersetzt von Alexandra Ernst
Der Roman spielt im New York des späten 19. Jahrhunderts. Das Land ist noch immer durch die Auswirkungen des Bürgerkriegs gespalten und ein Funke würde genügen um die Spannungen dieser explosiven Mischung hochgehen zu lassen. Das sind die Bilder, mit denen in Broken Lands gespielt wird. Da ist einerseits die Brooklyn Bridge, die, nach ihrer Fertigstellung, die Städte Brooklyn und New York verbinden soll. Andererseits, ist die junge Feuerwerkerin Jin der Funken, der das Land retten, oder auch in die Katastrophe führen könnte. Das Buch beginnt in Coney Island, der vorgelagerten Halbinsel, die die New Yorker als Vergnügungspark nutzen. Der junge Kartenspieler Sam verdient sich hier mit kleinen Betrügereien seinen Lebensunterhalt. Als er eines Tages in einem Fremden seinen Meister findet, wird er von seinem Stammplatz vertrieben. In der Folge ereignen sich immer mehr seltsame, blutige und zum Teil auch magische Dinge. Die beiden unheimlichen Wanderer „Bones“ und „Walker“ tauchen auf und versuchen die Stadt für ihren Meister Jack in Besitz zu nehmen. Dazu bedienen sie sich Dämonen, die für sie die 5 Wächter der Stadt finden sollen, die es zu beseitigen gilt. Sam, der sich in der Zwischenzeit in das chinesische Mädchen Jin verliebt hat, die mit einer fahrenden Truppe von Feuerwerkern umherzieht, muss plötzlich erkennen, dass nur sie beide die Stadt vor dem Untergang bewahren können. Wem diese Beschreibung etwas verwirrend vorkommt, bekommt einen kleinen Vorgeschmack auf das Buch. Es werden viele magische Elemente verwendet, deren Beschreibung leider oft unvollständig bleibt. So gut das Buch stellenweise geschrieben ist, so zäh fließt die Handlung manchmal dahin, da viele Dinge unscharf bleiben, schwer zugänglich sind und somit beim Leser das unbefriedigende Gefühl zurückbleibt, die Hintergründe nicht ganz verstanden zu haben. Woher kommen die Wanderer, was machen die Wächter eigentlich und was ist ein Headcutter? Viele Fragen bleiben am Ende unbeantwortet. Was in diesem Fantasy-Roman für Teenager sehr gut funktioniert ist die Verbindung von Magie mit historischen Elementen, wie dem amerikanischen Bürgerkrieg. Etwas prägnanter geschrieben und hier und da ein wenig gekürzt wäre das Buch meiner Meinung nach allerdings deutlich besser gelungen.
- CS Ocean City - Jede Sekunde zählt
Teil 1
Ocean City ist eine schwimmende Stadt mit über 15 Mio Einwohnern. In einer postapokalyptischen Welt hat sich das Leben hauptsächlich auf das Meer verlagert. Die Stadt produziert alles selbst, einschließlich Nahrungsmittel, die z.B. aus Algen synthetisiert werden. Durch Plastikfischerei werden die benötigten Rohstoffe gewonnen und recycelt. Geld wurde als Zahlungsmittel abgeschafft und durch Zeit ersetzt. Alle Bürger tragen Transponder, die Ihr persönliches Zeitkonto jederzeit abrufbar machen. Hier beginnen sich auch die ersten Risse in der so scheinbar heilen Welt von Ocean City zu zeigen. Das Leben ist streng reglementiert und hauptsächlich auf die Arbeit am Gemeinwohl ausgerichtet. Freizeit ist Mangelware und Zeitverschwendung fast schon eine „Sünde“ an der Allgemeinheit. Die Geschichte entwickelt sich um Jackson und seine besten Freunde Crockie und Henk, drei Eliteschüler, die sich mit den bestehenden Zuständen nicht abfinden wollen. Der unangepasste Crockie tüftelt an einem Transponder, der es ihm erlaubt illegale Zeitbuchungen durchzuführen. Natürlich bekommt die alles überwachende Obrigkeit von der Sache Wind und Jackson und Crockie bekommen ernsthafte Probleme. Bei einer Polizeiaktion gerät die Situation außer Kontrolle, Crockie fällt angeschossen ins Wasser und verschwindet. Jackson und Henk versuchen mit allen Mitteln, ihre Verbindung zu Crockies Machenschaften zu vertuschen um sich und ihre Familien vor der Verbannung aus Ocean City zu bewahren. Aber es stellt sich bald heraus, dass die beiden Jugendlichen nicht allein sind in ihrem Widerstandskampf. Können Sie das System unterwandern und den Menschen in Ocean City die Zeit zurückgeben, die ihnen von der Regierung genommen wird? Eine spannende Jagd auf Leben und Tod beginnt… Dieses erste Buch, der als Trilogie angelegten Reihe, gibt Einblicke in die Funktionsweise von Ocean City und den Alltag der Menschen. Vieles wird eingeführt und erklärt und die wichtigsten Charaktere werden behutsam entwickelt. Das dies nicht langweilig wird, liegt an dem interessanten gesellschaftspolitischen Setup der schwimmenden Stadt. Viele der Konzepte bleiben allerdings noch etwas unscharf bzw. werden nur angeschnitten. Hier bleibt noch viel Raum für die weiteren Bände, z.B. wie es zu der Entwicklung von Ocean City kam, was eigentlich auf den Kontinenten passiert ist und wie sich die Lage dort aktuell präsentiert. Was das Buch für junge Leser sicher auch attraktiv macht, ist die Tatsache, dass viele tagesaktuelle Themen wie Recycling, oder Meeresverschmutzung durch Plastik in die Handlung einfließen, ohne dabei den moralischen Zeigefinger zu heben. Leider endet Teil eins mitten in der Handlung, was aber durchaus Lust auf Teil zwei (und den, noch nicht erschienenen, Band drei) macht.
Johnny Delgado - Im freien Fall
Reihe "Shorts"
Johnny Delgado, 15-jähriger, selbsternannter Privatdetektiv in einer Londoner Hochhaussiedlung wird gleich bei seinem ersten Fall in eine Sache verwickelt, die größer ist, als der Auftrag zu Anfang vermuten lässt. Dabei soll er doch nur einen vermeintlich untreuen Freund beschatten. Dass dieser der Kopf einer örtlichen Gang ist, die nach der Vormacht im örtlichen Bandenstreit strebt, macht die Sache nicht einfacher.
Einfach geschrieben, kurz, knackig und vom ersten Kapitel an spannend. Alles was eine gute Urlaubslektüre für einen Tag am Strand haben muss. Aber auch nicht mehr. Ein Buch das sich leicht und schnell lesen lässt, ohne allzu große Emotionen zu wecken. Das offene Ende, das der Hauptfigur noch eine Aufgabe für weiter Bände mit auf den Weg gibt, weist bereits darauf hin, dass Johnnys Karriere nach diesem ersten Fall noch nicht zu Ende ist.
- CS The Hate U Give
übersetzt von von Henriette Zeltner
Die Jugendliche Starr führt eigentlich zwei Leben: eines in Garden Heights, dem von Gangs regierten schwarzen Viertel der Stadt, wo sie mit ihrer Familie lebt, andererseits in ihrer Schule, einer Privatschule, die fast ausschließlich von Weißen besucht wird und wo sie mit ihrem weißen Freund Chris zusammen sein kann. Sie ist eher schüchtern und geht Konfrontationen aus dem Weg, selbst als sie mit rassistischen Kommentaren ihrer Mitschüler oder ihrer Familie konfrontiert wird.
Das labile Gleichgewicht ihres Lebens gerät völlig außer Kontrolle, als ihr Freund Khalil bei einer Polizeikontrolle vor ihren Augen von einem Polizisten erschossen wird. Der Roman zeichnet nun minutiös die Entwicklung der introvertierten Starr zu einer mutigen Kämpferin für die Bürgerrechte der schwarzen Bevölkerung nach: Zunächst hält sie sich bedeckt und leidet still, als die Presse Khalil als Drogendealer und Gangmitglied präsentiert und damit seine Ermordung quasi rechtfertigt. Nach und nach beginnt sie sich jedoch auch in ihrem Leben gegen den Alltagsrassismus ihrer Freunde und ihrer Familie zu wehren und entschließt sich nach langem Zögern, einer Journalistin ein anonymes Interview zu geben und vor Gericht für Khalil auszusagen. Trotz ihrer Zeugenaussage wird der Polizist freigesprochen und es kommt zu mehreren Demonstrationen in Garden Heights, an deren Spitze Starr für ihre Sache eintritt.
„The Hate U Give“ wurde 2018 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet (Kategorie Preis der Jugendjury). Besonders hervorgehoben wird in der Jurybegründung, dass Starr als Vorbild für Jugendliche dienen könnte, ihre eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Tatsächlich wird die Protagonistin des Romans zunächst als normale Jugendliche charakterisiert, was eine Identifikation erleichtert. Auch die Tatsache, dass die gesamte Handlung ausschließlich aus ihrer Perspektive wiedergegeben wird und der Leser sehr viel Einblick in ihre Wünsche, Ängste und Sorgen erhält, stützt diese These.
Sprachlich ist aber auffällig, dass der gesamte Roman mit Anglizismen durchsetzt und an den Jugendslang angelehnt ist. Dies wirkt – möglicherweise durch die Übersetzung ins Deutsche – zuweilen aufgesetzt und unecht. Das Glossar am Ende erklärt wiederum einige Abkürzungen und inhaltliche Zusammenhänge, die sich nicht ohne Weiteres dem deutschsprachigen Publikum erschließen würden.
Ein wichtiges Buch mit einer klaren Mission, das jedoch sprachlich nicht überzeugen kann.
- MD Illuminae – Die Illuminae Akten_01
übersetzt von Katharina Orgaß und Gerald Jung
29. Januar 2576: Die mysteriöse Illuminae-Gruppe hat in einem Dossier sämtliche Informationen über den Überfall der Firma BeiTech auf das illegale Bergwerk auf dem Planeten Kerenza und seine Folgewirkungen zusammengestellt und diese der Geschäftsleitung übermittelt. Dieses Dossier bildet auf den nächsten 600 Seiten den Hauptteil der dokumentarischen Dystopie „Die Illuminae Akten_01“, die sich rund um das Paar Kady Grant und Ezra Mason entspinnt, das sich ausgerechnet den Tag des Angriffs auf Kerenza ausgesucht hat, um Schluss zu machen, den 30. Jänner 2575.
Auf der Flucht vor dem BeiTech-Zerstörer „Lincoln“ werden sie getrennt, gelangen auf die beiden Raumschiffe „Alexander“ und „Hypatia“ und können nur mehr digital miteinander kommunizieren. Dann eliminiert die künstliche Intelligenz des Schlachtschiffes Alexander, AIDAN, den verbündeten Raumtransporter „Copernicus“ mit einigen tausend Flüchtlingen von Karenza und Kady versucht nun mit ihren Hacker-Kenntnissen herauszufinden, was AIDAN dazu bewogen hat, diesen Massenmord zu veranlassen.
Ein spannender Wettlauf mit der Zeit beginnt, der sich nicht nur zwischen der scheinbar verrückt gewordenen künstlichen Intelligenz und Kady abspielt, sondern auch zwischen der fliehenden Alexander-Flotte und der inzwischen wiederhergestellten „Lincoln“, die sie verfolgt. Zu allem Überfluss sind einige der Flüchtlinge mit einem Virus identifiziert, der sie den Verstand verlieren lässt und sie zu Tötungsmaschinen macht. Schließlich muss Kady eine folgenschwere Entscheidung treffen…
Der äußerst packende Roman besteht ausschließlich aus Verhörprotokollen, E-Mails, Chat-Mitschriften, Tonübertragungen und Aufnahmen von Überwachungskameras, aus Plänen, schematischen Darstellungen und Sprachbildern sowie aus dem unaufhörlichen Monolog der künstlichen Intelligenz AIDAN. Diese zeichnen im Rückblick die näheren Umstände der Katastrophe von Karenza und deren Folgewirkungen auf und erschaffen ein beklemmendes Kaleidoskop von Krieg und Heldenmut, Wahnsinn und Liebe.
Der erste Band der Illuminae-Trilogie (zweite Band „Gemina – Die Illuminae Akten_02“, 2018) besticht einerseits durch seine unkonventionelle Form, die vorgefasste Lesererwartungen permanent durchkreuzt, andererseits durch unvorhersehbare Plot-Twists und eine sehr detaillierte Figurenzeichnung der beiden Helden.
Sicher eines der spannendsten Science-Fiction-Abenteuer der letzten 15 Jahre.
- MD Der Junge auf dem Berg
Boyne, John
300 Seiten, Fischer
Pierre lebt mit seiner französischen Mutter und seinem deutschen Vater in Paris. Sein Vater ist seelisch gebrochen aus dem ersten Weltkrieg zurückgekehrt und die Mutter trennt sich letztendlich von ihm. Sein bester Freund ist ein tauber jüdischer Junge, der im selben Haus wohnt. Pierre ist gerade sieben Jahre alt, als seine Mutter an Tuberkulose stirbt. Nach kurzer Zeit in einem Waisenheim holt ihn seine Tante väterlicherseits zu sich nach Deutschland auf einen einsamen Berghof, auf dem sie als Hauswirtschafterin arbeitet. Schon bald wird Pierre, der jetzt nur noch Peter heißen darf, klar, dass der Hausherr Adolf Hitler ist. Schnell ist er fasziniert von dessen Auftreten und von seiner Aufmerksam ihm gegenüber. Pierre, der immer nur einstecken musste, entdeckt die Lust an der Macht und folgt Hitler bald blind. So blind, dass er sogar Verrat begeht an denen, die für ihn da waren.
John Boyne erschafft einen Protagonisten, der mit noch nicht vier Jahren mit seinem gleichaltrigen Freund eine eigene Gebärdensprache entwickelt und Geschichten schreibt. Mit sieben bietet er – der Kleingebliebene- einem älteren mitreisenden Juden an, ihm den Koffer “nach oben zu stellen“ und mit elf hat er „Mein Kampf“ mehrfach gelesen und fachlich mit Hitler diskutiert. Diese Diskrepanz zwischen Alter und Fähigkeiten hat mich von der ersten Seite an irritiert und die Geschichte für mich unglaubwürdig werden lassen.
Die Idee mit einfachen Worten ein Jugendbuch zu schreiben, dass erahnen lässt, wie scheinbar leicht Machtgefühle den Menschen korrumpieren können, ist an sich gut und beachtenswert. Mir aber ist die Geschichte zu oberflächlich, zu banal geblieben. Und die Irritationen haben mich nicht mehr losgelassen. Eine gute Idee allein reicht mir nicht, um eine klare Leseempfehlung auszusprechen.
- KW Boy in a white room
Olsberg, Karl
282 Seiten, Loewe
Manuel erwacht in einem völlig weißen Raum. Eine Computerstimme begrüßt ihn, die Alice heißt, recht nah an „Alexa“, dem Sprachprogramm von Amazon. Doch ist hier die Zukunft bereits weiter fortgeschritten:
Nach und nach erfährt Manuel, dass er in Wirklichkeit in einer Klinik im Koma liegt, sein Hirn ist durch unzählige Operationen komplett verkabelt und nur durch die Blutversorgung mit dem Körper verbunden. Ein virtueller Körper wird von Manuels Geist gesteuert, seine Worte werden von einer Computerstimme ausgesprochen. Das ist im Zeitalter von Computersimulationen und virtuellen Realitäten gar nicht mehr so weit weg vom Machbaren. Manuel ist auf der Suche nach seiner Erinnerung, nach Gefühlen und nach nichts Geringerem als dem Sinn des Lebens. So muss er sich ständig zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Fake und Fakt entscheiden- ist sein vermeintlich wohlmeinender Vater tatsächlich sein biologischer Vater oder nur der Erfinder einer komplexen Computer-Simulation? Durch das fehlende Korrektiv seiner Erinnerung ist Manuel oft am Rand der Verzweiflung. Die Frage nach der Definition von Menschlich-keit muss unter ethischen Gesichtspunkten neu gestellt werden und tritt so in den Mittelpunkt diese spannenden Romans. Eine Einladung an Jugendliche und Erwachsene, sich heute schon damit auseinander zu setzen.
- JPS Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß
Präkel, Manja
232 Seiten, Verbrecher Verlag
Mimi und Oliver wachsen als Nachbarskinder in einer kleinen Havelstadt in der DDR auf und verbringen viel Freizeit miteinander. Vieles fühlt sich für die junge Mimi nicht stimmig an und sie wundert sich, dass es scheinbar sonst niemand bemerkt. Dann überschlagen sich die Ereignisse und die Mauer fällt. Plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Regeln, die immer galten, sind aufgehoben, Arbeitsplätze, die selbstverständlich waren, fallen weg. Qualifikationen, die man einst erworben hatte, sind nichts mehr wert und die Arbeitslosigkeit steigt ins Unermessliche. Was die Älteren in Resignation und Krankheit stürzt, äußert sich bei den Jüngeren in Verweigerung und Wut.
Mimi muss erleben, wie sich immer mehr ihrer ehemaligen Freunde der rechten Szene zuwenden und ihre Bestätigung daraus zu ziehen scheinen, dass sie Angst und Schrecken verbreiten. Oliver nimmt dabei eine besondere Rolle ein und nennt sich fürderhin „Hitler“. Vergessen die Zeit, in der man gemeinsam auf den Partys der Eltern Schnapskirschen geklaut hat.
Die Älteren haben genug mit sich selbst zu tun in diesen veränderten Zeiten und wollen die Probleme nicht erkennen.
Aus Einschüchterung folgt bald konkrete Gewalt mit fatalen Folgen.
Für den aus den alten Bundesländern, dem bisher bei Mauerfall und der Wiedervereinigung im Wesentlichen der Solidaritätszuschlag eingefallen ist, ist dieses Buch eine Offenbarung. Zeigt es doch aus der Sicht der jungen Protagonistin eindrucksvoll auf, wie es sich angefühlt haben mag, wenn von heute auf morgen nichts mehr richtig ist, was immer richtig sein musste. Und das, ohne dass an die leere Stelle etwas anderes als Konsumgüter getreten wären, die aufgrund von Arbeitslosigkeit zudem unerreicht bleiben müssen. Niemand und nichts gibt Erklärung und Halt in diesen ersten Übergangszeiten. Das ist der Stoff, aus dem Radikalität entsteht, und genau das ist ja auch geschehen. Toll geschrieben und zu Recht nominiert für den Jugendliteraturpreis.
- KW Pferd Pferd Tiger Tiger
übersetzt von Friederike Buchinger
Die 15-jährige Ich-Erzählerin Honey ist Meisterin im „reinpassen“. So nennt sie ihre hochentwickelten Kompetenzen in Anpassung und „nicht-auffallen“. Sie ist so gut auf diesem Gebiet, dass sie sich öfter mal mitziehen lässt, in Situationen, in denen sie einfach keine Kraft hat zu widersprechen. So steigt sie in Busse ein, weil der Busfahrer auf sie gewartet hat, oder sie schlüpft schnell in die Rolle einer Karen oder einer Maya, weil Karen oder Maya erwartet wurden. Als Karen nimmt sie zufällig an einem Chinesisch-Kurs teil, bei dem sie „mama huhu“ lernt, was übersetzt Pferd Pferd Tiger Tiger heißt, und bedeutet, dass etwas nicht richtig gut ist, aber auch schlimmer hätte sein können. Als Maya lernt sie Marcel kennen, einen krebskranken Mann in einem Hospiz, der fortan von Honey besucht wird.
Honeys Kernfamilie besteht aus ihrer ketterauchenden Mutter und der älteren und geistig behinderten Schwester Mikala. Honeys Vater, denn sie alle 14 Tage besucht, pumpt seine Tochter immer wieder erfolgreich um Geld an, obwohl ihre finanzielle Situation alles andere als entspannt ist. Daher darf die Mutter davon auch nichts erfahren. Honey macht für ihre Schwester täglich das Abendessen und ist auch sonst in die täglichen Familien-Abläufe eingebunden. Doch sie beschwert sich nicht. Erst als Philip, ihr seit Jahren angehimmelter Klassenkamerad, Honey ausdrücklich zu seiner Party einlädt, beginnt Honey, ihre eigenen Interessen wahr zu nehmen. Mit ihrem aufrichtigen und mitfühlenden Wesen berührt Honey den Leser macht die Lektüre des Buches zu einem Gewinn für Jugendliche und Erwachsene.
- JPS Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß
Präkel, Manja
232 Seiten, Verbrecher Verlag
„So ruhig die Havel durch den Ort plätscherte, so unheimlich erschienen mir die Kulissen meiner Kindheit…“ Manja Präkels schaut in ihrem Roman zurück auf die Zeit um die Wende, die Zeit in Deutschland um 1989. Der Ort ist eine „Havelstadt“, die nicht genauer benannt wird, und die viele Orte in Brandenburg sein könnten. In Interviews u.a. in der Süddeutschen Zeitung stellt die Autorin Zusammenhänge zwischen dem Romangeschehen und ihrer Kindheit und Jugend in Zehdenick her.
Der Roman beginnt vor 1989, an einem der vielen Geburtstagsfeste, an denen sich die Eltern berauschten und die Kinder heimlich im Kinderzimmer oder unter dem Couchtisch Schnapskirschen aßen und Karten spielten. Die von Präkels beschworene Vertrautheit zwischen den Nachbarskindern, die einfach dadurch entstand, dass man „die Zeit vergehen“ ließ und sich durch die selbstverständliche Nähe vertraut war, wird durch die radikale Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Ordnungen, wird mit dem Ende der DDR auf die Probe gestellt. Von einem Tag auf den anderen verlieren Menschen Arbeits- und Ausbildungsplätze, es verschieben sich Bedeutung(en) und Sinn. Nicht nur die Brandenburger sahen sich mit der Eroberungsmentalität der Bundesbürger konfrontiert: „Alle spürten; dass sie nicht hineinpassen würden, selbst wenn einer der großen Pläne für Windkraftanlagen, Luxushotels oder Golfplätze realisiert werden sollte.“
Ein Vakuum entsteht, eine Orientierungslosigkeit, die zu Krankheiten, Alkoholismus, Essstörungen, tödlichen Autorennen und Rechtsradikalismus führt bzw. bereits vorher vorhandene Ressentiments verstärkt. Manja Präkels erzählt davon nicht abstrakt, sondern durch die Beziehungen ihrer Protagonisten. Dadurch, dass man sich kennt, wird alles komplizierter, verfahren, bieten sich aber auch Anknüpfungspunkte.
Den Rahmen der oft kurzen und sehr präzise erzählten Szenen bildet die Beziehung der Ich-Erzählerin zu dem Nachbarjungen Oliver. Der, mit dem Mimi umgeben von den kleineren Brüdern Adolar und Dirkie zusammen Schnapskirschen aß. Oliver nennt sich irgendwann Hitler und wird zu einem der Anführer der lokalen Neonazi-Organisationen; für Mimi und ihre Freunde wird er zum Feind. Jahrelang agiert er im Hintergrund und es kommt zu keiner direkten Begegnung. In der Zeit ist auch Mimi orientierungslos, versucht einen Neufang in Berlin-Marzahn und arbeitet schließlich in der Redaktion einer lokalen Zeitung in der Nähe ihrer Geburtsstadt. Über ihre Recherchen stellt sie fest, dass der Raum der Neonazis größer und größer wird, durch die Angst, die sie verbreiten, die Ohnmacht der Polizei und dadurch, dass keiner die Entwicklung hinterfragt. Ein Artikel der Protagonistin über Hintergründe und Netzwerke rund um die Gewalttaten der Neonazis wird von der Redaktionsleitung abgelehnt.
Der Roman ist sehr persönlich, politisch und bewegend, durch das was passiert ist und bis heute passiert. Nicht wenige Menschen fanden durch Neonazis oder die Folgen von deren Handeln den Tod, einem hat Maja Präkels ihr Buch gewidmet. Fast 20% wählten in der Region die AfD. Es bleibt ein Ort der Idylle, in dem Touristen auf der Suche nach Romantik verzückt halt machen als auch ein Ort der Perspektivlosigkeit und Gewalt gegenüber Nicht-Einheimischen, Geflüchteten und Menschen anderer Hautfarben oder Haltungen.
Manja Präkels erhielt für ihren Roman das Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium 2018 und wurde in der Sparte Jugendbuch für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
- KE Das Böse kommt auf leisen Sohlen
übersetzt von Norbert Wölfl
Am 24. Oktober um 3 Uhr morgens trifft ein geheimnisvoller Zirkus in Green Town, Illinois, ein, wo die beiden dreizehnjährigen Freunde Jim Nightshade und Will Halloway Tür an Tür leben. Fasziniert von den Verheißungen der Werbeplakate begeben sie sich zur Jahrmarktswiese und beobachten, zunächst noch mit wohliger Gänsehaut, Bemerkenswertes: den Zirkusdirektor Mr. Dark, der auf seiner Haut geheimnisvolle, scheinbar lebende Tätowierungen zur Schau stellt, ein rätselhaftes Spiegelkabinett, eigenartige verkrüppelte Monster wie ein wandelndes Skelett oder eine Wetterhexe sowie ein Karussell, das rückwärtsfahrend jünger und vorwärtsfahrend älter machen soll.
Schnell gerät die Situation außer Kontrolle und die beiden Jungen finden sich in einem atemlosen Kampf gegen das Böse wieder, das sich leise in ihren Alltag geschlichen hat und sie für immer für den Zirkus rekrutieren möchte. Besonders Jim, der davon träumt, älter zu sein, ist für die honigsüßen Verheißungen Mr. Darks und seines Karussells offen, sodass Will und sein Vater Charles alles dafür tun müssen, um ihn zu retten. Zum Schluss bleibt ihnen als einzige Waffe nur mehr ihre eigene Lebensfreude übrig.
Der Fantasy-Klassiker aus dem Jahr 1962 (auf Deutsch 1969 im Schröder-Verlag erschienen), der mit seiner Stimmung und seinen Motiven zahllose Autoren nach ihm inspiriert hat – nicht zuletzt Stephen King oder Joanne Rowling – wurde 2017 kongenial von Reinhard Kleist illustriert: die 21 großformatigen Darstellungen und 55 Miniaturen, alle in Schwarz-Weiß gehalten, fangen das Grauen, das von Ray Bradbury beschrieben wird, eindrucksvoll ein, besonders in den Bildern von Mr. Dark und seinen Kreaturen.
Ein philosophischer Roman voller Sprachwitz und Weisheit über die Freundschaft zweier Jungen, über das Erwachsenwerden und über den Kampf des Guten gegen das Böse.
Lesens- und sehenswert.
- MD Mehr schwarz als lila
Gorelik, Lena
256 Seiten, Rowohlt
Familie, das sind für die 17-jährige Alex ihr Vater, der nach dem überraschenden Tod der Mutter vor 10 Jahren, versucht ein intaktes gemeinsames Leben hinzubekommen und der Papagei Astrid. Und dann sind da noch Ratte und Paul. Das unzertrennliche Dreiergespann übersteht zusammen die Schulzeit mit all ihren großen und kleinen Katastrophen. Das könnte natürlich ewig so weiter gehen, mit all den gemeinsam geschaffenen Ritualen, mit selbst erdachten Spielen, die oft übers Maß hinaus schießen, aber die bedrohliche Welt außen vor lassen.
Doch dann kommt der Referendar Johnny in die Klasse und aus dem Dreiergespann wird ein Quartett. Die Karten werden neu gemischt, denn Alex verliebt sich in Johnny, Ratte sich in ein anderes Mädchen und Paul muss mit ansehen, wie seine geheime Liebe zu Alex bedroht wird.
Eine Klassenfahrt nach Auschwitz wird zur Feuerprobe im Beziehungsgeflecht. Ein Kuss vor unpassender Kulisse, gepostet in den sozialen Netzwerken – und plötzlich mischt sich die ganze Welt ein, werden Fragen gestellt nach dem richtigen oder falschen Gebrauch von Erinnerungskulturen. Und die selbst geschaffene Welt gerät gehörig ins Wanken..
Das Buch erzählt aus der Perspektive von Alex, in einer sehr kurzen, knappen, ja sezierenden Sprache. Es verlangt allerdings genaues Lesen, um zu wissen, von wem da gerade die Rede ist.
Auch als erwachsener Leser wird man jedoch in das sich immer schneller drehende Beziehungskarussell hinein gezogen und ahnt schon: das wird nicht wirklich gut ausgehen. Das Buch bietet jede Menge Diskussionsanlässe und ist somit der ideale Titel für einen Jugendleseclub.
- KS Bis die Sterne zittern
Herwig, Johannes
256 Seiten, Gerstenberg
Was in demokratischen Zeiten wie eine ganz normale Jugendclique scheint, wird in einer Diktatur zur verfolgten Meute. Die Rede ist von Jugendbanden im Raum Leipzig, die sich Namen wie „Reeperbahn“ oder „Lille“ gaben und die sich in der Tradition der Arbeiterjugendorganisationen als Bündische Jugend sahen. Sie wurden von den Nationalsozialisten ab 1937/38 als Leipziger Meuten unerbittlich verfolgt und schließlich in Gefängnisse und Erziehungsanstalten verbannt.
Der Leipziger Autor Johannes Herwig setzt ihnen mit seinem Jugendroman „Bis die Sterne zittern“ ein Denkmal. Mit dem sechzehnjährigen Harro, der sich erst spät den Meuten anschließt, hat er einen Protagonisten geschaffen, der sehr deutlich macht, dass es zunächst einmal nicht um gezielten Widerstand ging, sondern um das Aufrechterhalten der eigenen Lebensweise. Die Jugendlichen damals wollten genau wie ihre Altersgenossen heute ihre eigenen Klamotten tragen, sich treffen, ihre Meinung sagen und so feiern, lieben und leben wie es ihnen gefällt. Genau dieses ganz normale jugendliche Lebensgefühl zwischen Freiheitsliebe und Aufbegehren gegen die Elterngeneration führte unter der Diktatur Hitlers zu Verfolgung, Folter und Gefängnis.
Im Roman geht es um die erste Liebe, Freundschaft, Provokationen in der Öffentlichkeit, gemeinsame Radtouren, Treffen auf Jahrmarktsfesten und Konflikten mit den Eltern. Johannes Herwig erzählt in seinem Debüt aus der Ich-Perspektive des Jugendlichen. In oft knappen Sätzen schafft er eine saloppe, bildreiche universale Jugendsprache, mit der er sowohl die historische Situation einfängt als auch das Lebensgefühl Jugendlicher in verschiedenen Generationen spiegelt. Harro hat mit mittelmäßigen Zensuren die neunte Klasse abgeschlossen, statt zu den Büchern drängt es ihn auf die Straße. Dort trifft er auf eine Clique, zu der er sich sofort hingezogen fühlt. Der 1936 bereits öffentlich und demonstrativ aufmarschierenden Hitlerjugend versucht er auszuweichen. Doch da er die Fahne nicht grüßen will, kommt es zum Konflikt. Eine Bande Jugendlicher haut ihn raus und er schließt sich ihnen an. Im Kohlenhändlersohn Heinrich findet er einen aufrichtigen, mutigen Freund und in Käthe verliebt er sich über beide Ohren. Dass die Geschichte historisch verortet ist und gleichzeitig vom Gefühlsleben auch heutiger Jugendlicher erzählt, schafft eine Nähe zu jungen Leser*innen. Allen, auch den älteren Leser*innen, stellt sie die Frage nach Voraussetzungen einer offenen und toleranten Gesellschaft. Die Jugendjury hat dieses Buch neben fünf anderen Titel für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
- KE Nichts ist gut ohne Dich
Coplin,Lea
351 Seiten, dtv
Jana ist erschüttert. Da taucht doch plötzlich nach 6 Jahren Leander in der Buchhandlung auf, in der sie seit dem Tod ihres Bruders Tim jobbt. Leander, der für den tödlichen Unfall verantwortlich ist und der seitdem von der Bildfläche verschwunden war. Jana ist über das Gefühlschaos beunruhigt, das er in ihr auslöst. Neben Hassgefühlen keimt die alte Zuneigung und Vertrautheit wieder auf. Aber wie soll das gehen, sind doch beide Familien, die einst befreundet waren, an dem Unglück zerbrochen? Können zwei so geschädigte Seelen einander finden, obwohl sechs Jahre lang alles totgeschwiegen wurde?
Ein Jugendroman, der von Sprachlosigkeit redet und davon, was diese anrichten kann. Sind Geschehnisse, die geleugnet werden, weniger wahr? Die Protagonisten sind allesamt einsam in ihrer Seelenqual, so unterschiedlich sie auch sein mag. Und ausgerechnet die nunmehr erwachsenen Kinder dieser Familien nähern sich einander vorsichtig an. Der Lesende empfindet die Qualen persönlich, er leidet und er hofft mit. Und hinterfragt im besten Fall den eigenen Umgang mit Problemen gleich mit. Dafür sind Bücher (auch) da...
Ab etwa 15 Jahren.
- KW
City of Thieves
übersetzt von Beate Schäfer
Tina musste mit ihrer Mutter aus dem Kongo nach Kenia fliehen, nachdem die Milizen der Mutter furchtbares angetan hatten. Sie finden Arbeit und Unterschlupf bei einem Weißen, Mr.G., der mit Gold handelt und sie für Informationen, die die Mutter hat, beschützen will. Dann aber hört Tina ein Gespräch zwischen ihrer Mutter und dem Besagten mit, bei dem dieser ihrer Mutter eindeutig droht. Und kurz darauf wird ihre Mutter im Haus ermordet. Tina ist sich sicher, das Mr. G. der Mörder ist und schwört Rache. Dazu hat sie einen Plan. Dieser Plan hat drei Teile: Schmutz. Geld. Blut. Sie bringt ihre Schwester Kiki, die das Kind von Mr.G. ist- bei den Nonnen unter und schließt sich den Goondas, einer Art Mafiaorganisation, an. Sie verspricht dem Anführer, Mr. Omoko, Informationen, die er nutzen kann, um Mr. G. zu erpressen und dessen Geld zu bekommen. Sie verlangt für sich nur Teil 3 der Rache, seinen Tod.
Doch bei der Aktion kommen plötzlich Zweifel auf, wer tatsächlich der Schuldige am Tod der Mutter ist. Und mit Michael, dem Sohn von Mr. G. und Boyboy, einem Freund, macht sie sich auf in den Kongo und ein atemloser Trip beginnt.
Dieser Trip nimmt uns mit in die Welten von Milizen und Machtkämpfen um Geld und Ressourcen. Welten in denen Menschenleben, und vor allem, die von Frauen, nichts zählen. Und während Tina und ihre Freunde immer tiefer in den Sumpf aus Gewalt und Lügen geraten, wird uns einmal mehr klar, dass hinter den Geflüchteten z.B. aus dem Kongo, gruselige Schicksale liegen. Das vergessen wir so leicht über all den aktuellen Diskussionen und es muss erst ein Roman, der als Thriller konzipiert ist, wieder daran erinnern.
Ab 16 Jahren
- KW Den Mund voll ungesagter Dinge
Freytag, Anne
399 Seiten, Heyne fliegt
Für Alex gab es immer nur ihren Vater und Lukas, der Freund aus Kindertagen. Aus Angst davor, verlassen zu werden, kann sie keine Freundschaften eingehen. Dann aber zieht Lukas zu seiner Freundin nach Paris und ihr Vater verschleppt sie zu seiner neuen Liebe und deren beiden kleinen Söhnen nach München. Noch einsamer kann es um Alex nicht werden. Halbherzig und ohne echte Gefühle lässt sie sich auf verschiedene Jungen ein. Dann aber lernt sie Sophie kennen, das Mädchen aus dem Nachbarhaus, welches Alex Nähe sucht. Endlich scheint auch für Alex so etwas wie Freundschaft möglich zu sein. Doch dann verändert ein spontaner Kuss beim Flaschendrehen alles.
Ein Roman, der den Lesenden mitnimmt in die Gefühlswelt von jungen Menschen, die versuchen herauszufinden, wer sie sind oder sein könnten. Und dessen Geschichte um die junge Alex uns bis zur letzten Seite nicht mehr loslässt. Um mit Alex zu sprechen: “Also, wenn ich …ein Buch lese, will ich, dass es sich so anfühlt, als wäre ich Teil der Handlung. Wie eine unsichtbare Nebenfigur. Ich will vergessen, dass jemand sich das alles nur ausgedacht hat.“ Und genau so fühlt es sich an, dieses Buch zu lesen und das ist gut so.
Ab etwa 15 Jahren
- KWDer fünfzehnjährige Tim kommt eigentlich ganz gut klar, die Schule läuft und ist nicht zu nervig, Freunde hat er auch und sogar Helen aus der Parallelklasse scheint ihn zu mögen. Doch seit er das Computerspiel „Call oft the force“ kennen und lieben gelernt hat, verschieben sich langsam die Gewichte in seinem Leben: das Spiel übt eine so starke Anziehung auf ihn aus, dass Tim zunehmend alles vernachlässigt, was nicht damit zu tun hat. Als Erste muss Tims Mutter darunter leiden, die versucht, ihren Sohn für die Schule zu motivieren und die heftig beschimpft und hintergangen wird. Für Entschuldigungen fälscht Tim fortgesetzt ihre Unterschrift, lässt Schule, Freunde und sogar Helen links liegen, weil ihn nur mehr sein Fortkommen im Computerspiel interessiert und alles andere sich wie Zeitverschwendung anfühlt. Daniel Höra gelingt es, Tim eine packende und authentische Stimme zu verleihen. In einfacher, aber keineswegs armer Sprache, vollzieht sich beim Lesen eine ähnliche Sogwirkung, wie die des Computerspiels bei Tim. Erst als Tim nicht mehr schläft, sich kaum noch wäscht und nach einem Spielverbot sein Zimmer zerlegt, kommt ihm selbst der Verdacht, dass das Spielen nicht nur ein Spaß sondern ein Sucht sein könnte.
Mit der Figur des Ich-Erzählers ist die Identifikation für jugendliche Leser leicht gemacht. Die spannende Thematik des Computerspiels und seiner besonderen Attraktion ist wohl für die meisten Jugendlichen nachvollziehbar. Insgesamt hat die noch junge „Clips“-Reihe im Carlsen Taschenbuch bisher durch kluge Themenauswahl (z.B. Cybermobbing, Internet stalking, u.ä....), durchschnittliche 130 Seiten, einen günstigen Kaufpreis von 4,99 € und, last but not least, gute Autoren! vieles richtig gemacht. „Kill you!“ ist sicher interessant für eine jugendliche Zielgruppe und genauso für alle die, die mit Jugendlichen zu tun haben. Sehr empfohlen!
- JPS Good Night Stories For Rebel Girls
übersetzt von Brigitte Kollmann
Dieses Buch ist ursprünglich als Crowdfunding Projekt entstanden. Allein schon deshalb ist es beachtenswert: 20025 Unterstützerinnen und Unterstützer habe diese Buchidee so erfolgreich gemacht, dass sie jetzt bereits in der 4. Auflage beim Hanser Verlag vorliegt. Und gerade wurde es als Junior-Wissenschaftsbuch des Jahres 2018 gekürt! 100 Frauenpersönlichkeiten werden hier vorgestellt, die alle eines gemeinsam haben: sie alle waren einmal rebellische Mädchen, die genau wussten, was sie wollten oder was sie eben nicht wollten. So formten sich schon in ihrer Kindheit der Wille und die Entschlossenheit, die in allen Kulturen der Welt erforderlich sind, um als Frau erfolgreich zu sein. Denn erfolgreiche Frauen, das ist schon lange bekannt, müssen besser, schlauer und vor allem: mutiger sein als ihre männlichen Kollegen. Besonders an diesem Buch ist die Kürze und Prägnanz der 1-seitigen Texte, die einer ganzseitigen Portrait-Illustration gegenübergestellt werden. Die unterschiedlichste Stile und Techniken der 60 Illustratorinnen spiegeln aufs Allerfeinste die Vielfalt und Individualität der Frauen wider, um die es in diesem Buch geht. Ob Wissenschaftlerin, Künstlerin, Musikerin oder Politikerin, ob transgender Mädchen, Architektin, Aktivistin oder Boxerin, alle Mädchen und Frauen in diesem Buch sind ein Vorbild für Mädchen und junge Frauen, sich mit den eigenen Fähigkeiten und Wünschen ernst zu nehmen und an der Verwirklichung ihrer Ideen zu arbeiten. Ein zauberhaftes Mutmachbuch für Mädchen von 6- 106 Jahren.....
- JPS Eve sieht es anders
übersetzt von Maren Illinger
Am liebsten würde Eves Mutter es sehen, wenn ihre Tochter auch weiterhin von ihr zu Hause unterrichtet würde. Sie ist der Ansicht, dass die Regelschule nicht wirklich auf das Leben vorbereitet. Doch Eve will wenigstens das letzte Jahr noch auf eine normale Schule gehen, sie braucht eine Empfehlung für das erhoffte Elitecollege. Aber sie weiß, dass es schwer werden wird. Glücklicherweise lernt sie vor dem ersten Tag des neuen Schuljahres Rajas und Jacinda kennen. Insbesondere der attraktive Rajas hat es ihr sofort angetan. So ist die Motivation gleich nochmal größer. Doch schon bald merkt sie, dass an einer „normalen“ Schule besondere Regeln gelten, die mit Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz nicht viel gemein haben. Sie ist empört und initiiert eine digitale Schülerseite, auf der die Missstände anonym angeprangert werden können. Doch das geht schnell nach hinten los, sodass nicht nur plötzlich ein allgemeines Gemobbe losgeht, sondern auch die gerade erst zart geknüpften Liebesbande zu Rajas und die Freundschaft zu Jacinda auf dem Spiel stehen. Eine geradezu ausweglose Situation für die sonst so taffe Eve. Und die Collegeempfehlung scheint auch in Gefahr.
Ein Jugendroman, wie er sein sollte: Freundschaft, junge Liebe und die Gefahren des Internets Seite an Seite. Eve hat von Anfang an alle Sympathien und der Lesende will den Freunden zurufen „Seht ihr denn nicht, dass Eve recht hat!“ So macht der Roman auf eine besondere Weise klar, dass viele Dinge nicht das sind was sie scheinen, und auch die „Anderen“ oft schlüssige Motive haben, die erklären, warum sie so und nicht anders handeln (können). Liest sich gut, bleibt spannend und hat eine Botschaft. Daher gern verschenken an Jugendliche ab etwa 14 Jahren.
- KW Und plötzlich schreibt das Meer zurück
übersetzt von Gundula Müller-Wallraf
Wie in so viele Familien des kleinen, englischen Fischerdorfs Delwick hat Tom Pellow seinen Vater ans Meer verloren. Dessen Schiff war am anderen Ende der Welt untergegangen, niemand konnte geborgen werden. Jetzt, ein Jahr später, beschließt Tom, eine Flaschenpost nach der anderen ins weite Meer hinauszuschicken. Nach Wochen, in denen er sich ausgemalt, wer seine Post wohl finden und zurückschicken würde, findet Tom zu seiner Überraschung am Strand eine Flaschenpost-Antwort von einem gewissen Ted Bones, der andeutet, schon seit vielen Jahrhunderten tot zu sein und vom Grund des Meeres zu schreiben. Tom beschließt, seinen neuen Flaschenpostfreund auf die Probe zu stellen und fragt ihn nach dem Verbleib seines verschollenen Vaters. Teds Antwort, die Wochen später eintrifft, stürzt Tom in ein Wechselbad der Gefühle: Könnte es sein, dass sein Vater noch lebt? Oder korrespondiert er mit einem Betrüger? Ein traurig-schöner Roman über Menschen, deren Lebensinhalt und –schicksal das Meer ist, der aber auch in seinen Lesern unwillkürlich die Sehnsucht nach dem Ozean weckt, nach dessen Geheimnissen, Widrigkeiten und Schönheiten. Aber auch ein Roman über einen Jungen, der seinen Vater trotz aller Widerstände nicht aufgeben kann. Lesenswert.
- MD Der Hummelreiter Friedrich Löwenmaul
Reinhardt, Verena
521 Seiten, Beltz & Gelberg
Friedrich Löwenmaul, letzter Nachkomme einer berühmten Hummelreiterfamilie, wird von einer goldenen Hummel namens Brumsel in ein fernes Land namens Skarnland entführt, wo er in einen Konflikt zwischen Nordwärts und Südwärts hineingezogen wird. Dieser spielt sich zwischen den Tieren ab, die dort alle vernunftbegabt sind und sprechen können. Und so gesellen sich bald Kahlsson, die tätowierte Raupe – später Schmetterling –, die opernsingenden Eulenschwestern Oilinis, die Mottenmeisterin, die Zikade Talpa und viele andere zu den beiden, um ein Komplott gegen Nordwärts aufzudecken und einen Krieg zu verhindern.
Der Roman Verena Reinhardts sprüht dabei nur so vor Erfindungsgabe: Es wird eine komplexe Gesellschaftsordnung der Tiere dargestellt, die auf ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten beruht, aber frappante Ähnlichkeit mit unserer hat; auch dort gibt es Industriegebiete, Soldatenarmeen, Drogenexzesse, Motorräder, Schmuggler, Opernaufführungen, nicht zuletzt auch eine eigene Mythologie und Ethik. Gemeinsam mit Friedrich amüsiert sich der Leser über die originellen Regeln des Tierstaates: zum Beispiel macht es einen absoluten Unterschied, ob eine Nacktschnecke auf der Straße nackt ist oder ob sie sich gerade für ihren Kellnerdienst eine Schürze umhängt und dabei bitteschön nicht gestört werden möchte.
Ein Feuerwerk an Ideen, das sich selbst nicht so ernst nimmt, und so durch Ironie und Witz besticht.
Zu Recht nominiert für den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises 2017 (Neue Talente)
Ein bemerkenswerter Romanerstling
- MD Warten auf Gonzo
Jeder kann einen Fehler machen, um alles zu versauen, muss man ein Genie sein
Marcus, genannt OZ, erzählt von seinem Start in dem neuen Ort auf dem Land und in der neuen Schule. Seine Mutter hat einen Job am College dort bekommen und die ganze Familie musste ihr notgedrungen folgen, Oz und seine Schwester sind überhaupt nicht begeistert. Denn das bedeutet, in einer kleinstädtischen Umgebung unter Beobachtung zu stehen, sich in der neuen Gesellschaft anpassen und keinen Anlass für Gespött oder Hänseleien zu liefern. Was Oz leider nicht gelingt...
Im Gegenteil, Oz hat eine magnetische Wirkung auf Fettnäpfchen jeder Art. Seine Freunde aus der Londoner Vorstadt melden sich seit dem Umzug nicht mehr, also schreibt er Briefe an G, von dem erst im Laufe der Geschichte klar wird, um wen es sich handelt. G,– Gonzo, der seinen Namen einer etwas einfältigen Figur aus der Muppetshow verdankt, wird aufrichtig über Oz`s Lebenslagen informiert, sogar über die dunkleren Seiten, z.B. wie er Ryan, der von Anfang an freundlich und offen zu ihm war, an die gefräßige Klatschmeute im Schulbus ausliefert. Dies geschieht nicht vorsätzlich aber auf Oz´s übliche, verpeilte Art. Nur das Problem seiner Schwester ist noch größer und gewichtiger als das Schlamassel, das Oz an den Fersen klebt.
In rasantem Tempo beschreibt Cousins eine britische Jugendszene fernab der Metropole, die gut beobachtet und empathisch geschildert wird. Hier ist keineswegs alles in Ordnung, es gibt reichlich „unperfektes“ Personal bei den Erwachsenen wie bei der Jugend. Typisch britisch sind die ausgeprägten Individualisten, die an ihrem Außenseitertum wachsen und die man als Leser dafür liebt. Und so geht es in diesem spannenden Jugendroman neben Freundschaft, Loyalität und Familie auch noch um Abenteuer und Krimi und neben den starken Tönen gibt es auch Raum für Zärtlichkeit und tiefe Einsichten. Witzig, gut zu lesen und mit Tiefgang...
- JPS Wir beide wussten, es war was passiert
übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn
Billy verlässt sein zuhause
Geht weg von seinem Vater, seiner Schule, seiner Stadt
Dort hat er sich nie zuhause gefühlt
Doch wohin?
Ein Güterzug bringt ihn weiter nach Westen
Bendarat im Südwesten Australiens
Er liebt Bücher, liebt es zu lesen
Sein neues Zuhause, ein alter Eisenbahnwaggon
Die Bibliothek
Und McDonald‘s
Dort trifft er auf Old Bill und Caitlin
Menschen, die ihm wohlgesonnen sind
Und es entwickelt sich
Ein neuer Anfang
Dieses Buch ist einfach wunderschön. Schlicht und schön, wie die Umschlag-gestaltung, die sich auf den Kapitelseiten fortsetzt. Billy, Old Bill und Caitlin erzählen jeweils aus ihrer Perspektive. Die Charaktere sind liebenswert. Ein Buch voll Verständnis, Toleranz und Liebe, geschrieben in Gedichtform.
So entsteht ein ganz eigenes Leseerlebnis. Mir scheint, es bekommt dadurch eine besondere Ruhe.
- JK Wir beide wussten, es war was passiert
übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn
Der 16 jährige Billy ist der Hauptakteur in diesem bezaubernden und besonderen Jugendbuch. Er bricht eines Tages von zuhause auf, um seinen Vater, einen Trinker, zu verlassen und für sich selbst eine Zukunft zu finden. Auf einem Zug als Hobo verlässt er seine Heimatstadt um nach Westen zu gelangen schon hier erfährt er freundliche Unterstützung vom Zugführer, der ihm Wärme, Kaffee und Brote anbietet. Bei der Stadt Bendarat geht er von Bord und schlägt sich zunächst zur Bibliothek durch, wo er einen ganzen Tag mit Lesen verbringt. Dann sucht er sich einen offenen, ausrangierten Waggon am Bahnhof und beginnt sein Leben als Obdachloser. Hier lernt er einen älteren Mann kennen, ebenfalls obdachlos und in einem Waggon lebend, Old Bill, und zwischen den beiden entwickelt sich eine Freundschaft. Außerdem ist da noch Caitlin, die bei McDonalds arbeitet und Billy dort die Essensreste essen lässt, die sonst im Müll landen würden. Auf diese Begegnung der beiden, Billy und Caitlin, bezieht sich der Titel des Buches, zwischen den beiden jungen Leuten entwickelt sich langsam und vorsichtig eine Liebe.
Herrick Steven-und auch Uwe-Michael Gutzschhahn mit seiner genialen Übersetzung- ist hier etwas besonders Zartes und doch Vitales gelungen.
In Gestalt von lyrischen Texten, knapp und genau formuliert und dennoch poetisch, reihen sich kurze Kapitel an einander, ergreifen die Leserin und ziehen sie unausweichlich hinein ins Geschehen und ins Lesen. Selten habe ich so in Sprache gebadet wie in dieser ruhigen Liebesgeschichte, bei der es um mehr geht als Verliebtheit. Hier geht es „ums Ganze“, um Unabhängigkeit, Heimat, Zugehörigkeit, Vertrauen und das Bearbeiten alter Verletzungen. Hinreißend!
- JPS Mit anderen Worten: ich
übersetzt von Sandra Knuffinke und Jessika Komina
Samantha, Sam, leidet an einer Zwangsstörung. Sie muss viele Dinge drei Mal wiederholen, überhaupt spiel die Zahl 3 eine bedeutende Rolle in Sams Leben, aber am schlimmsten sind diese zerstörerischen und verstörenden Gedankenspiralen, die immer wieder in Sam aufsteigen. Ihre Mom, ihre Familie, hat gelernt, damit umzugehen. Sam besucht regelmäßig ihre Therapeutin Sue, die mit ihr arbeitet, aber vor ihren Freundinnen in der Schule hält sie diesen Teil ihrer Persönlichkeit geheim, zu sehr fürchtet sie sich vor deren Reaktionen und davor, nicht mehr beliebt zu sein. Nur wenn Sam schwimmt, ist sie ganz bei sich. Dann kann sie sich versenken, konzentriert auf Atmung, Geschwindigkeit und Rhythmus. Eines Tages taucht Caroline in der Schule auf, und die ist deutlich anders als Sams Freundinnen. Ungeschminkt, uninteressiert an Äußerlichkeiten, zeigt sie Sam etwas, „das ihr Leben verändern wird“. Sam ist fasziniert von diesem geheimnisvollen Mädchen, und dem, was sie durch Caroline kennenlernt: die geheime Dichterecke. Dieser Ort ist nicht nur ein verborgenes Refugium für Schüler, die im Schulalltag alle irgendwelche Schwierigkeiten und Probleme haben und sich durch schreiben und vorlesen von Gedichten eine Ausdrucksform erworben haben. Es ist auch der Ort, an dem Sam lernt, kreativ mit ihren eigenen Worten umzugehen und so ihre Gefühle auszudrücken.
Dies ist das besondere an dieser Geschichte: es zeigt auf, wie das Schreiben einem das Leben retten kann. Wie der Ausdruck des Ichs Stärke und Sicherheit wachsen lässt, sich auch größeren Problemen zu stellen und für sich selbst zu sorgen. Das ist ein guter Rat für junge Menschen: sich darum kümmern, man selbst zu sein. Und spannend zu lesen ist es außerdem....
- JPS Alles so leicht
übersetzt von Alexandra Ernst
„Mein Name ist Stevie, und in 21 Tagen bin ich tot“ so würde Stevie am liebsten die Gesprächsrunde der Gruppentherapie eröffnen. Denn das ist der Plan. Am Todestag ihres Bruders Josh will sie verhungert sein. Sie ist überzeugt davon, dass sie keine Lebensberechtigung mehr hat und flüchtet sich in die Nahrungsverweigerung. Ihr Vater hat sie in der Therapieeinrichtung untergebracht und Stevie setzt alles daran, ihren Plan dennoch durch zu ziehen. Sie ist stärker, als all die anderen Mädchen dort, die schon aufgegeben zu haben scheinen. Doch ihre Therapeutin bringt sie behutsam dahin, die Monster anzusehen, die sie verfolgen. Nach einer Weile scheint auch Stevie auf einen guten Weg zu kommen. Dann findet sie heraus, dass ihre Mutter, die die Familie verlassen hat, die Kosten der Klinik übernimmt. Ist alles Erreichte wieder für die Katz?
Den Gedanken und Gefühlen von Stevie durch das Buch zu folgen, fordert den Lesenden sehr. So sehr die Sicht der Protagonistin subjektiv ist und nicht richtig erscheint, so sehr versteht man auch ihre Not. Als es Stevie einen Rückschlag versetzt, durch die Ärzte als Bulimiekrank bezeichnet zu werden, obwohl sie doch unter Anorexie leiden muss, um wirklich mager und willensstark zu sein, ahnt man das tatsächliche Ausmaß der Erkrankung. Die Autorin schafft es, dass man dieses Mädchen lieb gewinnt und ihrer Heilung entgegen fiebert. Zudem wunderschön erzählt. Unbedingt zu empfehlen.
- KW Der Geruch von Häusern anderer Leute
übersetzt von Sonja Finck
Alaska gehört zwar seit meinem Geburtsjahr als 49. Bundesstaat zu den USA, ist mir als Lebensraum aber so fremd, dass ich bisher kaum eine Vorstellung davon hatte. So nah am Polarkreis gibt es hier lange, sehr kalte Winter und Lebensbedingungen, die man wohl durchaus als unwirtlich bezeichnen kann. Mit dem vorliegenden Buch stellt uns Bonnie-Sue Hitchcock eine ganze Reihe von Jugendlichen vor, die hier leben und gelernt haben, sich anzupassen aber auch gegenseitig zu unterstützen. Hitchcock verwebt die einzelnen Schicksale gekonnt zu einer gemein-samen Geschichte. In jahreszeitliche Kapitel unterteilt, kristallisieren sich bei Ruth, Hank, Alyce und Dora individuelle Problemlagen und spezielle Hintergrundgeschichten heraus. Rau wie die Witterung ist auch zuweilen der Umgangston der Erwachsenen, Alkoholmissbrauch spielt eine zentrale Rolle und Jagen und Fischen dienen zum Überleben. Doch gerade die feinen und sanften Töne sind es, die einen in all der Strenge und Härte der Umgebung berühren, z.B. jene Erwachsene, die nicht hart und abweisend geworden sind, sondern die die schwierigen und zum Teil existenziellen Situationen der betreffenden Jugendlichen richtig deuten und entsprechend handeln. All dies geschieht mehr durch aufmerksames Beobachten als durch Gespräche, denn geredet wird hier anscheinend nicht so viel, dafür aber gelacht, sei es auch manchmal zu laut und an der falschen Stelle.
Die Lektüre dieses Buches schafft etwas Besonderes: ein Ahnung vom Leben in Alaska und ein zärtliches Gefühl für die Menschen.
- JPS Vierzehn
Bach, Tamara
112 Seiten, Carlsen
Der erste Schultag nach den Sommerferien. Beh, 14 Jahre, hat ihre Freundinnen seit acht Wochen nicht gesehen. Vor den Ferien hatte sie das Pfeiffersche Drüsenfieber und konnte deshalb nicht an den gemeinsam geplanten Ferien teilnehmen. Die Beziehungen müssen neu ausgelotet werden.
Von Beginn an begleiten wir das Mädchen durch diesen Tag. Beh erzählt in der Form der direkten Ansprache. Ähnlich wie in einem Tagebuch, erzählt sie die Ereignisse sich selbst oder einem Gegenüber. Dadurch geraten die Leser von Beginn an in einen regelrechten Sog.
Wir erfahren das leichte Fremdeln mit den Freundinnen, nähern uns skeptisch dem neuen Mädchen in der Klasse an, und schleppen uns mit Beh durch die Schulstunden. Wir erfahren aus Behs Blickwinkel von neuen Lehrern und schlimmen Toiletten, von Möchte-gerne-Lovestorys und guten Freunden, treffen Verabredungen und haben Verpflichtungen. Immer wieder geht es für Beh darum, Stellung zu beziehen, klar zu kommen zwischen dem Anspruch der anderen und ihren eigenen Wünschen. Neben den Ränkespielen der Freundinnen wartet am Nachmittag auch noch eine neue Familiensituation auf Beh. Ihr Vater bekommt mit seiner neuen Freundin ein Kind. Ein Lichtblick im trüben pubertären Alltag, ein gutes Gefühl taucht mit einer sich anbahnenden Liebe auf…. Dieses gute Gefühl schwingt im Hintergrund immer mit: Jemand, der einem eine Postkarte schreibt, weil man gesagt hat, dass man so gerne Post bekommt, jemand, der einem was aufs Smartphone schickt und einen zum Lächeln bringt.
Unspektakulär ? Total normal ? Oder eigentlich ganz großes Kino ?
Ganz großes Kino, denn Tamara Bach gelingt es durch einen stakkatoartigen Sprachstil sowie durch die Anredeform „du“, den Leser sofort in die Geschichte hineinzuholen, ob er oder sie will oder nicht, er muss ich soweit mit Beh identifizieren, dass er ihr durch diesen einen Tag folgt. Die Perspektive der Vierzehnjährigen auf die Welt ist so stark, dass man gebannt ihren Beobachtungen und Reflexionen folgt. Nahezu atemlos folgen wir dem Tagesablauf dieses Teenagers, der auf eine gewisse Weise exemplarisch ist und doch völlig neu betrachtet wird.
So könnten sie ticken, die Vierzehnjährigen – und das lässt einen mit Hoffnung zurück!
- KS Mein bester letzter Sommer
Freitag, Anne
368 Seiten, Heyne fliegt
Zornige, weibliche Protagonistinnen scheinen momentan angesagt. Jedoch ist, mit dem eigenen Tod vor Augen, sowohl Zorn als auch Pathos eine verständliche Haltung...Tessa, 17 Jahre und aus München, lässt ihre ganze Wut und ihre Verzweiflung an ihrer Mutter aus. Die Wut darüber, dass sie bald sterben muss, obwohl sie doch dachte, ihre Krankheit besiegt zu haben. In einem Prolog berichtet die Ich–Erzählerin davon, wie sie in der U-bahn auf einen jungen Mann aufmerksam wird, der sie unbeschreiblich berührt. Und ausgerechnet diesen jungen Mann, Oskar, lernt Tess ein paar Monate später in Gestalt des Sohnes von Vaters bestem Freund bei sich zuhause kennen. Das ist zwar ein bisschen unwahrscheinlich, aber nur bei Oskar kann Tess sich aufs Verlieben einlassen. Eine aktualisierte Version des Filmes „Love Story“ aus den 70er Jahren, mit online-Chats und Play-Lists und quälend langen Versuchen der Protagonistin, sich diese Liebe zu verkneifen, weil der Geliebte ja absehbar alleine zurück bleiben wird. Nebenbei wird in Anne Freitags Roman der Mutter-Tochter-Konflikt bearbeitet, sowie die Rivalität zwischen Tess und ihrer jüngeren Schwester Larissa, die keine Provokation und keinen Tabubruch auslässt. Untermalt von Tessas Reflektionen über das Leben und das Sterben enthält diese romantische Liebesgeschichte genau die Zutaten, die für uns Mädels zuweilen reizvoll sind. Oskar wird für Tessa genau zu dem Partner, mit dem sie ihre Situation aushalten, auf den sie sich „bis dass der Tod uns scheidet“ einlassen kann. Erhöhter Kleenexbedarf garantiert!
- JPS Was ist hier die Frage?
Gusella, Anna | Gusella, Anna
Collection Büchergilde
Zwar nicht als Paket vermarktet, doch weil das Kartenspiel wie ein Echo auf das Gedankenbuch folgt, sollen sie beide hier gemeinsam rezensiert werden. Es steht nämlich der gleiche Impuls hinter diesen beiden Kreationen, die zwar nicht für Kinder, aber im besten Sinne kindlich sind in ihrer Direktheit und Offenheit. Im Buch, einem sehr persönlichen Skizzen- und Kritzelbuch, geht die Grafikerin Anna Gusella 114 Fragen kreativer Existenzen nach: „Was kann ich sein? Was will ich sein?“ etwa, oder „Leide ich unter meinem Verstand?“ Typographisch und graphisch stellt sie die Fragen in unterschiedlich gestaltete Doppelseitenräume und regt damit zu inneren Dialogen oder Entwürfen an. Im zweifarbig blau-rot gehaltenen Kartenspiel bietet sie 45 knappe, sentenzhafte Antworten, zu denen man sich die Fragen selbst ausdenken muss. Sie bestechen durch kluge Bildfindung und eröffnen dadurch neue Perspektiven auf Fragen, von denen man gar nicht wusste, dass man sie sich stellte. Natürlich lassen sich Fragebuch und Antwortspiel auch kombinieren zu einem weiteren lustvollen Experiment. Egal ob allein oder im Doppelpack: künstlerisch, originell, inspirierend.
- NvM Am Freitag sehen wir uns wieder
Koch, Karin
210 Seiten, Peter Hammer
Sie, Juni, verwöhntes 15-jähriges Mädchen, das sich lieber nicht mit dem Flüchtlingsthema auseinandersetzen möchte. Er, Sahal, 15-jähriger Somalier auf der Flucht vor der Al-Shabaab-Miliz in seinem Heimatland, vor der Polizei Deutschlands und seinen kriminellen Freunden. Beide treffen einander erstmals in der Schule im Rahmen eines Flüchtlingsprojektes, dann später in der S-Bahn und in einer Markthalle. Juni merkt, dass Sahal nicht mehr in dem betreuten Wohnheim nächtigt, sondern auf der Straße wohnt. Sie versteckt ihn bei einem alten Schulfreund, der verreist ist, und wird später selbst zum Flüchtling in ihrer Stadt. Dabei flieht sie nicht nur vor Polizei, Eltern und Gangstern, sondern auch vor ihrer eigenen vertrackten Familiensituation.
Am stärksten ist die Geschichte, als Juni sich auf der Suche nach einem neuen Versteck durchs Dickicht der Bahntrassen Berlins zwängt und plötzlich ansatzweise nachvollziehen kann, wie es dem Flüchtling Sahal gehen muss: „Ich kann nicht einfach aufgeben, zurückgehen. Ich brauche eine Lösung. Sahal braucht eine Lösung. Und auf einmal kriege ich eine Ahnung davon, was es für Sahal bedeutet, auf der Flucht zu sein.“
Eine spannende Geschichte übers Fremdsein, das Erwachsenwerden und wahre Freundschaft.
- MD Cache
Röder, Marlene
256 Seiten, Fischer KJB
Am Ende des Buches ist sich Leyla sicher: „Die ganze Zeit hat sie den Falschen gesucht… Hätte sie ahnen können, was passieren würde?“ In ihrem neuen Jugendroman nutzt Marlene Röder die Struktur der immer beliebter werdenden modernen Schnitzeljagd, genannt „Geo Caching“, um die Suche der Jugendlichen Max, Leyla und Red nach Identität und wahrhaftiger Beziehung geheimnisvoll und spannend darzustellen.
Max und Leyla sind über ein Jahr zusammen. Während Max ein zierliches Schloss besorgt, um ihre Liebe an der Warschauer-Brücke mit romantischem Blick auf den Berliner Fernsehturm zu besiegeln, kommen Leyla erste Zweifel. Wie viel bedeutet sie Max wirklich? Passen sie überhaupt zusammen? Er, der leistungsstarke Mustersohn aus gutem Haus und sie, die Durchschnittsschülerin mit Migrationshintergrund? Als Max in den Ferien im Schwimmcamp ist, lernt Leyla den geheimnisvollen Geocacher Red kennen und verliebt sich in ihn. Die Suche nach immer gefährlicheren und aufregenden Geocachs – Verstecken für Botschaften, die zu immer neuen Orten führen – wird zur Suche und Neubestimmung der Jugendlichen untereinander und von sich selbst. Marlene Röder montiert dabei gekonnt verschiedene Zeitebenen über die Berliner Orte, welche die Protagonisten aufsuchen.
Erzählt wird sowohl aus der Ich-Perspektive von Max als auch personal aus der Perspektive von Leyla. Red bleibt konsequent ohne Innensicht. Die von ihm gelegten Fährten führen in die Irre. Die Dreiecksgeschichte endet tragisch und anders als erwartet. Den Hintergrund der spannenden Ich-Suche bilden geheime und reale Orte der Stadt Berlin.
Es ist bereits der dritte Jugendroman der viel versprechenden und mehrfach ausgezeichneten deutschen Nachwuchsautorin. „Cache“ ist für den 5. Deutsch-Französischen Literaturpreis nominiert.
- KE Die Sonnensucher
Laing, Kojo
525 Seiten, Edition Büchergilde
Ghana in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die Kolonialzeit ist vorbei und das Land versucht sich in der Unabhängigkeit. Aber es gelingt nicht recht. So herrschen Wirrwarr und Korruption in dem afrikanischen Land. Dieser Wirrwarr wird im Roman verdeutlicht durch die vielfältigen Dialekte, mit denen die Protagonisten auftreten. Vom Pidgin-Englisch bis zu Hochenglisch ist jede Spielart vorhanden und lässt erahnen, wie bunt, aber auch schwierig der Umgang mit dieser „Übergangsphase“ gewesen sein muss. Die Menschen in dieser Geschichte, die in der Stadt Accra spielt, erscheinen zuweilen desorientiert und wenig interessiert am politischen Geschehen. So endet dann schon mal eine Demonstration damit, dass die Polizei zum Essen lädt.
Die Charaktere sind so vielfältig wie die Dialekte und überdies teilweise sehr skurril. Beni Baidoo zum Beispiel hat die fixe Idee, ein Dorf gründen zu wollen und sammelt dafür Spenden. Maame entblößt ihr Hinterteil vor ihrem Mann und aller Welt, um ihre Meinung über ihren Gatten kund zu tun. Der Soziologieprofessor Dr. Sackey verfolgt das Geschehen mit der Sicht eines Intellektuellen und ist so ein wenig der rote Faden.
Die Geschichte vermittelt mit ihren den Facetten und Handlungsstängen ein Gefühl für die Zeit, in der sie spielt und den Kontinent Afrika. Allein die blumige Sprache lässt im Kopf bereits besondere Bilder entstehen. Nicht leicht zu lesen, aber zum Verständnis einer für uns fremden Welt in der Nachkolonialzeit grandios geeignet. Daher eher für Oberstufenschüler.
- KW Grenzlandtage
Peer, Martin & Michaelis, Antonia | Schüler, Kathrin
460 Seiten, Oetinger
Was entsteht, wenn sich zwei Bestseller-Autoren zusammentun, um einen Jugendroman zu einem aktuellen Thema zu schreiben? Vielschreiberin Antonia Michaelis hat sich mit der interkulturellen Kinderkrimireihe Kreuzberg 007 und mit spannenden Jugendromanen wie Der Märchenerzähler eine treue Fangemeinde erschrieben; Peer Martins Roman Sommer unter schwarzen Flügeln wurde 2016 von der Jugendjury zum Sieger des Deutschen Jugendliteraturpreis gekürt.
Jule, Abiturientin aus liebevollem Elternhaus, verbringt Ferien auf einer kleinen griechischen Insel, um vor den Prüfungen noch einmal richtig auszuspannen. Eigentlich hätte ihre Freundin Evelyne mitkommen sollen, aber ein Blinddarmdurchbruch verhindert das. „Gut, ich mache zum ersten Mal ganz alleine Urlaub. Na und?“, flüstert Jule dem Inselwind entgegen. „Zwei Wochen Urlaub werden kaum mein Leben verändern.“ (16) Spätestens da ahnen die Leser, dass die Tage auf der Mittelmeerinsel schicksalsbestimmend werden.
Und tatsächlich: nach und nach werden Jules Gewissheiten aus den Angeln gehoben. Zunächst als geisterhaft-mysteriöse Erscheinung, bald jedoch als hilfloser Flüchtling tritt Asman in ihr Leben, ein aus Syrien vor dem Krieg geflohener Palästinenser, der von einer besseren Zukunft in Schweden träumt. Bald stellt sich heraus, dass er nicht alleine ist, sondern mit einer kleinen Gruppe von Überlebenden, die mit dem Boot übers Mittelmeer nach Italien wollte. So erfährt die wohlbehütete Jule, die vor lauter Abiturpauken keine Zeit hatte sich mit dem Zeitgeschehen zu beschäftigen, von dem Schicksal zahlloser Flüchtlinge, von der Situation in Syrien, von der europäischen Asylpolitik und von Schleppern und Küstenwächtern.
Abgesehen von der Hintergrundinformation, die sich Jule im Internet-Café anliest, wird das zeitgeschichtliche Geschehen geschickt mit der fiktionalen Geschichte verwoben. Asman erzählt in Rückblicken von seinen traumatisierenden Erlebnissen von Gewalt, Flucht und Folter, die Absurditäten der Dublin-Bestimmungen schlagen sich auf der Handlungsebene nieder, und die Reaktionen der Inselbevölkerung und ihrer Touristen geben Einblick in die komplexen Mechanismen von Fremdenfeindlichkeit und Nächstenliebe. Überraschende Wendungen in der Handlung konfrontieren Leser auf unerwartete Weise mit den Grenzen der eigenen Wahrnehmung. Der Plot führt immer wieder auf falsche Fährten und spielt gekonnt Lesererwartungen, die somit auf unangenehme Weise die eigenen Vorurteile und Stereotypen entblößen. grenzlandtage ist somit alles andere als ein gut gemeinter Thesenroman. Es ist eine packende, spannende, mitreißende Geschichte, die sämtliche Register der unterhaltenden Erzählkunst zieht: angefangen mit geheimnisvollen Anklängen an Fantasy, die in eine harsche Realität umkippt, über die romantische Liebesgeschichte zwischen Jule und Asman, die für mehr als interkulturelle Empathie sorgt, bis hin zu den Thriller-Elementen Mord, Verrat und Verfolgung, die Spannung garantieren.
Das Ergebnis: Gemischte Gefühle. Wahrscheinlich ist grenzlandtage innerhalb der aktuellen Jugendliteratur zum Thema Flucht eine der besten Storys – ein richtiger Schmöker (460 Seiten), den man schon nach wenigen Seiten nicht mehr aus der Hand legen kann. Aber vielleicht ist gerade das das Problem: An einer Stelle fragen sich die Flüchtlinge, ob man sich für sie nur interessiert, weil sie eine gute Geschichte hergeben. Somit wäre diese Gefahr wenigstens reflektiert. Problematischer aber ist die Figurenzeichnung: Jule, aus deren Perspektive die Geschichte in dritter Person erzählt wird, ist extrem naiv – sowohl in ihren persönlichen Beziehungen als auch in ihrer Beziehung zur Welt. Das ändert sich auch im Lauf der Handlung nicht. Und obwohl man am Ende jeden Kapitels anhand eines inneren Monologs Einblick in Asmans Gedanken und Gefühle bekommt, bleibt die Figur seltsam flach. Vor allem die Überblendung von Liebesgeschichte und Flüchtlingsdrama irritiert. Kann Nächstenliebe nur in Form von romantischer Liebe vermittelt werden? Schließlich fragt man sich, ob es wirklich der göttlichen Wunder und eines happy end bedarf: dank der Intervention des heiligen Nikolaus werden in einer dramatischen Nacht zwei Menschenleben gerettet und schließlich opfert Jule das Geld, von dem sie sich eigentlich ein Auto hätte kaufen wollen, um Schlepper zu bezahlen, die Asman einen gefälschten Pass ausstellen. So kann er Asyl in Deutschland beantragen – und natürlich mit Jule zusammenbleiben. Flüchtlingskrisenkitsch.
Trotz - oder vielleicht gerade wegen dieser Bedenken- ist grenzenlos ein absolut empfehlenswertes Buch. Denn es wird nicht nur mitreißen und aufklären, sondern auch zu kontroversen Debatten anregen. Und das ist viel wert.
- NvM Tanz der Tiefeequalle
Höfler, Stefanie
192 Seiten, Beltz & Gelberg
Sera uns Niko sind so ziemlich die extremsten Pole der Klasse. Sera, das bildhübsche und angesagte Mädchen, das sich selbst als „Wortsparsam“ bezeichnet. Und Niko, der dicke Junge, der gemobbt wird, über den sich fast die ganze Klasse lustig macht und der trotzdem cool bleibt. Irgendwie passiert es, dass Sera anfängt, sich über Niko Gedanken zu machen. Sie weiß selbst gar nicht genau, warum. Immer abwechselnd erfährt der Leser aus Seras oder aus Nikos Perspektive, wie sich die Situation, vor allem während der Klassenfahrt, entwickelt. Da ist nämlich ausgerechnet Niko am rechten Ort, um Sera vor einer Grabschattacke von Marco zu schützen. Marco, dem angesagtesten Jungen der Klasse, der Niko ohnehin schon auf dem Kieker hat, und mobbt, wo er nur kann. Aber die Geschichte nimmt Fahrt auf, wendet sich ins Unerwartete und ist eine tolle Lektüre für Jugendlliche ab 12.
- JPS Eisvogelsommer
übersetzt von Rolf Erdorf
Thomas und Orphee, eine Liebesgeschichte, die auf der Schiffschaukel der Kirmes mit einem Paukenschlag beginnt. Doch Orphee sagt von sich, sie habe ein Herz aus Eis und sei nur schwer zu erobern. Mit seiner Geschichte vom Eisvogel aber kann Thomas sie schließlich für sich gewinnen und beide hoffen, jemanden gefunden zu haben, dem sie sich endlich öffnen können. Dann aber stirbt Thomas bei einem Unfall. Er kann aber von den Lebenden nicht lassen und besucht seine Mutter, seinen Großvater und Orphee auch weiterhin. Vor allem der einsame Großvater scheint ihn sogar wahrzunehmen und erzählt ihm weiterhin seine morbiden Geschichten. Wie in der Geschichte vom Eisvogel verharren die Hinterbliebenen im ewigen Frost des Lebens und drohen zu erfrieren, beobachtet von dem verstorbenen Ich-Erzähler.
Die alten Geschichten, die der Großvater zu erzählen weiß, werden nach und nach mit der Liebesgeschichte der beiden Jugendlichen und der Familiengeschichte von Thomas verwoben. Es sind Geschichten vom Tod, der Gefühlskälte der Menschheit und der Vergänglichkeit der Liebe. Es ist überhaupt kalt in den Erzählungen. Diese Kälte stellt das Leitmotiv der Gesamtgeschichte dar. Es mutet fast an, wie eine Sammlung von Märchen zu diesem Thema. Wer nach allem Frieren Hoffnung sucht am Ende des Reigens wird auch nicht enttäuscht. Thomas kann letztendlich Orphee freigeben und ins Leben entlassen. Wenngleich auch dabei allen unablässig kalt ist.
- KW Nur drei Worte
Albertalli, Becky
315 Seiten, Carlsen
Jung zu sein kann ganz schön schwer und verwirrend sein. Umso mehr, wenn man, wie Simon, schwul ist. Obwohl seine Eltern offen und modern sind und er beste Freunde hat, kommen die befreienden drei Worte nicht heraus. Wie gut, dass es Blue gibt. Über einen chatroom der Schule haben sie sich gefunden und tauschen seither die intimsten Gedanken aus, ohne voneinander zu wissen, wer sie in Wirklichkeit sind. Bis plötzlich der chat entdeckt und Simon als schwul erkannt wird. So findet Blue heraus, wer sein Chatpartner ist. Nun aber möchte Simon auch mehr wissen über den klugen und witzigen Blue. Ein Ratespiel beginnt.
Einfühlsam nähert sich die Autorin den oft Irritationen bringenden Gefühlen der jungen Generation. Wie soll man sich zurechtfinden, wenn alles plötzlich so anders ist, wie sich mitteilen? Der Roman zeigt auf, dass es unendlich schwer sein kann, die Rolle, die einem seit Ewigkeiten zugedacht war, zu verlassen und einen anderen – neuen- Teil von sich zu offenbaren. Da ist es manchmal einfacher, das Internet zu nutzen und Gespräche in der Anonymität zu führen. Irgendwann aber muss der Sprung in die Realität nachfolgen, will man wieder ganz sein. Diese Notwendigkeit wird über den Erzählstrang immer deutlicher erkennbar. Zu Recht für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
- KW Es ist gefährlich, bei Sturm zu schwimmen
Scheler, Ulla
365 Seiten, Heyne fliegt
Hanna und Ben kennen sich seit 8 Jahren, sind beste Freunde, sind zusammen „Benna“; zusammen gewachsen ohne ein Paar zu sein. Hanna, die Ich-Erzählerin, ist gerade am Tag der Abifeier 18 geworden und aktuell sauer auf Ben, denn der hat sich seit einem Streit vor über einem Monat nicht mehr blicken lassen. Und nun ist er am Tag vor der Abifeier wieder da. Bens ganze Erscheinung ist abgründig, geheimnisvoll, sehr männlich und Hanna sehr vertraut. Aber nach all den Jahren „bester Freundschaft“ ist der Beziehungsstatus (den) beiden nicht mehr klar. Hanna ist eher der kontrollierte, ängstliche Typ, aber als Ben sie auffordert, mit ihm zusammen eine Spritztour ohne Ziel und Rahmenplan zu machen, setzt sie alles auf eine Karte und bricht mit Ben gemeinsam auf. Es beginnt ein Roadmovie, ein Selbsterfahrungstrip, ein Aufstellen von Regeln, die man brechen kann und muss.
Mit ihrem Debutroman trifft die junge Autorin genau den Ton, der junge Menschen in diesem Entwicklungsmoment ansprechen könnte- ich fühle mich jedenfalls sehr erinnert an die Zeiten, als alles existenziell und dramatisch war, als es um „erste“ und „letzte“ Male ging. Und die Frage, wie viel Wagnis und Mut erforderlich sind, um ein lebendiges Leben zu führen, stellt man sich ja auch immer wieder...lesenswert für alle jenseits der Pubertät.
- JPS Tanz der Tiefseequalle
Höfler, Stefanie
192 Seiten, Beltz & Gelberg
Sera uns Niko sind so ziemlich die extremsten Pole der Klasse. Sera, das bildhübsche und angesagte Mädchen, das sich selbst als „Wortsparsam“ bezeichnet. Und Niko, der dicke Junge, der gemobbt wird, über den sich fast die ganze Klasse lustig macht und der trotzdem cool bleibt. Irgendwie passiert es, dass Sera anfängt, sich über Niko Gedanken zu machen. Sie weiß selbst gar nicht genau, warum. Immer abwechselnd erfährt der Leser aus Seras oder aus Nikos Perspektive, wie sich die Situation, vor allem während der Klassenfahrt, entwickelt. Da ist nämlich ausgerechnet Niko am rechten Ort, um Sera vor einer Grabschattacke von Marco zu schützen. Marco, dem angesagtesten Jungen der Klasse, der Niko ohnehin schon auf dem Kieker hat, und mobbt, wo er nur kann. Aber die Geschichte nimmt Fahrt auf, wendet sich ins Unerwartete und ist eine tolle Lektüre für Jugendlliche ab 12.
- JPS Das Mädchen Wadjda
übersetzt von Catrin Frische
Eine Jugendliche spart ihr Geld, um sich ein grünes Fahrrad zu kaufen, das sie im Geschäft gesehen hat.
Dieser alltägliche Handlungsverlauf wird im Roman „Das Mädchen Wadjda“, der auf einer deutsch-saudi-arabischen Kinoproduktion des Jahres 2012 basiert, zu einem Akt der Rebellion; spielt diese Geschichte doch in Saudi-Arabien, wo Fahrradfahren wie vieles andere für Mädchen und Frauen verboten ist. Wadjda, die kleine Heldin der Geschichte, kümmert sich wenig um diese und andere Regeln und versucht alles, um das heiß ersehnte Fahrrad kaufen zu können, ja sie macht sogar beim langwierigen Koran-Rezitationswettbewerb mit.
Umgeben ist Wadjda von anderen starken Frauenfiguren: ihrer Mutter, die mit der Tatsache konfrontiert ist, dass ihr Mann sich eine andere, fruchtbarere Frau nehmen wird, und der Direktorin Ms Hussa, die das wortwörtliche Befolgen der zahlreichen religiösen (Bekleidungs-)Vorschriften mit grimmiger Akribie kontrolliert und deprimierenderweise Wadjda einmal gesteht, sie sei auch einmal so rebellisch wie sie gewesen.
Der Roman zum Film, der zwar unter schwierigsten Bedingungen in Saudi-Arabien gedreht wurde, jedoch dort aus Mangel an Kinos nicht gezeigt werden kann, erhielt 2016 den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Kinderbuch. In seiner Begründung weist die Jury auf das grüne Fahrrad als „Symbol für Rebellion, Freiheit und Gleichberechtigung“ hin.
Tatsächlich zeigt die Geschichte die beklemmende Innensicht eines Kulturkreises, in der Frauen nur eine kleine Nische bleibt, in der sie so etwas wie Freiheit überhaupt leben können: abgeschottet von der Öffentlichkeit unter ihresgleichen oder in ihrer Phantasie.
Lesenswert.
- MD Kadir, der Krieg und die Katze des Propheten
Köpfer, Benno & Matthews, Peter
337 Seiten, dtv
Kadir ist die Hoffnung des Hamburger Fußballvereins und hat berechtigte Hoffnung, seinen Weg dort auch zu machen. Doch plötzlich ist Kadir weg. Ausgerechnet zu dem wichtigsten Spiel der Saison taucht er nicht auf. Sein Freund Mark und seine Schwester Meral sind beunruhigt. Wo mag er nur stecken? Dann plötzlich tauchen Gerüchte auf: „Kadir ist Dschihad“. Mark und Meral folgen der Spur, die sein Computer hinterlassen hat, im Netz und stoßen bald auf ein Bekennervideo, auf dem scheinbar Kadir zu sehen ist. Schließlich taucht er wieder auf und droht das Hamburger Fußballstadion in die Luft zu sprengen. Was hat das alles mit dem Freund, dem Bruder zu tun, den sie zu kennen glauben und was für eine Rolle spielt die Katze in dem Drama?
Ein einfühlsamer Roman eines jungen Muslimen, der in Hamburg aufgewachsen ist und auch dort geerdet zu sein scheint. Doch allmählich rutscht er in die Kreise der Islamisten ab und findet in den Geschichten der „Brüder“ seine angebliche Bestimmung, die seinem Leben zunächst einen neuen Wert gibt. Der Roman folgt dieser Radikalisierung bis nach Syrien zu den Kämpfern des IS. Spannend erzählt mit viel Wissensvermittlung zu diesem Thema drum herum, in diesen Phasen manchmal ein wenig zu langatmig, um die Spannung hoch zu halten. Dennoch: lesenswert ab etwa 14 Jahren.
- KW Concentr8
übersetzt von M. Seibert & K. Kastner
Um den vielen aufmüpfigen Kindern und Jugendlichen in London etwas entgegen zu setzen wurde in der jüngsten Vergangenheit an viele von ihnen ein Mittel verteilt, welches ruhig stellen soll- Concentr8. Das scheint zunächst auch zu funktionieren. Dann aber wird die Vergabe plötzlich eingestellt. Kurz darauf wird London von einer Welle von Unruhen und Plünderungen erfasst, die vornehmlich von Jugendlichen begangen werden. Fast scheint es, als sei eine ganze Generation entfesselt. Mittendrin eine Gruppe von Jugendlichen um den Anführer Blaze. Sie schwimmen auf der Welle der Unruhen mit und lassen sich durch London treiben. Der Entzug macht auch sie scheinbar unberechenbar. Um ihrer Forderung nach Wiederaufnahme der Verteilung von Concenrt8 Nachdruck zu verleihen, entführen sie einen Beamten des Rathauses und verschanzen sich mit ihm in einer alten Lagerhalle. Dann aber erfahren sie durch die Recherchen einer Journalistin etwas über die Hintergründe und ändern ihren Plan… Ein Roman ist für mich dann gut, wenn er etwas in mir anrührt. Concentr8 hat mit seiner Geschichte um die ruhig gestellten Kinder und Jugendlichen von London mitten in das Unbehagen getroffen, dass mich seit langem quält: die immer häufiger auftretende Diagnose ADHS und deren Behandlung mit Ritalin! Der Roman bietet durch seine Herangehensweise die unterschiedlichen Sichtweisen der Protagonisten an und unterfüttert die erfundene Geschichte mit Informationen aus unserer Realität. Das macht das Unbehagen konkreter. Und das macht diesen Roman aus. Unbedingt lesen, ab etwa 15 Jahren.
- KW Darkmouth
Band 1: Der Legendenjäger
Shane Hegarty tritt den Beweis dafür an, dass man auch nach Harry Potter noch neue Fantasywelten erschaffen kann.
Finn hat weder einen Nachnamen noch eine Ahnung, wie er die hohen Erwartungen seines Vaters erfüllen kann: als letzter Spross einer jahrhundertealten Familie von Monster-(„Legenden“-)jägern interessiert er sich nicht für das Aufspüren und Kaltstellen („Exsikkieren“) von Monstern, die durch einen Riss im Universum aus einer fremden, unwirtlichen Welt in unsere übersetzen können, sondern für die Veterinärmedizin. Hinzu kommt noch eine Prophezeiung, welche ihm die uneingeschränkte Aufmerksamkeit beider Welten sichert…
Die ein wenig an „Percy Jackson“ und „Ghostbusters“ erinnernde Handlung emanzipiert sich schnell von ihren berühmten Stichwortgebern: mit viel Witz, Spannung und Ironie erzählt Shane Hegarty den Beginn einer Coming-of-age-Geschichte, in deren Verlauf Finn seinen eigenen Weg findet, mit den vielfältigen Erwartungen seiner Umgebung umzugehen.
Der erste Teil der auf sechs Bände ausgerichteten Darkmouth-Reihe (2. Band: „Die andere Seite“, 2015; 3. Band: „Die Legenden schlagen zurück“, 2016) macht Lust auf mehr.
- MD Ich heiße Parvana
übersetzt von Brigitte Rapp
Parvana schweigt. Sie sagt kein Wort, als die amerikanischen Soldaten sie mit der Beschuldigung, eine Schule in die Luft gesprengt zu haben, gefangen nehmen. Die junge Frau traut niemandem außer sich selbst. Zu viel hat sie während der Zeit der unterschiedlichen Besatzungen in ihrer Heimat Afghanistan schon erleben müssen. Sie möchte zu gern Architektin werden, doch dies scheint in einem Land, in dem Frauen und Mädchen auch heute noch oftmals von jeglicher Bildung ausgeschlossen werden, unmöglich. Daher hat sie mit ihrer Mutter, einer Lehrerin, und ihrer Schwester eine Schule für Mädchen gegründet. Diese ist Bildungsstätte und Schutzraum zugleich. Und ausgerechnet sie soll nun diese Schule in die Luft gesprengt haben? Undenkbar! Aber warum schweigt sie dann so beharrlich, obwohl ihr die amerikanischen Soldaten jede Brücke zu bauen scheinen?
Die Autorin vermittelt mit ihrer Erzählung über die junge Afghanin Parvana auf eindringliche, erzählerische Weise einen Eindruck vom Leben der Frauen und jungen Mädchen in diesem Land. Diese junge Frau und ihre Gedanken zu begleiten, berührt den Lesenden. Es rückt die Menschen in den Mittelpunkt, über deren Leben und Leiden wir seit so langer Zeit - inzwischen fast schon nebenbei- aus den Medien erfahren. Und es hinterlässt den Eindruck, den auch die Autorin in ihrem Nachwort beschreibt: viele afghanische Frauen, Männer und Kinder brauchen unsere Unterstützung. Wir sind es ihnen schuldig!
Unbedingt lesenswert für Jugendliche ab 15 Jahren.
- KW Djadi, Flüchtlingsjunge
Härtling, Peter
116 Seiten, Beltz & Gelberg
Djadi ist ein UmF. Kommt man als UMF – als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling – nach Deutschland heißt das oft Heim oder Pflegefamilie. Nicht aber für Djadi. Der Junge, der nicht weiß ob er acht oder elf Jahre alt ist und der seine gesamte Familie im Krieg um Syrien verloren hat, landet in einer Wohngemeinschaft. Statt nur zwei Pflegeeltern kümmern sich gleich sechs Erwachsene, die alle schon seine Großeltern sein könnten, um den Jungen. Und das ist auch wunderbar so. Besonders Wladi hat es ihm angetan, denn der alte Mann ist selber in Kindertagen als Flüchtling aus Ostpreußen gekommen und kann sich in Djadi gut einfühlen. Obwohl er durch die liebevolle Hilfe sehr schnell Deutsch lernt und sich auch zurechtfindet, ist es ganz so einfach mit dem neuen Leben nicht. Zuviel hat er erlebt auf seiner Reise, so dass ihn kleine Dinge oft völlig aus der Bahn werfen. Und dann passiert auch noch das Undenkbare…
Peter Härtling schafft es, uns Lesenden auf sehr anrührende Weise zu vermitteln, dass das mit der Integration selbst bei ganz viel gutem Willen von allen Seiten nicht immer so einfach möglich ist. Traumatisierte Menschen und vor allem auch Kinder, die plötzlich in der für sie völlig fremden Welt ganz allein da stehen, können eben keine Schalter umlegen. Sie können nicht eintauchen in die neue Welt, als wäre nichts gewesen. Geben wir ihnen Zeit.
Da in einfachen Worten und klaren Sätzen geschrieben, empfehlenswert bereits ab 12 Jahren.
- KW Goodbye Bellmont
Aus dem Englischen von Knut Krüger
Finley möchte eigentlich nur wenig: in seinem Team Basketball spielen, mit seiner Freundin Erin zusammen sein und Pläne machen, um aus Bellmont zu entkommen. Diese amerikanische Kleinstadt, die von der irischen Mafia gelenkt wird, bietet jungen Menschen keine Zukunft. Also planen die beiden jungen Leute so großartig Basketball zu spielen, dass sie eine Chance bekommen, an ein Sportcollege gehen zu können. Auch sein Vater und sein Großvater, welcher aufgrund einer Fehde mit der Mafia seine Beine verloren hat, unterstützen diesen Plan. Dann aber kommt Russ nach Bellmont, scheinbar durchgeknallt aber ein Ass im Basketball. Er hat beide Eltern bei einem Unfall verloren und lebt jetzt bei seinen Großeltern. Finleys Coach bittet ausgerechnet ihn, sich um Russ zu kümmern und ihn dazu zu bewegen, wieder zu spielen. Finleys Platz im Team ist dadurch akut bedroht. Als dann Erins Plan, ans College zu gehen auch noch zu platzen droht, scheinen alle Möglichkeiten aus Bellmont fort zu kommen, dahin.
Ein gutes starkes Buch, welches bis zum Schluss spannend erzählt ist aber auch Finley und seine Gefühle durch die gesamte Geschichte begleitet. Eine Geschichte von Loyalität, Freundschaft, erste Liebe und dem Erwachen des Geistes eines jungen Erwachsenen, der nach und nach seine eigenen Entscheidungen trifft und diesen auch zu vertrauen lernt.
Unbedingt lesenswert für Jugendliche ab 15 Jahren.
- KW Mord ist nichts für junge Damen
Ein Fall für Wells & Wong
Das Deepdean Internat für junge Mädchen 1934. Das Leben dort könnte so einförmig sein, gäbe es nicht die Detektei Wells & Wong, die die beiden Freundinnen Daisy und Hazel gegründet haben. Richtige spannende Ermittlungen gab es bisher aber leider nicht anzustellen. Dann aber findet Hazel die Lehrerin Miss Bell tot in der Turnhalle der Schule. Als sie mit Daisy zurückkehrt, ist die Leiche verschwunden und niemand glaubt den Mädchen. Also machen die zwei sich selbst ans Werk. Mit guter alter Ermittlungsarbeit versuchen sie herauszufinden, was geschehen ist. Dabei kommen sie der oder dem Schuldigen gefährlich nahe.
Obwohl die Geschichte um die beiden Mädchen 1934 spielt, stellt man sich das Leben in einem englischen Internat genauso oder so ähnlich auch heute noch vor. Sie ist daher keinesfalls altbacken zu lesen. Und das, was die beiden selbsternannten Detektivinnen so treiben, ist durchweg spannend bis zum erstaunlichen Ende. Daher freut man sich auf neue Geschichten um die Zwei. Mehr muss ein erster Band nicht leisten! Empfehlenswert für Mädchen ab etwa 12 Jahren.
- KW Harry Potter und das verwunschene Kind
Rowling, J.K.; Tiffany, John; Thorne Jack
334 Seiten, Carlsen
Die achte Geschichte um Harry Potter...als Theaterstück entworfen vom Trio von J.K.Rowling, John Tiffany und Jack Throne. Lässt sich ein Theaterstück als Buch umsetzen? Ja, in diesem Fall ist es gelungen. Der Inhalt ist in Akte und Szenen unterteilt, ausschließlich dialogisch geschrieben und ergänzt durch kurze Drehbuch-Hinweise zu Bühnenaufbau und Akteuren. Den Einen oder Anderen mag dieser Stil an die gelben, klassischen Literaturwerke des Reclam Verlags erinnern. Zugegeben, es dauert möglicherweise eine Weile, bis sich die Leser auf diese Art des Geschichtenverlaufs eingestellt haben. Vor allem, da auch die Protagonisten zunächst unbekannt sind, denn inzwischen sind in der Muggel- und Zaubererwelt 19 Jahre vergangen. Harry, Hermine und Ron sind erwachsen und führen ein Leben außerhalb der Zaubererschule.
Deren Kinder sind nun im Zentrum der Geschichte und setzen sich mit ihrem Dasein als Zauberer, sowie mit der Vergangenheit ihrer Eltern auseinander, in verschieden-großen Zeitsprüngen.
Dem Autorentrio ist es gelungen „Harry Potter und das verwunschene Kind“ an die sieben Harry Potter-Bände anzubinden, ohne es wie eine plumpe Fortsetzung wirken zu lassen.
Und vielleicht ist dies ein würdiger, runder Abschluss der Geschichten um „den, der nicht genannt werden darf“....
- SB Mädchenmeute
Fuchs, Kirsten
463 Seiten, Rowohlt
Charlotte hat die Wahl: entweder mit ihren Eltern in das Nest, in dem ihre Oma wohnt zu reisen, oder aber in ein Ferien-Fun-Survival-Camp. Pest oder Cholera? Sie entscheidet sich für das Camp, obwohl das Motto: „Der Wald will nichts von dir. Du willst was vom Wald“ nicht gerade vielversprechend klingt. Dass es dann das Abenteuer ihres Lebens wird, liegt daran, dass die sieben Mädchen plötzlich auf sich allein gestellt sind und versuchen, im Wald zu überleben. Ganze zwei Wochen Freiheit, ohne dass die Eltern ahnen, dass sie nicht mehr im Camp sind. Die Chance ihres Lebens. Aber fühlt sich so Freiheit an, den Alltag meistern ohne Erwachsene? Und warum ist Freiheit so anstrengend? Die Gruppe durchlebt viele Situationen, in denen Verantwortung tragen und Pflichten übernehmen gefragt sind. Das Leben im Wald ist schwierig, es mangelt an vielem. Umso besser, dass es einen guten Geist zu geben scheint, der hin und wieder Hilfestellung leistet. Doch wer ist dieser Geist und wie kommen sie alle heil wieder raus aus der Sache?
Ein Buch, welches zu Recht für den Deutschen Literaturpreis nominiert ist. Einfühlsam und mit zielgruppengerechten Worten beschreibt die Autorin, wie wunderbar das Leben als lernender Mensch doch sein kann. Weit weg von der digitalen Welt und ohne die Belehrungen von Erwachsenen führt dieses Abenteuer die Mädchen durch die schwierigste Phase der Pubertät; das Abnabeln vom Elternhaus und das Übernehmen von Verantwortung für das eigene Handeln. Ein sinngemäßes Zitat aus dem Buch bringt es auf den Punkt: „Für jeden Jugendlichen sollte es so ein Ereignis im Leben geben, welches den Übergang zum Erwachsenenleben markiert“. Vielleicht nicht für alle möglich? Nun, zumindest kann es dieses wunderbare Buch für alle geben, die es wissen mögen. Unbedingt verschenken!!
- KW Das hier ist kein Tagebuch
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Wie schafft es ein 16- jähriger damit klarzukommen, dass seine Mutter sich vor den Zug geworfen hat? Boudewijn schafft es nicht. Boudewijn ist müde. So müde, dass er gar nichts mehr tut: „Nicht zur Schule gehen, nicht essen, nicht schlafen, nicht reden wollen, nichts wollen, einfach überhaupt NICHTS“. Niemand kann ihn mehr in dieser grenzenlosen Erschöpfung erreichen, außer seiner kleinen Schwester Fussel, in deren Anwesenheit er manchmal einen leisen Trost findet. Sein Vater, der sich keinen Rat mehr weiß, zwingt ihn jeden Tag aufzuschreiben, was in ihm vorgeht und eine von den CD’s zu hören, die er ihm hinlegt. Anderenfalls muss er sich in eine psychiatrische Klinik begeben. Also schluckt Boudewijn diese Pille und beginnt zunächst zögerlich zu schreiben und zu hören. Ganz langsam tastet er sich heran an die verborgenen Verletzungen der letzten fünf Jahre seit dem Unglück. Und während sie alle wieder an die Oberfläche kommen die Erinnerungen, beginnt in ganz ganz kleinen Schritten ein Weg heraus aus der endlos scheinenden Müdigkeit.
Ein starkes, ein ganz anderes Buch über die Macht der Worte und der Musik. Sehr einfühlsam wird dem Lesenden über die Entwicklungen der Nichttagebucheinträge und der sich verändernden Wahl der Musikstücke der Prozess der Heilung erkennbar. Ein Buch das berührt und fesselt aber auch Mut macht, sich den eigenen Dämonen zu stellen. Ein Buch für dessen Beschreibung es mehr braucht als die Textzeilen einer Rezension. Also selber lesen! Empfehlenswert für ältere Jugendliche.
- KW Feldpost für Pauline
Nielsen, Maja
96 Seiten, Gerstenberg
Pauline hat das Cellospielen satt. Immer nur üben, üben, üben und Lampenfieber vor dem Wettbewerb hat sie auch. Also lieber aussteigen und nur noch in der Band von Nick mitspielen. Doch dann kommt ein Feldpostbrief von 1916, der lange verborgen lag an. Er ist an Pauline Lichtenberg gerichtet und wurde in Verdun abgeschickt von einem Wilhelm. Wie kann das sein und wieso hat sie noch nie etwas von Wilhelm gehört? Ihre Mutter schickt sie zu ihrer im Altenheim lebenden Großmutter Lieschen und diese erzählt ihr von ihrer Namensvetterin und ihrem Urgroßvater Wilhelm, der 1916 in Frankreich gekämpft hat und dem das Cellospielen einst das Leben gerettet hat. Und Pauline fängt an zu verstehen. Was es hieß, damals zu leben und im Krieg zu sein, aber auch wo ihr eigentliches Problem liegt. Und plötzlich ist das Cello wieder attraktiv. Eine Geschichte, die behutsam aber mit deutlichen Worten die Zeit des ersten Weltkrieges erfahrbar macht. Indem sie die Leben der beiden Paulines miteinander verknüpft, wird aus einer Zeit, die uns nichts anzugehen scheint, ein Stück heute. Wir verstehen, dass manche Dinge in allen Zeiten ähnlich sind. Ergänzt wird die Geschichte mit einer Zeittafel. Gut geeignet für Jugendliche ab etwa 13 Jahren und für den Schulunterricht.
- KW 28 Tage lang
Safier, David
404 Seiten, Rowohlt Taschenbuch
Die Jüdin Mira muss ihre Schwester Hannah und ihre Mutter versorgen, nachdem sich ihr Vater den Bedingungen des Warschauer Ghettos ergeben hat, indem er sich das Leben nahm und ihr Bruder zur Judenpolizei gegangen ist. Der einzige Weg, an Lebensmittel zu gelangen, ist der Schmuggel. Auf einem ihrer hochgefährlichen Streifzüge außerhalb des Ghettos wird sie durch beherztes Eingreifen von Stefan vor den Fängern der SS gerettet. Stefan ist Mitglied des Widerstandes gegen die Deutschen und will Mira anwerben. Doch erst, nachdem klar wird, dass allen Juden des Ghettos die Deportation in den Tod bevorsteht und Mira Mutter und Schwester im Überlebenskampf verliert, schließt sie sich tatsächlich dem bewaffneten Kampf an. Immer wieder stellt sie sich bei all der Gewalt um sie herum die Frage: „Was für ein Mensch willst du sein?“ Um nicht dem Wahnsinn anheim zu fallen, rettet sie sich in ihrer Traumwelt in die Geschichten, die ihre Schwester immer erzählt hat. Hier kann sie Hannah noch einmal treffen, bevor alles zu Ende geht…Bücher über die Vernichtung der Juden im Dritten Reich sind oftmals sehr schwere Kost und eignen sich nur selten zur Feierabendlektüre. Dieses ist bei „28 Tage lang“ von David Safier anders. Der Roman beruht zwar in weiten Teilen auf Tatsachen, so kommen etwa reale Personen und Ereignisse der Tage des Warschauer Ghettos vor, handelt aber dennoch von den Erlebnissen einer fiktiven Person. Durch die äußerst behutsame Erzählweise, die trotzdem nichts von den Schrecken auslässt, bekommt der Lesende einen hautnahen Eindruck der Geschehnisse. Dadurch, dass er die Protagonistin durch die 28 Tage begleitet, prägen sich die Geschehnisse sicherlich weitaus besser ein, als es reine Wissensvermittlung täte. Der Spannungsbogen wird die gesamte Zeit gehalten und das wiederum bedingt, dass man gar nicht aufhören kann, das Buch zu lesen. Ergänzt wird der Prosatext von Lehrermaterialien zum kostenlosen download. Daher ist der auch für den Schulunterricht bestens geeignet. Wichtig für junge Menschen ab etwa 15 Jahren.
- KW Der Tiger in meinem Herzen
Übersetzt von Maren Illinger
Arn Chorn-Pond, die reale Titelfigur des Romans, berichtet als Ich-Erzähler von seinem Überlebenskampf nach der Machtübernahme durch die Roten Khmer. Mit 11 Jahren wird er durch deren willkürliche Gewalt von seiner Familie getrennt. Beinahe 4 lange Jahre ist Arn Torturen ausgesetzt, bei denen er unermessliches Leid ertragen und grausame Gewalt miterleben muss. Während er ständig Hunger leidet und gemeinsam mit zahllosen anderen Kindern täglich 14 Std. arbeiten muss, behält er seinen wachen Verstand und leidet umso mehr, als er selbst immer wieder auch zum Täter werden muss, um zu überleben. Einzig sein Talent beim Spielen des Kambodschanischen Nationalinstruments, der Khim, schafft für ihn einen Sonderstatus, der gleichzeitig Fluch und Segen für ihn ist. Erst in der Rückschau Arns wird deutlich, wie sehr die Musik zu seinem Überleben beigetragen hat. Diese Rückschau ist es auch, die die Leser endlich entspannen lässt: Arn hat es geschafft, einige seiner Freunde und Geschwister auch. Arn wird von dem Amerikaner Peter Pond adoptiert und in die USA gebracht, von wo aus er, zunächst widerwillig, später mit einer dringlichen Aufgabe, dafür sorgt, dass die Geschichte der Kindersoldaten in Kambodscha bekannt wird. Wie unglaublich groß das Ausmaß menschlicher Grausamkeit und die Lust am Töten auch ist, hier wird ein Appell für Menschlichkeit und für die Macht der Vergebung an alle gerichtet. Mit einer bemerkenswerten Sprache schaffen Autorin und Übersetzerin ein historisches Zeugnis, dessen Inhalt oft kaum zu ertragen ist....
Wer großes Leid erlebt hat, kann oft nicht darüber sprechen. Patricia McCormick hat Arns Geschichte aufgeschrieben und zu einem packenden Roman verwebt. Das Buch hilft zu verstehen, wie Krieg Menschen zu Tieren macht. Es ist aber auch eine Hommage an die Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit. Gewalt ist in den Szenen an der Tagesordnung, die Lektüre setzt innere Reife voraus.
- JPS Der Tiger in meinem Herzen
Übersetzt von Maren Illinger
„Du erzählst deine Geschichte“, sagt Peter, „um die Menschen zu retten, die noch in Kambodscha sind. Aber auch, um dich selbst zu retten. Darüber zu sprechen, deine Geschichte zu erzählen, ist ein Weg, dich für das Leben zu entscheiden. Du bist bei den Lebenden. Nicht den Toten.“ Arn Chorn Pond wird als Elfjähriger 1975 von den Roten Khmer deportiert. In einem Kinderarbeitslager kämpft er ums nackte Überleben, begegnet den menschlichen Abgründen in allgegenwärtiger Grausamkeit und Tod. 1979 fallen vietnamesische Truppen in Kambodscha ein; Arn wird selbst zum Kindersoldat, bevor er sich in ein Flüchtlingslager nach Thailand rettet. Dort wird er von dem Amerikaner Peter Pond adoptiert. Auch in seiner neuen Heimat Amerika fällt es ihm schwer, den Tiger in ihm zu bändigen: „Mein Herz. Wie ein Tiger“, sage ich, „mein Herz ist wie ein Tiger in meiner Brust, kratzt an meinen Rippen, um auszubrechen. Es ist so viel Hass darin, dass es wehtut. Hass auf die Menschen, die meine Familie getötet haben, Hass auf die Menschen, die meine Freunde getötet haben, Hass auf mich selbst.“
Wer großes Leid erlebt hat, kann oft nicht darüber sprechen. Patricia McCormick hat Arns Geschichte aufgeschrieben und zu einem packenden Roman verwebt. Das Buch hilft zu verstehen, wie Krieg Menschen zu Tieren macht. Es ist aber auch eine Hommage an die Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit. Gewalt ist in den Szenen an der Tagesordnung, die Lektüre setzt innere Reife voraus.
- KP Der Zweifel ist das Wartezimmer der Erkenntnis
Zeitungsfibel
„Der Ort an dem ich bin, ist nicht ganz leicht zu erreichen“, dieser Eindruck verfestigt sich beim Lesen der Kapitel. Wie ein Kunstwerk, eine Collage aus unterschiedlichen ausgerissenen Zeitungsversatzteilen reihen sich die Texte aneinander und ergeben ein neues skurriles Bild, ergänzt von den eindringlichen Illustrationen der Autorin. Interessant als Gesamtkunstwerk, literarisch hat es mir nicht viel gegeben. Vielleicht am ehesten für den Kunst/Literaturunterricht als Anregung geeignet. Für ältere Jugendliche und Erwachsene
- KW Love crazy love
Welcher Verrückte hat eigentlich die Liebe erfunden?
Was für ein langweiliger Sommer! Da Clara durch’s Abi gerasselt ist, kann sie nicht mit all ihren Freunden auf die nachfolgende Reise gehen. Da scheint der Vorschlag, stattdessen ihren Vater über die Ferien zu besuchen, durchaus verlockend, obwohl er Chef einer psychiatrischen Klinik für Jugendliche ist und dort auch wohnt. Als sie ankommt, trifft sie dort Darius, den sie schon von der Theater-AG ihrer Schule kennt und in den sie seit damals verliebt ist. Wie aber soll sie die Chance nutzen, ihm hier näher zu kommen, wenn er Patient und sie die Tochter des Klinikleiters ist? Ganz einfach: sie muss Patientin werden. Sie lügt ihrem Vater vor, magersüchtig zu sein und schon ist sie mittendrin im Geschehen. Doch eine Lüge jagt die andere und die Lage wird bald unübersichtlich. Und als sie dann noch versucht, Darius zu heilen, damit er wieder an die Liebe glauben kann, bricht das Konstrukt zusammen… Die Jugendlichen in dem Roman haben alle ihre psychischen Probleme, die sie zu den Menschen machen, die sie zu sein scheinen. Erst ist Clara die scheinbar einzig Gesunde, aber bald scheint durch, dass auch sie mit ihrer Neigung, sich die Situationen zurecht zu lügen einer alten Verletzung folgt. Ein Liebesroman, eher für Mädchen, der aber auch Verständnis weckt für alle jungen Menschen, die eine Weile aus der Bahn geworfen worden sind. Da muss sich niemand allein wähnen mit dem Gefühlschaos der jungen Jahre. Daher empfehlenswert.
- KW Misty Falls
Die Macht der Seelen
Misty gehört – wie andere in ihrer Familie auch- zu den Savants. Diese besonderen Menschen verfügen alle über ganz spezielle Fähigkeiten, die sie einzusetzen lernen müssen. Mistys Gabe ist, dass sie immer die Wahrheit sagen muss und auch andere in ihrer Nähe dies tun müssen. Misty weiß zudem, dass Partnerwahl auch nicht so einfach ist wie bei anderen Menschen. Es gibt vielmehr den einen Seelenspiegel auf der Welt, den es zu finden gilt. Als sie dann eher zufällig auf Alex stößt, der tatsächlich ihr pendant sein soll, stellt sich auch noch heraus, dass seine besonderen Fähigkeiten nicht zu ihren passen. Er kann nämlich mit seinem Charme andere dazu bewegen, das zu tun, was er möchte. Und in Mistys Gegenwart kann er das nicht einsetzen. Holperig sind daher die ersten gemeinsamen Schritte. Und als dann noch ein verlorener Onkel auftaucht und Alex ganze Aufmerksamkeit will, wird alles noch komplizierter. Und wer mag dieser mordende Unbekannte sein, der es auf Savants auf der ganzen Welt abgesehen hat? Wem kann man noch trauen???
Ein Jugendroman, wohl eher für Mädchen um die 14 Jahren, der sich in erster Linie um die Themen Liebe und Freundschaft dreht. ‚Sie kriegen sich` oder sie kriegen sich nicht‘ ist lange das Thema. Zum Ende aber nimmt der Roman Fahrt auf und wird so spannend, dass man ihn unbedingt in einem Rutsch zu Ende lesen will. Daher: Empfehlenswert
- KW Das Fieber
übersetzt von Katharina Diestelmeier
Die Geschichte spielt im Herbst 1918, während der großen Pandemie der spanischen Grippe. Die 17jährige Cleo stammt aus wohlhabenden Verhältnissen und wurde nach dem Unfalltod ihrer Eltern von ihrem deutlich älteren Bruder Jack aufgezogen. Nun treten Jack und seine Frau Lucy eine längere Reise an, Cleo bleibt zuhause denn die Grippe scheint weit weg an der Ostküste. Aber dann tauchen die ersten Infektionen in Cleos Heimatstadt auf, die Schule muss schließen, und das gesamte öffentliche Leben kommt aufgrund der Epidemie zum Erliegen. Cleo hält es nicht mehr zuhause. Sie, die vorher nicht wusste, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte, folgt jetzt dem Aufruf des Roten Kreuzes, als Krankenschwester zu helfen. Sie besitzt einen Wagen und hat bei ihrem Bruder das Fahren gelernt. So wird sie beauftragt, abgelegene Stadtteile an zu fahren und dort Schutzmasken zu verteilen oder Erkrankte ohne Hilfe aufspüren, die sonst verlassen in ihren Wohnungen sterben müssten. Cleos Leben hat plötzlich einen Sinn: sie kann hilfreich sein in Zeiten größter Not, hat sie doch selbst einmal erlebt, wie es ist, verlassen und allein nur auf sich selbst gestellt zu sein.
Dieser überaus spannend geschriebene, historische Roman macht deutlich, wie viel sich in den letzten 100 Jahren in medizinischer Hinsicht getan hat. Trotzdem zeigt das Buch auch die immer gleichen Abgründe der Menschheit auf: wo große Infektionskrankheiten wüten, verlassen Menschen einander, um sich selbst in vermeintliche Sicherheit zu bringen...
- JPS Der lange Weg zum Wasser
Park, Linda Sue
128 Seiten, bloomoon
In „Der lange Weg zum Wasser“ von Linda Sue Park verweben sich zwei Geschichten zu einem Ganzen: Die eine spielt im Jahr 2008 und handelt von dem Dorfmädchen Nya aus dem südlichen Sudan. Die andere ist 1985 in der Zeit des Zweiten Sudanesischen Bürgerkriegs angesiedelt und hat den elfjährigen Salva als Protagonisten. Während Nya mehrmals am Tag weite Wege zur Wasserstelle zurücklegen muss, um das Überleben ihrer Familie zu sichern, begleitet der Leser den elfjährigen Salva auf seiner Flucht vor dem Krieg. Sie führt ihn durch den Busch, die Wüste, in Flüchtlingslager in Äthiopien und schließlich Kenia. Eine glückliche Wende nimmt sein Schicksal, als er Asyl in den USA erhält und dort von einer Pflegefamilie aufgenommen wird. Jahre später kehrt Salva in sein Heimatland zurück.
Die Autorin lernte den jungen Sudanesen kennen und hat nun mit „Der lange Weg zum Wasser“ sein Schicksal – und damit das vieler Lost Boys des Sudanesischen Bürgerkriegs – dokumentiert. Das Buch beschönigt nichts, lässt den Leser auch die grausamen Details seiner Flucht miterleben. Es macht betroffen, ist aber auch ein Quell des Muts: „Die Sohlen (…) bestanden ohnehin nur noch aus einzelnen Fetzen, die von ein wenig Leder und jeder Menge Hoffnung zusammengehalten wurden.“ In diesem Satz steckt die Botschaft dieses Buchs – und widersetzt sich damit der Wahrheit, die manchmal kaum zu ertragen ist.
Finsterer Sommer
Wildner, Martina
238 Seiten, Beltz & Gelberg
Allein die Vorstellung daran lässt schaudern: ein Sommerurlaub am französischen Atlantik, von der Ferienwohnung aus bei Ebbe zu sehen ein Bunker, in dem vor kurzem eine Frau umgekommen ist. Damit fängt für den 13-jährigen, schlaksigen Konrad und seine gleichaltrige, superschlaue Cousine Lisbeth ein „Finsterer Sommer“ an. So gegensätzlich die beiden auch sind, so haben sie doch ein gemeinsames Ziel: das Geheimnis um das Bauwerk und die mysteriösen Geschehnisse darin zu lüften. Denen sind, wie sich herausstellt, nicht nur sie auf der Spur. Eine spannende Suche beginnt. Ganz nebenbei lernen sie dabei eine ganze Menge über den Nationalsozialismus – mehr, als ihnen lieb ist.
Grandios besetzt sind neben den beiden Protagonisten auch die Nebencharaktere, beispielsweise Konrads Mutter Anja, Unterwäsche-Designerin, „der Sixpack-Bademeister zum Verlieben“ Jean-Luc oder der sechsjährige, lispelnde „Nervzerg“ Nick. Martina Wildner liebt Überzeichnungen und Kontraste. Wie Konrads Vater die lebendigen Austern kostet der Leser die überraschenden Pointen und das Wechselspiel aus nass-salzig und sandig-heißer Stimmung aus. „Finsterer Sommer“ ist ein Jugendkrimi mit kleinen Seitenhieben in die Magengegend der Gesellschaft. Empfehlenswert!
Das Mädchen und der Soldat
übersetzt von Mirjam Pressler
Schwarz auf weiß und weiß auf schwarz. Und Grün. Auf den weißen Seiten erfahren wir aus der Sicht des blinden Mädchens von seiner Begegnung mit dem Soldaten, der außer, dass er nach Soldat riecht, auch noch den warmen Geruch von gerösteten Nüssen an sich hat. Der Soldat, dessen Schilderungen auf den schwarzen Seiten mit weißer Schrift erzählt werden, wählt die Bank in der Sonne gegenüber dem Wirtshaus, auf die sich das Mädchen auch immer setzt. Sie setzt sich zu ihm, weil es sie nicht stört, dass er schwarz ist. Sie sprechen mit einander, erzählen sich von Afrika, von zuhause, von ihren Familien. Der Vater des Mädchens ist auch im Krieg. Eines Tages backt das Mädchen ein Brot für den Soldaten. Aber im ständigen Wechsel zwischen seinem Dienst an der Front und den wenigen freien Tagen auf der Bank in der Sonne entsteht ein bedrohliches Loch. Das Mädchen macht sich auf, um den Soldaten zu suchen, läuft bis ins Soldatenlager und denkt am Ende, er sei tot. So hatte sich der Soldat auch gefühlt, aber wie durch einen Wink des Schicksals treffen sich die beiden wieder und gemeinsam essen sie das Brot auf der Bank in der Sonne. Auf grünen Seiten.
Mit ihrer ruhigen und poetischen Sprache, von Mirjam Pressler punktgenau übersetzt, beleuchtet die Autorin eindrucksvoll die Zeit des 1. Weltkriegs in Belgien. Zusammen mit den ausdrucksvollen Gemälden der Illustratorin Ann de Bode entsteht ein dichtes Bild von der Trostlosigkeit des Krieges und der Kraft der Hoffnung auf Frieden. Ein atemberaubendes Stück Weltgeschichte im Taschenformat - absolut gelungen!
- JPS Dass Ich Ich bin, ist genauso verrückt wie die Tatsache, dass Du Du bist
Ein Roman in Listen
7 Tatsachen, die man über dieses Buch wissen sollte:
1.
Ein 16 jähriger namens Darren erkennt, dass seine Vorstellung von der Welt nicht mehr aktuell ist;
2.
Er muss schmerzlich begreifen, dass jeder Mensch nur der sein kann, der er ist;
3.
Das gilt auch für seine Eltern;
4.
Er findet die eine Person, die zu ihm zu gehören scheint und fragt sich, wer sie ist;
5.
„sie ist Zoey, das ist alles“;
6.
er verliert sie wieder;
7.
Darren trifft eine Entscheidung;
Wer den „Fänger im Roggen“ gelesen hat, wird sich auf eine sehr moderne Art an diesen erinnert fühlen. In Listen führt der Roman durch das Gefühlsleben des jungen Darren, der auf für ihn schmerzvolle Art erwachsen werden muss. Junge Menschen ab 14 Jahren werden durch die besondere Erzählart angesprochen und nehmen darüber sicher auch für ihr Leben etwas mit. Ein Buch, welches man daher jedem Heranwachsenden auf den Schreibtisch legen sollte.
- KW Das Herz von Libertalia
Kuschnarowa, Anna
461 Seiten, Beltz & Gelberg
Anna Kuschnarowa schreibt diesmal über das Leben der sagenumwobenen Piratin Anne Bonny. Sie lässt Anne Bonny selbst erzählen, beginnend im Rückblick, aus dem Gefängnis von Santiagio de la Vega auf Jamaika.
Hier wartet sie gemeinsam mit ihrer Crew auf ihren Prozess, dessen Ausgang schon sicher scheint: Tod durch den Strang, wie für alle Piraten. Die Leser - und besonders die Leserinnen - erfahren hier von einer Zeit, in der die Rolle der Frau absolut festgelegt war: hübsch sein, eine gute Partie machen/heiraten, Kinder bekommen und zeitlebens tun, was andere vorschreiben. Das erste Kriterium erfüllte Anne wohl über die Maßen, sie soll atemberaubend schön gewesen sein. Doch sah sie für sich, die sich bereits vom freien Leben der Jungen und Männer einen eigenen Eindruck gemacht hatte, indem sie Männerkleidung trug, keine Rückkehr mehr in den Käfig der gesellschaftlichen Zwänge. Die Ungerechtigkeit der so genannten „Freien Welt“, die Sklaven hielt und Indianer ausrottete und das alles als göttlichen Willen hinstellte, trieb sie förmlich in die Arme der Freibeuter und Piraten. Sie heiratete den unbekannten Piraten James Bonny und entzog sich so dem väterlichen Willen. Da sie schon immer zur See fahren wollte, unter Anderem um den sagenhaften, freien Inselstaat Libertalia zu finden, heuerte sie bei einem bekannten Piratenkapitän an. Sie fand Libertalia nicht, aber sie fand eine andere Frau, die in Männerkleidern Seite an Seite mit ihr kämpfte: Mary Read. Und vielleicht fand sie auch ein Schlupfloch, um dem Tod durch den Strang zu entkommen. Ihre Spur verläuft sich im Nirgendwo. Kuschnarowa nutzt das als Möglichkeit für ein gutes Ende ihres Romans. Sorgfältig recherchiert, sprachlich authentisch und mit unbändigem Freiheitswillen geschrieben, welch ein fulminanter, historischer Jugendroman!
- JPS Crazy dogs
Werner, Brigitte
480 Seiten, Freies Geistesleben
Die junge Ich-Erzählerin Mirjam gibt uns mit tagebuchartigen Einträgen Einblicke in ihr Leben, begonnen im Alter von 13 Jahren, am Ende des Buches ist sie 18. Der Weg dieses jungen Mädchens zu Selbstbewusstsein und Individualität wird von ihrer Liebe zur Musik, besonders dem Blues bestimmt. Zusammen mit den Crazy Dogs, das sind Mirjams musizierenden Freunde der selbst gegründeten Bluesband, die sich gegenseitig mit freundschaftlicher Nähe unterstützen und stärken, kann sie bestens wachsen und gedeihen. Als ihr geliebter Vater Pom mit dem Motorrad tödlich verunglückt, bekommt das musische und familiäre Idyll tiefe Risse und es sieht zunächst nicht so aus, als ob Mirjam diese Ereignisse unbeschadet überstehen könnte.
Was mich beim Lesen gleichermaßen berührt und verstört, ist die Tatsache, dass die Geschichte in den 80er Jahren spielt. Hier tauchen Möglichkeiten meiner eigenen Jugend in ähnlichen lokalen Verhältnissen auf und der Ruhrpott wird durch seine menschlichen Werte gleichsam geadelt. Jedoch - wen könnte das sonst noch interessieren? Eine Jugend ohne ein einziges Handy und mit hippiehaftem Bekleidungscharme, mit Räucherstäbchen und selbst gebasteltem Schmuck- bitte sagt mir Bescheid, ihr 13 bis 18 jährigen: eure Meinung interessiert mich!
- JPS Bo
Merkel, Rainer
688 Seiten, Fischerverlage
Diese Geschichte spielt angeblich an drei Tagen, doch zusammen mit Benjamin, der eigentlichen Hauptfigur dieses Romans, verlieren wir im afrikanischen Liberia schon nach kürzester Zeit die Orientierung. Benjamin kommt aus Berlin, Brilliant aus den USA und Bo aus Monrovia, wo sich alle drei dreizehnjährigen Hauptfiguren treffen. Bo ist blind, Benjamin will eigentlich 3 Wochen mit seinem Vater verbringen, der im Auftrag der GTZ in Libarias Hinterland eine Brücke baut und Brilliant scheint ein verwöhntes und manipulatives junges Mädchen zu sein, das seinen schwerreichen Onkel besucht. Gleich zu Beginn landet Benjamin ohne Pass und Geld am Flughafen und der Vater, der ihn abholen sollte, ist nicht da und taucht auch nicht auf. Brilliants Onkel hilft Benjamin, überhaupt ins Land zu kommen, doch als Weißer gibt Benjamin eine Prima Zielscheibe ab für Trickbetrüger, wortgewaltige Verkaufstalente und jede Menge Neugieriger. Aber auch die anderen Liberianer lernen wir kennen, allen voran den christlichen Taxifahrer Max, der Benjamin aufsammelt und zu Bo fährt, damit die Jungen Gesellschaft haben. So werden Bo und Benny ein Team. Bo wird einerseits recht kindlich dargestellt, andererseits aber besitzt er eine Menge afrikanische Chuzpe und Herzenswärme. Brilliant, die auf Benjamin schon im Flieger aufmerksam geworden war, wittert unterhaltsame Abenteuer zusammen mit diesem weißen Jungen, macht ihn ausfindig und schließt sich der Gruppe an. Und abenteuerlich wird es wirklich - ein eindrucksvolles Road-Movie der afrikanischen Art, ein Selbstfindungstrip für Benjamin und ein eindrucksvoller Roman für Langstreckenleser, die sich von fast 700 Seiten und einem langweiligen Buchcover nicht abschrecken lassen!
- JPS Bet empört sich
übersetzt von Annette Kopetzki
Elisabetta, die Bet genannt werden will, ist 17 Jahre und eine aufmüpfige junge Frau. Sie lebt mit Mutter und Stiefvater in Turin, nach dem ihr Vater, ein Gewerkschafter, nach Rom gegangen ist. Die streitbare Bet lebt mit der angepassten Welt auf Kriegsfuß, sei es in der Schule, in ihren Beziehungen oder zuhause. Angetrieben von dem Wunsch, die Welt ehrlicher und gerechter zu machen, galoppiert Bet durch ihr Leben, reißt dabei vieles um und manches ein und rammt auch Freunde und Freundinnen. Die hochschwangere Viola wird von Bets Temperament umgerissen und weiß kaum, wie ihr geschieht und Andrea, ein Klassenkamerad mit politischem Engagement bekommt urplötzlich Gelegenheit zum Handeln. Die Icherzählerin ist stellenweise kaum zu ertragen, so sehr ist sie in ihrem gesellschaftskritischen Strudeln verfangen- aber sie erinnert mich auch gewaltig an mich...Frascella gelingt hier ein atemberaubendes Statement für Jugendlichkeit und Revolution- Werte des alten Europas für eine immer noch aktuelle Hoffnung auf ein menschliches Leben.
- JPS Über ein Mädchen
übersetzt von Brigitte Jacobeit
Die Icherzählerin Anna weiß schon seit sie 6 Jahre alt ist, dass sie „anders“ ist-
in ihrem Fall bedeutet das lesbisch. Allerdings fühlt sie sich so fremd in der Welt, ihrer Familie, ihrer Umgebung, dass sie sich nicht auch noch mit einem Outing belasten will. Im ersten Teil des vorliegenden Romans erfahren die Leser von der Liebesgeschichte zwischen Anna und Flynn, die eigentlich Rose heißt. Vorsichtig, romantisch und voller Widersprüche lassen sich die beiden Mädchen auf einander ein, verlieben sich, begehren sich und leiden aneinander. Der zweite Teil erläutert Annas Lebenshintergründe vor ihrem Umzug nach Canberra, wo sie Flynn kennen lernte. Persönliche Krisen, der Unfall ihrer Schwester Molly und Annas Orientierungslosigkeit im Zusammenhang mit ihrem Studium tragen dazu bei, dass Anna sich einen deutlichen Ortswechsel wünscht. Am Ende des dritten Teils ist sie zu ihrer Mutter und Schwester zurückgekehrt, hat sich von Flynn getrennt und nimmt ihr Studium wieder auf. Aber natürlich ist sie sich selbst dabei ein Stück näher gekommen... Diese leise und romantische Mädchen-Liebesgeschichte ist ein typischer Coming-of-age-Roman der anderen=weiblichen Art. Mit seinem Vintage-Charme außen und innen spricht es bestimmt reichlich junge Mädchen an...
- JPS Aristoteles und Dante
entdecken die Geheimnisse des Universums
Aristoteles ist ein zurückgezogener, mexikanischstämmiger Junge, der sich daran gewöhnt hat, mit Ironie und etwas Selbstmitleid auf seine derzeitige, schwierige Lebensphase als 15-jähriger zu blicken. Dann trifft er Dante. Genauso alt und genauso mexikanisch-stämmig, aber wortgewandter, selbstsicherer - und schwimmen kann er auch. Dante bringt Ari nicht nur das Schwimmen bei, sondern zeigt ihm neue Aspekte des Lebens, auf die er alleine nicht gekommen wäre. Gemeinsam sprechen sie über ihre Zweifel, ihre Eltern, besonders über die Väter, die so unterschiedlich sind. Sie sprechen über den totgeschwiegenen Bruder Aris, der schon lange in Haft ist und natürlich sind sie die ganze Zeit auf der Suche nach sich selbst...Und dann passiert dieser Unfall, der die Beziehung der beiden Jungen vollkommen neu ausrichtet.
Mir hat es besonders die Sprache von Benjamine Alire Saenz angetan: leise, intensiv und poetisch. Wunderbar übersetzt von Brigitte Jakobeit; wie die beiden Jungen miteinander reden, wie sie mit ihren Eltern reden. Überhaupt wird in diesem Buch viel geredet. Das ist toll. Man könnte Jugendlichen über dieses Buch sagen: lest es nicht! Es wird die ganze Zeit nur gelabert. Keine Action, kein Sex, keine Verfolgungsjagden. Vielleicht wäre es dann so richtig interessant. Für mich ist es eines der besten Bücher zur männlichen Adoleszenz!
- JPS Als gäbe es einen Himmel
übersetzt von Mirjam Pressler
Es macht Mühe, diesen Roman wieder aus der Hand zu legen, weil er tatsächlich von Anfang bis Ende fesselt. Und am Ende bleibt man zurück mit einem Gefühl von gemeinsam Erlebtem, von mit den Protagonisten geteilter Zeit - mehr kann ein Roman nicht erreichen!
Drei Geschwister und ihr gemeinsamer Freund geraten gemeinsam mit ihren Familien in dem flämischen Ort Hasselt unter den zunehmenden Terror der Nazis. Gleichzeitig wird auch in Flandern massiv um Freiwillige geworben - mit offener Unterstützung der katholischen Kirche. Jefs Vater verbietet seinem Sohn auch nur daran zu denken, die Deutschen zu unterstützen, ganz egal, was der Pfarrer sagt. Aber Jefs bester Freund Ward, ein smarter Junge und hervorragender Saxofonist, außerdem der Liebste von Jefs Schwester Renée, lässt sich nicht aufhalten, nicht mal von Renée. Und Remi, der Jüngste, muss wohl für immer warten dass Ward ihm das Saxofonspielen beibringt...Els Beerten erzählt aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der 4 Protagonisten, während die Handlung spannungsreich und leichtfüßig zwischen den Zeiten und Figuren wechselt.
Dabei wird so eindrücklich von Konflikten zwischen Freundschaft und Leidenschaft, Feigheit und Loyalität, Politik und Kirche, Familie und Eigenständigkeit erzählt, dass es wohl keinen Leser kalt lassen kann.
Die Brutalität des Krieges wird schonungslos als die Gewalt gezeigt, die aus Menschen mit Hunger, Angst und Hass verzweifelte und rücksichtslose Wesen machen kann - ein wunderbares und wichtiges Buch für alle, die im Frieden leben dürfen.
Alles- worum es geht
übersetzt von Sigrid C. Emgeler und Birgitt Kollmann
Mit diesem Buch schreibt Janne Teller die konsequente „Fortsetzung“ ihres Buches „Nichts“. Nichts war in Dänemark zunächst verboten, wurde dann 2001 mit dem dänischen Kinderbuchpreis ausgezeichnet und seitdem in 25 Sprachen übersetzt. Auch mit „Alles“ schafft es Janne Teller wieder, zu polarisieren: acht Essays und Kurzgeschichten erzählen von dem, was den verschiedenen Protagonisten in den 8 Geschichten wichtig ist. Immer geht es um Gewalt, immer „dient“ diese Gewalt einem vermeintlichen Zweck. Auch hier, wie bei „Nichts“ sind wir Leser unmittelbar aufgefordert, uns zu positionieren und zu identifizieren. Wie wir dem Klappentext entnehmen können, sind die Kurzgeschichten zu verschiedenen Zeiten und an verschiedene Zielgruppen gerichtet entstanden. Dennoch gibt es keine Rückzugsräume, in die sich der Leser flüchten könnte, alle Geschichten sind unmittelbar und damit verstörend. Tellers kraftvolle Sprache und „Null-Distanz“ zu ihren Figuren macht die Leser gleichzeitig zu Opfern und Tätern. In der letzten, der achten Kurzgeschichte, schreibt Teller über das „Alles“ in sich, über ihren persönlichen Zwang zum Schreiben und das sie sich so die Welt aneignet. Auch hier spürt man ihr Ringen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit.
- JPS Adios Nirvana
übersetzt von Karsten Singelmann
Ein Jugendbuch für Gitarrenspieler, eines für Poeten und Slampoeten, für Walt Wittmann-Verehrer, für Coole-Sprüche-Sammler, für Jugendliche mit Hang zum Drama und für Zwillinge, natürlich. Jonathan, der Erzähler, ist der übrig gebliebene Zwilling, nachdem sein Bruder Edward tödlich verunglückt ist. Er muss lernen, als Einzelner zu überleben, was ihm wahrhaftig nicht leicht fällt, schulisch steht der einst erfolgreiche Schüler und ausgezeichnete Dichter bereits kurz vorm Absturz. Nur seine engsten Schulfreunde, die Dickies, haben eine ungefähre Vorstellung davon, wie Jonathan mit dem eigenen Ende flirtet, weil ihm das Leben ohne seinen Bruder nicht mehr lebenswert erscheint. Der Auftrag, die Lebenserinnerungen eines alten Journalisten, der im örtlichen Hospiz wohnt, aufzuschreiben, ist ein Deal zwischen der Schule, dem Jugendlichen und dem alten Mann, der sich Jonathan als „Sprachrohr“ ausgesucht hat. Er soll ihm eine adäquate Möglichkeit bieten, schulisch den Anschluss nicht zu verpassen. Was jedoch wirklich passiert, spiegelt sich in der veränderten Wahrnehmung Jonathans: er überwindet
Ängste und Grenzen, entdeckt in sich auch den Musiker neu, dessen Rolle er bisher immer dem Bruder zugewiesen hatte und lernt, das Leben als solches zu feiern...
2084. Noras Welt
übersetzt von Gabriele Haefs
Nora, kurz vor ihrem 16. Geburtstag, ist ein junges, norwegisches Mädchen, das sich sehr für die Natur und deren aktuellen Zustand interessiert. Sie verfolgt besorgt das Arten-sterben und macht sich globale, ökologische Gedanken. Immer schon sehr fantasie-begabt, bemerkt Nora, dass sie Situationen und Menschen aus anderen Zeiten trifft, bzw. von ihnen träumt. Um abzuklären, ob Nora krank ist, fährt sie in Begleitung ihrer Mutter und ihres Freundes Jonas nach Oslo und lernt dort den Psychiater Dr. Benjamin kennen. Von ihm erhält sie den Tipp, ihre Besorgnis ernst zu nehmen und eine Umweltgruppe zu gründen. Anlässlich ihres Geburtstages erbt Nora den über 100 Jahre alten Rubinring ihrer Tante Sunniva, um den sich eine Menge Geschichten ranken – so soll er ein Wunsch-Ring sein. In der Nacht vor ihrem Geburtstag erscheint Nora im Traum sie selbst als ihre eigene Urgroßmutter. Auch ihre Urenkelin Nova ist dort und Nora bekommt Einblick in die Welt in 72 Jahren. Aufgerüttelt von diesem und weiteren Träumen beginnt Nora, konkret an der Verbesserung der Welt zu arbeiten und gegen das Fortschreiten der Klimakatastrophe anzugehen. Die Geschichte wechselt zwischen den Zeiten hin und her, mal erzählt Nora mal Nova von den konkreten Problemen in der Welt. Kenntlich gemacht durch die unterschiedliche Typographie und durchaus fesselnd ist hier der Leser aufgefordert, über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken, so wie Nora es tut. Wer jetzt jung ist, wird 2084 noch erleben, die Chance besteht darin, aktiv zu werden. Sehr nachvollziehbar von der Jugendjury auf die Nominierungsliste gesetzt...
- JPSWer kennt es nicht? Das Gefühl, das uns ohne Vorwarnung überfällt, wenn wir zufällig auf Spielzeug aus unserer Vergangenheit – oder manchmal noch heftiger – aus der Vergangenheit mit unseren Kindern, stoßen. Alle damaligen Empfindungen ballen sich im Bauch und machen uns eine Weile ganz weich.
Dem Autor kann es nur ebenso gegangen sein, schafft er es doch in seinen Gedichten vom Dachbodenfund uns auf seine ganz persönliche Zeitreise mitzunehmen. Mit knappen Worten werden die Funde ausdrucksstark und aufs Wesentliche beschränkt beschrieben und wir scheinen sie alle zu kennen: die Filztiere, Barbies, Autos und sonstigen Schätze.
Mit wenigen ansprechenden Zeichnungen vom Autor illustriert. Ein schönes Geschenk für (junge) Erwachsene.
- KW Nowhere man
Miler, Christoph
320 Seiten, °luftschacht
Christoph Miler erzählt in diesem Buch die Geschichten von 6 illegalen Migranten. Jede dieser Personen hat einen Namen, ein Schicksal, einen Hintergrund. Ihre politischen, sozialen und kulturellen Lebens- und Arbeitsbedingungen sind in unserer globalisierten Welt komplett ins Ungleichgewicht geraten. So wird der Akt der illegalen Migration die beinahe zwangsläufige Folge aussichtsloser Existenz. Mit Karten, Fotos, Werbung, Illustrationen, Fernsehbildern und Videostills collagiert Miler zusätzliche Bildeindrücke und stellt sowohl typografisch als auch mit seinem Layout Bezüge zwischen den Protagonisten und den Bildern her.
Über eineinhalb Jahre hat Christoph Miler Gespräche mit illegalen Flüchtlingen geführt und ihre Geschichten dokumentiert. Verdichtet als bespielhaft-episodenartige Lebensläufe sind sie erschreckend spannend zu lesen. Besser begreifen wir die aktuelle Situation als Folge globaler Ereignisströme und Machtstukturen, an denen wir selber mitwirken, als die Schuld bei denen zu suchen, die bei uns um Essen und Arbeit anfragen...Ein wahrhaft informatives und dabei leicht lesbares Standardwerk über Migration für alle über 15!
- JPS Die Welt wär besser ohne Dich
aus dem Amerikanischen von Fransziska Jaekel
Lara ist überglücklich. Sie hat die Mittelschule hinter sich und ist mit dem neuen Wunschgewicht auch das Image des Specki endlich losgeworden. Jahrelang hat sie unter den Hänseleien gelitten und darüber auch ihre beste Freundin Bree verloren, indem sie keine gute Freundin mehr war. Jetzt aber scheint alles gut zu werden, denn ein wahrlich süßer Junge interessiert sich auf facebook für sie. Ausgerechnet sie erwählt er und chattet ständig mit ihr. Plötzlich aber wendet sich das Blatt und er beleidigt sie auf das Schlimmste. Und erhält im Netz viel Zuspruch für seine Kommentare. Nachdem er postet, die Welt sei besser ohne sie dran, versucht sich Lara das Leben zu nehmen. Sie wird gerettet und versucht mit Hilfe ihrer Therapeutin nach vorn zu schauen. Noch ahnt sie jedoch nicht, dass das Schlimmste ihr noch bevorsteht…
Die Autorin nähert sich dem Thema cybermobbing von unterschiedlichen Seiten. Sie beleuchtet einfühlsam die Rollen und Empfindungen der beteiligten Familienmitglieder. Diese unterschiedlichen Sichtweisen werden durch die Struktur des Romans – jede der beteiligten Hauptpersonen kommt abwechselnd zu Wort- noch betont. Am Ende gibt es viele Opfer und eigentlich ist niemand nur Täter. Ein wichtiges Buch um sich mit dem Thema cybermobbing auseinander zu setzen. Schnell wird eindringlich deutlich: Ein unüberlegtes gesprochenes Wort kann mit einer Entschuldigung entschärft werden, eine unüberlegte Äußerung kann dir im Netz zum Verhängnis werden.
- KW Manchmal dreht das Leben einfach um
Steinberger, Kathrin
278 Seiten, Jungbrunnen
Nach einem schweren Unfall muss der 21-Jährige Kevin seine Karriere als Profi-Skater aufgeben. Er zieht sich auf einen Bauernhof in einer unbenannten Kleinstadt in Österreich zurück. Dort trifft er auf die 16-Jährige Almuth, kurz Ali. Beide sind Außenseiter, jeder auf seine Weise: Ali ist hochbegabt, Kevin als Ex-Skate-Profi der reiche, coole und einfühlsame Held, den eine Aura des Unnahbaren umgibt.
Die Spannung steigt bis zum ersten Kuss, um sich dann in langatmigen Passagen über den ersten Sex und Verhütung zu verlieren. Ein unerwartetes Ende versöhnt den Leser wieder mit dem Buch. Die Geschichte wirkt glaubwürdig und authentisch, weil Steinberger die Sprache der Jugendlichen spricht und ihre Lebenswelt genau trifft. „Manchmal dreht das Leben einfach um“ ist für Mädchen in Alis Alter geschrieben. Und für Eltern, die versuchen möchten, ihre pubertierenden Töchter zu verstehen.
Mehr als das
übersetzt von Bettina Abarbanell
Der 16-jährige Seth ertrinkt im Meer. Wenig später erwacht er nackt und durstig an einem verlassenen Ort, der ihm seltsam vertraut vorkommt. Unklar, ob er tot ist oder lebt, fragt sich Seth, wie er in diese Situation geraten konnte. Er ist scheinbar ganz allein auf der Welt, in einer Gegend, die er von früher kennt.
Eine Reise in die Vergangenheit beginnt, die furchtbare Erinnerungen in ihm auslöst. Ist er in seiner privaten Hölle gelandet?
Der Lesende fühlt sich wie ein Schatten Seths, er begleitet ihn durch die Erlebnisse und die Erinnerungen und teilt seine Erkenntnisse. Das Bild wird klarer. Man taucht ein in eine andere Welt und fragt sich instinktiv, ob an Teilen dieser Erzählung vielleicht etwas dran sein könnte. Am Anfang braucht es ein wenig, um sich an die Art zu schreiben zu gewöhnen, die Erzählung lässt den Lesenden aber nicht vom Haken, denn ständige überraschende Wendungen erhalten den Spannungsbogen. Es geht um die Frage, was das Leben letztendlich ausmacht. Super auch für Jugendliche, die sich mit philosophischen Themen beschäftigen möchten und alle die, die selber weiterrätseln wollen. Denn eines leistet diese Geschichte nicht: Sie löst nicht auf.
- KW Löcher
Die Geheimnisse von Green Lake
Stanley Yelnats hat ein schweres Los zu tragen. Der Fluch seines Ururgroßvaters lastet auf ihm und brockt ihm ein, dass er zu Unrecht beschuldigt wird, die Turnschuhe des berühmten Clyde Livingston gestohlen zu haben. So landet er im Camp Green Lake, eine Besserungsanstalt für Jungen. Schnell muss er erkennen, dass „es kein Lager für Pfadfinderinnen“ ist. Der Green Lake ist kein See mehr, sondern eine trockene heiße Fläche. Die jungen müssen Tag für Tag ein Loch graben, in das der Spaten sowohl hoch wie längs reinpasst. Aber was zunächst wie eine Charakterbildungsmaßnahme anmutet, lässt bald vermuten, dass etwas anderes dahinter steckt. Denn warum ist die Chefin so erpicht drauf, dass alles, was in einem Loch gefunden wird, direkt ihr gemeldet werden muss?
Die Erzählung um Stanley Yelnats, dessen Name sich von vorn und rückwärts lesen lässt, berührt den Lesenden auf eine besondere Weise. Sie ist spannend und komisch, aber auch anrührend und lehrreich zu lesen. Die Geschichten über Stanleys Ururgroßvater und ihn selbst werden miteinander verwoben und spinnen eine ganz besondere Atmosphäre, die bis zum wunderschönen Ende erhalten bleibt.
- KW Mit Worten kann ich fliegen
aus dem Amerikanischen von Schröer, Silvia
Melody hat eine besondere Begabung. Sie hat ein photografisches Gedächtnis. Alle Worte, die sie hört und liest, prägen sich auf immer in ihrem Gedächtnis ein. Nur niemand weiß davon. Denn Melody ist elf Jahre alt und hat noch nicht ein Wort gesprochen. Sie hat seit ihrer Geburt Zerebralparese, kann weder laufen, noch selbstständig essen und auch keinen Stift halten und eben nicht sprechen. All ihre Gedanken und all ihre Intelligenz sind in ihrem Kopf eingesperrt.
Obwohl ihre Eltern ahnen, dass sie mehr ist, als nur wach im Kopf, muss sie in eine besondere Schulklasse gehen, in der Kinder mit Behinderungen mehr verwahrt als unterrichtet werden.
Als in ihrer Schule Integrationsklassen eingerichtet werden, hat sie zeitweise anspruchsvolleren Unterricht mit den anderen in ihrem Alter. Aber erst, als sie einen Computer erhält, der ihr ermöglicht durch Tastendruck Sprache zu erzeugen, nehmen die anderen sie überhaupt wahr.
Ein Mädchen bringt es auf den Punkt: „Ich will nicht gemein sein – ehrlich- aber mir ist einfach noch nicht in den Sinn gekommen, dass Melody Gedanken in ihrem Kopf haben könnte“
Als dann klar wird, was sie alles drauf hat, nimmt sie mit einer Auswahl ihrer Klasse am Wettbewerb der Superhirne teil. Aber kann das gutgehen?
Es gibt sie, diese zwei Melodys in dieser Geschichte. Die, die nach außen sichtbar ist und die, durch deren Gedanken uns die Autorin führt. Am Ende des Buches gibt es nur noch eine Melody und so soll es idealerweise sein.
Es ist ein starkes Buch, ein wichtiges Thema, welches uns die Autorin da vorsetzt. Ein Buch für Schülerinnen und Schüler, aber auch für Lehrerinnen und Lehrer, die sich der Herausforderung Inklusion gegenüber sehen. Ein Buch für alle, die sich bisher gefragt haben, ob Kinder mit Behinderungen wirklich gemeinsam mit anderen ihres Alters lernen sollen.
- KW Das verdrehte Leben der Amelie
Beste Freundinnen Band 1
Das Leben mit 14 Jahren ist verwirrend genug. Wenn sich dann noch die beste Freundin verliebt und sich nur noch alles um IHN dreht, wird es nahezu unerträglich. Denn wem soll Amelie jetzt erzählen, dass sich ihre Mutter peinlicherweise in den Schuldirektor verguckt hat? Und dann ist da noch Pseudo- Ryan, der eigentlich Nicolas heißt und in dessen Nähe Amelie plötzlich nicht mehr normal reden kann. Sie wird sich doch wohl nicht auch noch verliebt haben…
Ein schöner Roman über eine kluge 14 jährige, die über das ein oder andere stolpert, aber auch Vieles gut durchschaut und zu erklären vermag. Ein Buch über Verlust und Verlieben, über Mütter und Töchter und eben beste Freundinnen. Im modernen Tagebuchstil geschrieben. Super zu lesen. Empfehlenswert für Menschen ab 12 Jahren.
- KW Schneller als die Angst
9 rasante Kurzkrimis
Schutzgelderpressung, das Ausschalten von Konkurrenten, Mord, Drogenschmuggel und vieles mehr, die Welt der Verbrechen ist groß und Krimis darüber wurden schon zahlreiche geschrieben. Hier jedoch heißen die beteiligten Protagonisten Paula, Laurin, Oliver und Max und sind noch Kinder. Sie sind verstrickt in verbrecherische Handlungen oder gefährliche Situationen. Sie müssen sich aus brenzligen Lagen befreien und einen kühlen Kopf behalten. Neun Schriftsteller und Schriftstellerinnen präsentieren je einen Kurzkrimi. Sie lassen sich alle gut lesen und enthalten so manche überraschende Wende. Sie berühren teilweise aktuelle Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen und sind daher geeignet für Kinder ab etwa 12 Jahren.
- KW Für immer Holly Hill
Pilz, Alexandra
382 Seiten, Heyne fliegt
Emily ist schweren Herzens nach Hause zurückgekehrt zu ihrer Oma. Es fällt ihr sehr schwer, Matt zu vergessen, den sie in dem mysteriösen zeitreisenden Hollyhill zurücklassen musste. Sie hat beängstigende Träume, in denen Matt erschossen wird. Als sie ihrer besten Freundin Fee davon berichten will, ist diese verschwunden. Emily kann nicht recht glauben, dass Fee mit ihren Eltern verreist ist, ohne es ihr zu sagen. Wo mag sie hin sein? Nach Hollyhill können eigentlich nur Menschen, denen die Gabe vererbt wurde, da wird sie doch wohl nicht sein.
Als Josh und Silly aus dem Dorf zu ihr kommen, ahnt sie, dass etwas geschehen sein muss.
Sie folgt ihnen zurück nach Hollyhill, das sich diesmal in den 20er Jahren befindet. Fee ist tatsächlich dort und scheint sich äußerst wohl zu fühlen. Aber wo ist Matt? Und ist er tatsächlich in großen Schwierigkeiten?
Ein spannender Jugendroman, der mit vielen Geheimnissen den Spannungsbogen weitgehend auch zu halten vermag. Streckenweise zieht sich die Handlung allerdings ein wenig. Das Ende ist ein Ende, lässt aber genug Spielraum für eine Fortsetzung. Obwohl der Band der dritte einer Triologie ist, kann man ihn gut lesen, ohne die anderen zwei zu kennen. Die Informationen führen den Lesenden schnell in die Thematik ein.
Für Jugendliche ab etwa 14 Jahren geeignet.
- KW Der falsche Deutsche
Podhostnik, Thomas
165 Seiten, °luftschacht
„Der Blonde“, von dem man weder seinen Namen noch sein Herkunftsland erfährt, ist aus Deutschland nach Havanna/Kuba gekommen. Er und der junge Kubaner Yanez wollen sich gegenseitig ihre Sprache näher bringen, wobei der Kubaner, der die deutschen Philosophen und Deutschland an sich liebt, glaubt, einen Deutschen vor sich zu haben. Die Verbindung wird für beide zu einer harten Probe. Scheinbar nutzen sie einander aus, man ahnt, dass es mit der aufkeimenden Freundschaft nicht lange gut gehen kann. „Der Blonde“ ist ein sehr negativer Mensch, der an dem Kuba, das er erlebt, nichts Schönes sehen kann. Er benutzt die Frauen, die ihm begegnen als Objekte und macht auch vor der Frau und der Mutter von Yanez nicht halt.
Ein Roman, der radikal aufräumt mit dem Bild, welches der Tourist von Kuba haben mag.
Abseits von dem bunten scheinbar immer sonnigen Urlaubsleben erlebt man ein Land voller Armut, Aberglauben, Dreck und Trostlosigkeit, obwohl es in erster Linie der Gast, „der Blonde“ ist, der mit seiner Haltung dieses Bild erzeugt. Man fragt sich unweigerlich, ob es tatsächlich so ist: dass die Kubaner in Deutschland das gelobte Land sehen und den Gast auszunehmen verstehen, während der Gast selber glaubt, sich an den Frauen schadlos halten zu können.
Das Cover des Buches, auf dem das verrottete Innere eines der Oldtimer vor einem fahrenden, schönen Wagen zu sehen ist, steht symbolisch für die Gesamtaussage.
Eine harte, manchmal unnötig deutliche Sprache – auch und besonders, wenn es um Sex geht, bedingt, dass man dieses Buch keinem Minderjährigen in die Hand drücken mag.
- KW Train Kids
Reinhardt, Dirk
320 Seiten, Gerstenberg
Der Junge Miguel trifft an der Grenze Guatemalas vier weitere Kinder, die auf der Suche nach Mutter, Vater oder Bruder die Heimat verlassen und sich auf den langen und gefährlichen Weg durch Mexiko in die USA gemacht haben. Getrieben einzig von der Verzweiflung und von der Hoffnung, dort ihre so lang vermissten Familienangehörigen wieder zu finden, setzen Sie sich den größten Gefahren aus, besiegen Hunger und Durst und erleben sich als verschworene Gemeinschaft. Sie erleiden Gewalt, Diebstahl und niederträchtige Täuschungen, sogar Kidnapping und Folter. Ihnen widerfährt mehr, als jemand alleine aushalten kann. In dieser gemeinsamen Zeit auf den Dächern der Güterzüge erzählen sie sich von ihren Träumen und Hoffnungen, Fernando, der Älteste wird nicht müde, sie mit seinen Geschichten zu warnen und ihnen gleichzeitig die Zeit zu vertreiben. Ständig auf der Hut vor Gangstern, Drogenkartellen, korrupten Polizisten und Menschenhändlern gleicht ihre Flucht einem Spießrutenlauf... Dirk Reinhardt berichtet vom Schicksal dieser Kinder und nimmt den Leser mit, raus aus der Komfortzone und hinein in eine andere, harte Wirklichkeit. Absolut lesenswert!
- JPS Sieben kleine Verdächtige
übersetzt von Annette Kopetzki
Das Leben in einer italienischen Kleinstadt wie Rocella ist nicht einfach. Vor allem nicht, wenn man jung ist. Für die sieben 12- jährigen Jungen Lonica, Cecconi, Ronacci, Corda, Fostelli, Gorilla und Billo zeigt es jedenfalls keine Perspektive auf. Neben den Anforderungen, die eine Stadt mit teilweise mafiösen Strukturen bereithält, haben sie alle auch noch ihre privaten häuslichen Probleme zu schultern. Dann hat Billo eine Idee: Warum nicht die Bank überfallen und mit dem erbeuteten Geld ein neues Leben beginnen? Der Plan ist schnell ausgeheckt. Um in die Bank zu kommen, soll einer von ihnen „Speckbacke“, die stämmige Tochter des Wirtes umwerben, die täglich den Wachleuten Kaffee bringt. Aber wer sollte das sein? Ein Marathonlauf soll es entscheiden. Alles scheint perfekt geplant, doch dann taucht plötzlich der Mexikaner wieder auf… Der Roman räumt auf mit dem Image des kinderfreundlichen Italien. Die Geschichten um die sieben Kinder nehmen einen großen Platz ein, sodass der geplante Raubzug ein bisschen in den Hintergrund gerät. Das aber ist nicht weiter schlimm, geht es doch um genau diese Geschichten. Bedrückend aber auch streckenweise äußerst humorvoll. Ein Roman für etwa 14-15-jährige.
- KW Liebeskinder
Frey, Jana
384 Seiten, Arena
Schon immer fühlt sich Ivory zu dem seltsamen Nachbarsjungen hingezogen, den seine Mutter vor allen und allem abschirmt. Die beiden Kinder verbindet ein Band, welches auch die scheinbar immer stärker werdende „Verrücktheit“ von Zadoc nicht zu lösen vermag. Ivory vermutet unter all der Panik und dem Leid eine logische Erklärung. Eines Tages, als beide schon Jugendliche sind, beichtet Zadoc ihr, dass er als 5- Jähriger seinen Vater getötet hat und daher immer diese starken Medikamente einnehmen muss. Aber kann das die ganze Geschichte sein? Mackenzie – genannt Kenzie- lebt mit ihrer jüngeren Schwester Janis bei ihren lesbischen Müttern, während ihr gemeinsamer leiblicher Vater sich rarmacht. Die Schwestern konkurrieren von klein auf wegen der Art ihrer Zeugung (Kenzie durch künstliche Befruchtung, Janis durch einen Liebesakt). Später leidet Kenzie vor allem darunter, dass ihre Schwester scheinbar viel hübscher ist als sie. Sie beobachtet neidvoll, wie leicht Janis Freundschaften schließt und wie sie lange vor der Schwester auch Jungen anzieht. Kenzie wird immer schwermütiger und glaubt selbst den Beteuerungen ihres späteren Freundes nicht. Sie ist überzeugt, dass er auch lieber Janis würde haben wollen, wenn er sie denn kennen würde…
Zadoc und Ivory, Kenzie und Janis. Zwei Geschichten an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten. Ähnlich sind sie sich in der Darstellung der Tiefe von menschlichem Leiden, von Hoffnungslosigkeit. Nahezu alle Protogonisten werden vom Leben enttäuscht, können sich selbst und einander nicht retten, werden von denen, die sie lieben verraten.
Wenn sich letztendlich die Geschichten berühren, klären sich manche Fragen auf, ohne dass der Lesende aber mit dem Leben versöhnt wird.
Ein schwermütiges Buch, welches eher dem erwachsenen Lesenden etwas sagen kann. Die Themen um Treuebrüche und der Entwicklung langjähriger gleichgeschlechtlicher Partnerschaften sowie die Erkenntnis, dass ein Ereignis reichen kann, um dein Leben für immer nachhaltig zu zerstören, erreichen die jungen Lesenden eher (noch) nicht.
- KW Heart.Beat.Love
übersetzt von Stephanie Singh
Axi hat schon viel wegstecken müssen mit ihren 16 Jahren. Erst stirbt ihre Schwester an Krebs, dann verschwindet ihre Mutter aus ihrem Leben und ihr Vater rettet sich in den Alkohol. Statt die Schule zu beenden, beschließt die bisher BM (Braves Mädchen) genannte, sich auf den Weg zu machen und Amerika zu durchqueren. Auf ihren Trip nimmt sie nur ihren Rucksack mit und ihren besten Freund Robinson. Um das BM- Image abzulegen, lässt sie sich auf jedes Abenteuer ein, welches Robinson vorschlägt. So stehlen sie eine Harley und diverse Autos für ihre Reise und bedrohen gar einen Polizisten mit seiner Waffe. Axi genießt die Fahrt und hofft, dass Robinson ihre Gefühle, die über Freundschaft hinausgehen, erwidern möge. Eine Weile scheint einfach alles möglich zu sein, dann aber gerät das Leben aus den Fugen…
Eine Geschichte zwischen Bonnie und Clyde und knocking on heavens door, die aber mehr als ein road movie ist. Sie nimmt uns mit in die Gedankenwelt der Heranwachsenden, in der die Fragen oftmals existenziell anmuten. So fragen wir uns selbst mit Axi: „Wie lautet die Bedienungsanleitung für das Leben?“
Eine Geschichte, die von der ersten Seite an neugierig auf den Ausgang macht. Angereichert mit Photos, die den Eindruck einer wahren Begebenheit erzeugen. Mit viel Herzschmerz geschrieben,
vor allem für Mädchen ab ca. 15Jahren.
- KW Gehen, immer weiter
Zeevaert, Sigrid
159 Seiten, Thienemann
Als Edvard in Luis` Klasse kommt, finden ihn alle komisch. Er kleidet sich altmodisch und versucht nicht, Kontakt zu den anderen zu bekommen. Im Unterricht dagegen zeigt er, dass er über großes Wissen verfügt. Da er jedoch nicht den Streber gibt, lassen ihn die Mitschüler und Mitschülerinnen in Ruhe. Haben sie doch genug mit den ersten Liebeleien zu tun. Als Luis ihn als Partner beim Referat zugeteilt bekommt, merkt er schnell, dass Edvard ein Geheimnis umgibt. Edvard fasziniert ihn mehr und mehr und als noch Lili dazukommt, sind die drei bald unzertrennlich. Nur, dass mit Edvards zuhause etwas ganz und gar nicht zu stimmen scheint. Luis erkennt, dass Edvard Hilfe braucht, traut sich jedoch nicht richtig ihn zu fragen. Eine Zurückhaltung, die er bald bereuen wird…
Ein Buch über das Heranwachsen mit all den Herausforderungen und über Freundschaften und welchen sie letztendlich haben sollten. Ein spannendes Buch zudem. Von Anfang an ahnt der Lesende, dass sich etwas verdichtet, dass etwas geschehen wird. Und so bleibt man gern dran an der Geschichte. Ein Buch für Heranwachsende, am besten zu lesen in einem Rutsch an einem verregneten Sonntag.
- KW ...und raus bist Du
Welsh, Renate
143 Seiten, Obelisk
Die Diskussionen über Abschiebungen in sichere Herkunftsländer kennen wir aus den tagtäglichen Nachrichten und haben sicherlich auch eine Meinung dazu. Welche Geschichten aber verbergen sich hinter den Bildern?
Esad und Pino sind vor vielen Jahren mit ihren Eltern aus Bosnien nach Wien gekommen. Da ihr Asylantrag keine Aussicht auf Erfolg hat, können sie legal nicht bleiben. Der Vater hat die Familie verlassen, um in sich in der Illegalität als Schwarzarbeiter zu verdingen und so den Lebensunterhalt sicherstellen zu können. Die Mutter und die Geschwister versuchen, möglichst nie aufzufallen, um der drohenden Abschiebung zu entgehen. Dann aber wird eine befreundete Familie in einer Nacht und Nebelaktion abgeschoben. Ausgerechnet sie, die immer versucht haben, alles richtig zu machen und deren Sohn ein sehr guter Schüler war. Jetzt wird auch die Angst der Familie um Esad und Pino unerträglich…
Eindringlich und mit den Augen der jüngeren Tochter Pina beschreibt Renate Welsh eine Situation, wie sie schlimmer kaum sein kann. Schnell wird klar, dass da grundsätzlich was falsch läuft, wenn Menschen so lange im Ungewissen bleiben. Ergänzt wird die Geschichte mit weiterem Material zu diesem Thema. Dieses Buch rüttelt auf und macht nachdenklich.
- KW Zeit der großen Worte
Günther, Herbert
314 Seiten, Gerstenberg
Paul ist 14 Jahre alt, als der erste Weltkrieg beginnt. Mit euphorischen großen Worten wird zur Mobilmachung aufgerufen und eine Welle von Zusammengehörigkeitsgefühl und Patriotismus eint die Menschen der Kleinstadt. Zum ersten Mal sind sogar Verbindungen zwischen Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Klassen denkbar, ziehen die jungen Männer doch für alle in den Krieg, sind als Helden vorzeigbar. Auch Pauls Vater und Bruder Max machen sich mit der Gewissheit, das Richtige zu tun, auf den Weg an die Front. Bald schon aber klingen aus den Briefen von Max Zweifel an der Richtigkeit dieses Krieges durch. Während die anderen Jugendlichen versuchen, Paul ebenfalls auf baldiges Soldatenleben einzustimmen, beschleicht ihn das Gefühl, dass das vielleicht nicht das Richtige ist. Und dann ist da noch Helene, die ältere Dame aus der Buchhandlung, die ihn mit Literatur und der Notwendigkeit eigenen Denkens bekannt macht. Und während rundherum alles zerbricht, formen sich in ihm andere Worte…
Es gibt Bücher, die stimmen froh beim Lesen und es gibt solche, die den Lesenden so verstören, dass dieses Gefühl in den Alltag mit einfließt. Ein solches Buch ist Zeit der großen Worte und so muss ein Buch über den Krieg und seine Folgen wohl sein. Von Anfang an ahnt der Lesende, dass die große Euphorie nicht lange halten kann und das Unheil seinen Lauf nehmen wird. Beklemmung stellt sich ein.
Ein gutes Buch über Verführungen und Täuschungen, die in großen Versprechen lauern und ein Appell daran, den eigenen Verstand nicht abzuschalten. Diese Thematik ist so aktuell wie nie.
Geeignet für Jugendliche ab etwa 14 Jahren.
- KW Wie das Licht von einem anderen Stern
Boyle Rodtness, Nicole
243 Seiten, Beltz & Gelberg
Vega ist eine ganz normale Siebzehnjährige. Sie geht zur Schule, hat einen Freund, eine beste Freundin, eine nervige jüngere Schwester und freut sich auf die Klassenfahrt. Dann auf einer Party passiert das Unfassbare: Vega stürzt in den halbvollen Pool. Als sie nach Wiederbelebungsversuchen endlich erwacht, hat ihr Gehirn seine Fähigkeit Sprache zu erfassen verloren. Sie hat Aphasie. Ab sofort ist das Leben nicht mehr wie es war. Sie muss erleben, dass ihr Unvermögen, sich auszudrücken, nicht nur sie selbst sprachlos macht. Ihr Ich ist gefangen und findet keinen Weg heraus zu den andern, deren Leben so weitergeht wie bisher, nur ohne sie. Dann lernt sie Theo kennen, der ebenfalls Aphasiker ist. Wird er ihre Träume ernst nehmen, die ihr erzählen, der Sturz sei kein Unfall gewesen? Ein starker Roman über Krankheit Ausgrenzung, aber eben auch über Verlieben, Freundschaft und Eifersucht, über eine Schwester, die vom Anhängsel zur Kümmerin wird. Er spielt in der Lebensrealität von Teenagern, in der die neuen Medien zugleich Fluch und Segen darstellen. Durch seine einfühlsame Schilderung der Empfindungen und Gedanken der Protagonistin ist er besonders geeignet, Empathie zu erzeugen ohne zu belehren. Daher auch zu empfehlen, um sich dem Thema Inklusion auf ansprechende Weise zu nähern.
- KW Walking home
Der lange Weg nach Hause
Wer an Kenia denkt, der denkt oft in erster Linie an Safaris. Aber Kenia ist auch ein Land, in dem erbitterte Stammeskämpfe geführt werden, bei denen unschuldige Menschen getötet werden, nur weil sie einem anderen Stamm angehören. Die Geschichte von den Geschwistern Muchoki und Jata erzählt davon, wie die zwei mit ihrer Mutter aus ihrem Heimatdorf fliehen müssen, nachdem ihr Vater und ihre restliche Familie bei einem Überfall auf eine Kirche in Eldoret ums Leben gekommen sind. Sie berichtet vom Leben in einem der vielen Lager des Landes, in dem die drei zunächst untergekommen sind. Ihre Mutter hat ihnen viele Male die Geschichte ihres Stammes Kamba erzählt. Kamba bedeutet Volk des Fadens. Sie handelte von einem Paar welches bei einer Flucht einen Faden spannt, um später in ihr Dorf zurückfinden zu können. Nachdem die Mutter an ihrer Malaria verstirbt, haben die Geschwister nur noch einander. Da Muchoki aber mit seinen 13 Jahren für zu jung erachtet wird, sich um seine kleine Schwester kümmern zu können, sollen sie in getrennte Kinderheime gebracht werden. Da fasst Muchoki einen folgenschweren Plan: Er will mit Jata quer durch das ganze Land in das Dorf der Eltern der Mutter im Kambaland gehen. Um Jata die Angst vor dieser riskanten Reise zu nehmen, erklärt er ihr, er könne den Faden sehen, der sie dorthin führen wird. Und da Jata fest daran glaubt, folgt auch Muchoki bald unbeirrt dem Faden der Hoffnung…Der Erzähler nimmt die Leser mit auf seine Reise durch ein fremdes Kenia. Den Überfall auf die Kirche von Eldoret hat es wirklich gegeben und der Autor ist den Weg der Geschwister gewandert, um authentisch berichten zu können. Am Ende sind die Geschwister einem dann so nahe, dass man sie fast nicht ziehen lassen mag. Ergänzt wird das Buch von Zusatzmaterial auf einer homepage in englischer Sprache. Damit ist es in besonderem Maße auch für junge Leserinnen und Leser ab etwa 9. Klasse als Schullektüre geeignet. Sehr zu empfehlen.
- KW Press play
Was ich Dir noch sagen wollte
Jugendlicher zu sein war zu keiner Zeit leicht, besonders natürlich, wenn man Waise geworden ist. Der 13 jährige Ryan lebt nach dem Tod seiner Mutter mit seinem Vater, der neuen Frau und seinem Stiefbruder Nathan zusammen. Die beiden Jungen haben es nicht leicht miteinander. Dann verliebt sich Ryan in die Irin Eve, die ihn an seine Mutter erinnert. Doch schon kurz nachdem die beiden merken, dass sie vom Universum füreinander geschaffen sind, werden sie wieder getrennt. Ameliah ist ebenfalls 13 Jahre alt. Ihr ist von ihren Eltern nichts geblieben außer Erinnerungen und eine Tasche voller Kassetten mit der Lieblingsmusik ihrer Mutter. Eines Tages hört sie zwischen der Musik Worte, die sich an Sie zu richten scheinen. Wer ist der geheimnisvolle Sprecher und ist er wirklich ein Fremder? Die Geschichten über Ryan und Ameliah wechseln zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sie berühren sich in den Kapiteln über die Kassetten. Obwohl es zwei unterschiedliche Erzählungen sind, ahnt der Lesende mehr als er versteht, dass sie zusammenhängen müssen. Bei einer solcherart verschachtelten Erzählweise hilft vielleicht ab und an eine Skizze, um den Faden nicht zu verlieren. Unterhaltsam, aber im Ergebnis etwas banal ...
- KWEin kleiner Ort in Norddeutschland im Winter 1978/79:
Kascha lebt mit ihrer Sinti - Familie auf einem Hof und hat jede Menge Probleme: Ihre Schwester Zippy will durchbrennen, um zu heiraten, der geliebte Großvater liegt im Sterben und die alltäglichen Sorgen des nicht anerkannt Werdens, des gehänselt und diffamiert Werdens drücken sowieso täglich.
Dann kommt der große Schneesturm und wirbelt Kaschas Leben buchstäblich durcheinander. Sie muss nicht nur plötzlich mit ihrer zickigen Cousine Bettina auskommen, sondern sie lüftet auch noch ein gut gehütetes und tragisches Familiengeheimnis. Und: Kascha lernt auch, mit einer ungewöhnlichen Gabe klar zu kommen.
Doch der Schnee bringt nicht nur Kälte sondern auch unerwartet menschliche Wärme, als sich die verschworene Dorfgemeinschaft plötzlich der Hilfsbereitschaft von Kaschas Familie gegenüber sieht. Und anders als von ihr erwartet, scheint die gegenseitige Welle der Solidarität auch über die Schneekatastrophe hinaus Bestand zu haben.
Man lernt viel in diesem mitreißend geschriebenem Jugendroman, über die Geschichte der Sinti, über Rituale und Sitten, über ständiges auf der Flucht sein und sich nirgendwo zu Hause fühlen, über Respekt und gegenseitige Achtung: ein Thema, das in diesen Zeiten wichtiger denn je ist.
- KS Das Schicksal der Sterne
Höra, Daniel
246 Seiten, bloomoon
Flucht und Vertreibung sind wahrhaftig keinen neuen Phänomene- der vorliegende Roman von Daniel Höra berichtet sehr anschaulich von den Parallelen, die das Flüchten zu allen Zeiten und an allen Orten der Welt hat. Die letzte, große Flüchtlingswelle nach dem Ende des zweiten Weltkriegs verbindet er mit der Aktuellen. Hier erzählt er die Geschichten von Karl und Adib, Karl ist vor 70 Jahren aus Schlesien geflohen und Adib vor knapp Einem aus Afghanistan. In Berlin treffen beide aufeinander und ihrer beider Interesse an den Sternen und an Astronomie bringt sie miteinander ins Gespräch. Obwohl es nicht direkt zwischen ihnen zur Sprache kommt, entwickelt sich doch ein tiefes Verständnis für den jeweils anderen: beide waren zum Zeitpunkt der Flucht zu jung für die große Verantwortung für Mutter und Geschwister, beide erlebten das Ausgeliefert sein auf der Flucht und im neuen Land, beide kennen die Ängste der Flucht und die Kämpfe um Würde und Anerkennung am Zielort. Auf dem Hintergrund dieser Fluchterfahrung entsteht ein tiefe Verbindung, die gegenseitigen Respekt zeigt und Kampfgeist, den man braucht um unter solch schwierigen Bedingungen zu bestehen. Das richtige Buch am richtigen Ort.
- JPS Sommer unter schwarzen Flügeln
Peer, Martin
530 Seiten, Oetinger
Nura, genannt Nuri ist mit dem Rest ihrer Familie aus Syrien nach Deutschland gekommen und in einem Flüchtlingsheim in Mecklenburg -Vorpommern gelandet, in unmittelbarer Nähe zum Meer aber auch zu den Neonazis der Region. Hier wohnt der Sozialneid im Plattenbau: die meisten deutschen Bewohner aus der Umgebung sind Hartz 4-Empfänger und die Asylbewerber bekommen sogar die Kühlschränke gestellt... Die NPD und auch ihre militanten Splittergruppen bekommen hier reichlich Zulauf, Jugendliche ohne Schulabschluss und Zukunft können sich hier ein Selbstbewusstsein erschaffen. So einer ist auch Calvin, aber der ist trotz rechter Clique noch selbstständig in seinem Denken. Ausgerechnet zwischen ihm und Nuri entwickelt sich eine Beziehung, bei der in erster Linie Nuri aus Syrien und von der Flucht erzählt und Calvin, zunächst widerstrebend, zuhört. Calvin gerät zunehmend unter Druck, seine rechten Kumpels wollen klare Bekenntnisse und Calvin ist durch seine Nähe zu den Asylbewerbern selbst in Gefahr... Peer Martin nimmt die Hintergründe ernst, recherchiert gut findet besonders für Nuris Erzählungen eine poetische Sprache, die die Leser in den Bann zieht. Leider sehr aktuell, dieses Buch, unbedingt lesen!
- JPS Im Meer schwimmen Krokodile
EIne wahre Geschichte
„Man tut es einfach und denkt nicht darüber nach.“
Mehr als vier Jahre dauert die Flucht für den 10- jährigen Enaiatollah aus seiner Heimat Afghanistan nach Italien. Um ihn vor den Taliban zu schützen hat seine Mutter beschlossen, ihn allein auf diese Reise zu schicken, indem sie ihn in der Fremde einfach sich selbst überlässt. Enaiat lernt zu überleben. Ohne Geld muss sich der Junge alle Schlepperleistungen durch harte Arbeit verdienen und größtenteils auf der Straße leben. Aber er erfährt unterwegs auch Gutes durch einzelne Menschen. So gibt er die Hoffnung nie auf, erkennt das kleine Glück, wenn es ihm begegnet… Ein starker Roman, der auf einer wahren Begebenheit beruht und eindringlich aufzeigt, was es bedeutet, sich auf diesen Weg zu machen aber auch wie es ist, ohne Sprache in dieser europäischen Welt anzukommen. Uneingeschränkt empfehlenswert für junge Menschen ab etwa 12 Jahren.
- KW Der Circle
übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Die junge Mae wähnt sich am Ziel ihrer Wünsche: das erfolgreichste und innovativste Unternehmen der Welt hat sie eingestellt. Hier kann sie sich und der Welt beweisen, was es bedeutet, dazu zu gehören: zu den Schönen, Intelligenten, Erfolgreichen. Dass dabei zunehmend Privatsphäre, Individualität und damit auch freies Denken auf der Strecke bleiben, nimmt Mae gerne in Kauf. Denn ihre Anerkennung in der Community funktioniert über Leistung, Gruppenpräsenz und vor allem: Transparenz. Eggers beschreibt hier Menschen ohne Schamgefühl, soziale Kompetenz und eigene Wertvorstellungen, alle unterwerfen sich freiwillig einer übergeordneten Moral, die nur von einigen Wenigen in stetig wiederkehrenden Mantras veröffentlicht und damit verbindlich gemacht wird. So wird die junge Mae selber zur Täterin...
Holzschnittartig zeigt Eggers auf, was wir schon wissen aber in seiner Konsequenz nicht erleben möchten. Dieses Buch fasziniert gleichermaßen Jugendliche und Erwachsene –schwarz-weiß ist ein klarer Kontrast der polarisiert. Seit unsere Welt komplexer geworden ist, hat selbst solch eine Dystopie etwas Faszinierendes. Lang lebe die Individualität- auch wenn sie manchmal echt nervig ist!
- JPS Wenn ihr uns findet
übersetzt von Julia Walter
Carey und Jenessa leben seit Jahren im Wald. Ihre Mutter lässt sie oft wochenlang allein, sie ist Alkohol und Meth-Abhängig. Eins Tages werden die beiden Mädchen im Wald von einer Frau vom Jugendamt und einem Mann aufgestöbert. Carey hat ihr ganzes Leben damit zugebracht, sich um ihre kleine Schwester zu kümmern, sie misstraut den beiden gründlich, zumal sie in dem Mann ihren leiblichen Vater erkennt. Der, vor dem ihre Mutter sie angeblich in Sicherheit gebracht hat, wegen dem sie seither im Wald leben.
Widerwillig folgt sie den beiden in die Stadt und erfährt, dass ihre leibliche Mutter selbst das Jugendamt eingeschaltet hatte, weil sie die beiden Mädchen nicht mehr selbst versorgen konnte. Besonders ihrer kleinen Schwester zuliebe, die sie all die Jahre erzogen, ernährt und beschützt hat, und die seit ein paar Jahren nicht mehr spricht, lässt sie sich auf ein Leben in der Zivilisation und im Haus ihres Vaters ein. Nach und nach fasst sie Zutrauen, zuerst zu der Frau ihres Vaters. Aber es dauert, bis sie sich auch ihrem Vater anvertrauen kann, bis sie hören kann, dass ihre Mutter sie damals entführt und im Wald versteckt hatte. Eine spannende Geschichte über das Ausgeliefert sein von Kindern und dessen traurige und traumatisierenden Folgen. Ohne falsches Pathos und Voyeurismus liebevoll aufgeschrieben und übersetzt!
- JPS Du neben mir
und zwischen und die ganze Welt
Die 18jährige Madeline lebt, solange sie denken kann, alleine mit ihrer Mutter in einem völlig keimfreien Haus. Ihr Vater und ihr Bruder sind vor langer Zeit bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Da Maddy an einem komplexen Immundefekt leidet, hat sie das Haus noch nie verlassen. Sie besucht Internetklassen, ist außerordentlich gebildet und belesen und hat eine intensive Beziehung zu ihrer Mutter. Die ist Ärztin und kümmert sich nach der Arbeit liebevoll selbst um ihre Tochter. In der verbleibenden Zeit ist eine Krankenschwester da, die ihr Gesellschaft leistet und alle medizinischen Funktionen überwacht. Eines Tages zieht im Nachbarhaus eine Familie ein. Olly, deren ungewöhnlicher Sohn, hat es Madeline sofort angetan, sie überredet ihre Krankenschwester Carla, ein Treffen unter keimfreien Bedingungen mit Ollly in ihrem Besucherzimmer zu gestatten. Natürlich ist das erst der Anfang einer spannenden Liebesbeziehung unter extremen Bedingungen. Maddy muss sich zwischen der Vorsicht und dem Leben entscheiden, was in ihrem Fall besonders existenziell ist. Diese romantische Liebesgeschichte ist illustriert mit kleinen Vignetten, ganzseitigen Schaubildern oder Sms-und email-Abschriften in unterschiedlicher Typografie sowie etlichen von Maddys Listen, mit denen sie sich immer wieder beschäftigt. Eine hübsche Titelillustration des Softcovers lädt zum Weiter- und Ausmalen im Buchinneren ein. Ungewöhnliche Text- und Bildgestaltung, spannende Erzählperspektiven und ein überraschendes Ende machen dieses Buch zu einem bemerkenswerten Debütroman.
- JPS Jesus Jackson
übersetzt von Franca Fritz und Heinrich Koop
Der 15jährige Jonathan Stiles ist völlig aus der Bahn geworfen, als sein älterer Bruders Ryan ausgerechnet an Johns erstem Highschooltag einen tödlichen Unfall hat. Ryan gehörte zum Footballteam und war ein außerordentlich beliebter und angesehener Schüler. Für John war er vor allem sein Bruder, mit dem er die wichtigsten Themen des Lebens diskutierte und gemeinsam in Glaubensfragen schon lange im kritischen Widerspruch zu seiner Mutter stand. Sie war die treibende Kraft, die beide Söhne auf diese christliche Schule schickte. Hier sollten sie endlich zum richtigen Glauben erzogen werden. Jonathan zweifelt an der Wirksamkeit des Glaubens, an der Wahrhaftigkeit des Mitgefühls der Mitschüler und auch an der Unfallversion. Als Jesus Jackson in sein Leben tritt und sich als spiritueller Berater anbietet, kommt noch das „glauben an sich selbst“ zum altbekannten „Glauben versus Wissen“ hinzu. John hält einen Freund von Ryan für schuldig und versucht, gemeinsam mit seinem neuen Freund Henry, den Verdächtigen zu überführen. Allerdings sind die beiden Teenager und nicht die Polizei. Dem hochtourigen Spannungsbogen folgt ein schlappes Ende, Sprachhülsen werden hin und her geschoben. Insgesamt zu anheischig und mit einer amerikanischen Glaubenskontroverse, dient das Buch meiner Meinung nach weder der echten Auseinandersetzung mit Glaubensfragen noch zeigt es Auswege aus emotionalen Krisen auf.
- JPS Schneeriese
Keller, Susan
206 Seiten, Carlsen
Über Schneeriese ist schon soviel Begeistertes, Wahres und Schlaues gesagt worden, dass es schwierig ist, noch etwas Geistvolles hinzuzufügen. Dennoch ist es natürlich ein Buch, das in unserer Empfehlungsliste keinesfalls fehlen darf... Vielleicht ist dies eine gute Stelle, um etwas allgemeiner auf die wichtige Rolle von Jugendliteratur hinzuweisen, die ja für eine Altersgruppe geschrieben wird, die durchaus selbst entscheidet, was sie lesen will und was nicht. Dennoch wünschen sich Erwachsene oft Bücher, die sie „ihren“ Jugendlichen ans Herz und in die Hand legen können. So ein Buch ist Schneeriese, sprachlich trifft es den richtigen Ton und ist dabei anspruchsvoll UND locker. Inhaltlich zeigt es jene existenziellen Konflikte auf, die das Jugendalter mitunter zu einer lebensgefährlichen Zeit machen. Und gradezu richtungweisend ist das Buch wegen der Botschaft, dass einzig das REDEN den Ausweg aus jedem Konflikt aufzeigt. Reden gegen das Verstummen, Reden als heilsamer Prozess, Reden zum Aussprechen innerer Wahrheiten. Genug geredet, lest dieses Buch!
- JPS Die unterirdische Sonne
Ani, Friedrich
334 Seiten, cbt
Fünf jugendliche Entführungsopfer werden gewaltsam in einem Keller auf einer Insel festgehalten. Jeden Tag wird einer von ihnen „nach oben“ geholt. Was dort oben passiert, wird nie geschildert und auch die Kinder selbst sprechen nicht darüber. Klein gehalten von der Angst, der Scham und dem Gefühl der absoluten Machtlosigkeit. Letzteres muss auch der Leser aushalten ohne genau zu wissen was diesen Kindern passiert, fest steht nur, das es schrecklich ist, schlimmer als alles bisher Erlebte. Friedrich Ani beschreibt leise und eindrücklich die eingesperrten Jugendlichen und ihre verschiedenen Charaktere, ihr Verhalten und ihre Veränderungen im Laufe der Gefangenschaft. Mit seiner präzisen Sprache zwingt uns der Autor, genau hinzulesen, schnell geht hier gar nichts. Ohne den Hauch von Voyeurismus aber mit offenen Augen und einem unverstellten Blick ist es für den Leser dennoch ein mühsames Durchhalten einer extrem gespannten Situation, von der man nicht lassen kann. Das Lesen eines toll geschriebenen und wichtigen Buches muss wahrhaftig nicht glücklich machen...
- JPS Keiner kommt davon
Eine Geschichte vom Überleben
Isabel ist zu Beginn der Geschichte vierzehn Jahre alt und erzählt aus ihrer Sicht vom Fortschreiten der großen Pest-Epidemie im 14ten Jahrhundert in England. Schneller als für möglich gehalten breitete sich damals diese völlig neue Krankheit aus und galt als Strafe Gottes für sündhaftes Verhalten. Isabell ist mittendrin und beobachtet genau. Sie sieht die Unmenschlichkeit der Dorfgemeinschaft angesichts dieser Epidemie und auch die Verlogenheit der Kirche, die von Nächstenliebe spricht aber deren Pfarrer sich zum Teil einfach davon stehlen. Wie alle macht sie sich große Sorgen um ihre Familie und kämpft dennoch für Mitgefühl und gegenseitige Unterstützung. Am meisten fehlt Isabel ihr Bruder Geoffrey, der schon seit langem bei den Mönchen im Kloster lebt und jetzt mit ihnen zusammen erkrankte Menschen pflegt. Nachdem Vater und Stiefmutter an der Pest gestorben sind, zieht sie gemeinsam mit ihrem Freund Robin und ihrer jüngeren Schwester mit einem reichen Kaufmann fort, der seine eigenen Kinder verloren hat. Lange haben sie Glück und es gelingt es ihnen, der Krankheit zu entkommen. Aber ganz ungeschoren kommen sie nicht davon, bis sich die Krankheit endlich mehr und mehr zurückzieht. Eine Geschichte, die unter die Haut geht und eine Studie über menschliche Abgründe. Toll geschrieben und übersetzt!
- JPS Halbe Helden
übersetzt von Jessica Kornina, Sandra Knufinke
Dies ist ein Jugendroman, der mitten ins Herz und gleichzeitig mitten ins Zeitgeschehen trifft. Bei dem 16 jährigen Dane kündigt ein Jucken in den Handflächen immer den nächsten Gewaltausbruch an: wenn er meint, Ungerechtigkeiten erleben zu müssen, schlägt Dane zu. Billy D. ist am Downsyndrom erkrankt, geht auf dieselbe Schule und kann jemanden wie Dane gut gebrauchen, denn er wird oft Ziel von Hänseleien. Billy wählt sich Dane als Beschützer und Dane, dem wegen der vielen Schlägereien ein Schulverweis droht, ergreift diese Chance. Doch die Sache entwickelt sich natürlich eigendynamisch: Billy D., ein kluger und entwaffnend ehrlicher Junge, ist keineswegs ein Opfer, stattdessen spannt er Dane für die Suche nach seinem Vater mit ein. So entsteht eine spezielle Freundschaft voller gegenseitiger Verantwortung, Männergesprächen über Mädchen und am Ende ein Roadmovie... Eine bezaubernde, spannende Geschichte voller einfacher und zum Teil bitterer Wahrheiten.
- JPS Jenseits der blauen Grenze
Linke, Dorit
304 Seiten, magellan
Hanna und Andreas Leben in der DDR und sind ins Visier des Staatsschutzes geraten. Eines Tages schlägt Andreas eine Flucht über die Ostsee vor, ausgerechnet Andreas, dabei ist Hanna die Leistungsschwimmerin. Der Plan ist äußerst schwierig und gefährlich, das ist beiden klar. Aber die Lebensverhält-nisse für beide Jugendlichen sind es auch, Studium und freie Berufswahl sind in unerreichbare Ferne gerückt. Andreas hat schon ein Umerziehungslager hinter sich, noch mal wird er das nicht aushalten. Also arbeiten die beiden ihren Plan aus, trainieren hart und brechen eines Nachts wirklich auf, um die 50 km Strecke zwischen Warnemünde und Fehmarn zu durchschwimmen. Ein dünnes Band am Handgelenk soll verhindern, sich in den riesigen Weiten der Ostsee zu verlieren. Unterwegs ist dann alles ganz anders, als sie es sich vorgestellt haben: das Meer kälter, die Gefahr größer, Strömungen, Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit setzen den beiden zu. Mit mitreißender Sprache beschreibt Dorit Linke den Kampf der beiden Protagonisten mit den Elementen und für die persönliche Freiheit. Äußerst spannend und lesenswert!
- JPS Echt
Scheuring, Christoph
255 Seiten, magellan
Der 16jährige Albert lebt nach der Trennung der Eltern bei seinem Vater, einem hauptsächlich vergeistigten Mathematikprofessor. Albert frönt nur einer einzigen Leidenschaft: er fotografiert Abschiede. Naturgemäß ereignen sich Abschiede häufig an Bahnhöfen und Albert, der bis dato ein unauffälliges Leben geführt hat, kommt mit dem Bahnhofsmilieu in Kontakt. Hier lernt er auch Kati kennen, ein auffällig hübsches Mädchen, die sich für Alberts Fotografie interessiert, allerdings hauptsächlich für ein spezielles Bild. Sie ist es auch, die die Frage nach der Existenz der „großen Liebe“ in den Raum stellt, mit halsbrecherischen Aktionen am Rande der Legalität oder weit darüber hinaus versucht Albert, unterdessen sehr verliebt in Kati, mit ihr mitzuhalten. Alberts Fotografie ist das Bindeglied zwischen zwei Welten, doch in seinem ehrlichen Bemühen um „Echtheit“ erkennt Albert auch die Projektion der Betrachter. Tiefgründig, krass, spannend und auch eine zarte Liebesgeschichte!
- JPS Wo ein bisschen Zeit ist...
übersetzt von Thomas Gunkel
Was für ein rasantes Buch! Dabei wird die ganze Zeit über beharrlich philosophiert- und wie man weiß, geht das nicht unbedingt schnell.
Aber Zeit ist ein wichtiger Faktor... Der junge Jack erfährt an seinem 18. Geburtstag, dass er gerade Vater wird. Seine Exfreundin Jess will ihm die Möglichkeit geben, sein Kind zu sehen, bevor sie es zur Adoption freigibt. Er fährt ins Krankenhaus, nimmt seinen Sohn in den Arm und verlässt es mit ihm gemeinsam. Er kann nicht anders, er will ein bisschen Zeit mit ihm verbringen, will begreifen, was es heißt, Vater zu sein. So beschließt er schließlich, den Sohn seiner geliebten und demenzkranken Großmutter zu zeigen. Er bittet seinen besten Freund Tommy um Unterstützung, gemeinsam holen sie Jess aus dem Krankenhaus ab und dann beginnt ein Roadtrip der besonderen Art. Zwischen Schreianfällen des Babys, das Jack inzwischen Sokrates genannt hat, häufigem Windelwechseln und der Verfolgung durch die Polizei philosophiert der junge Vater über die Unendlichkeit, den Glauben und die menschliche Existenz. All das macht Sinn, ist vollkommen verrückt und lässt einen das Buch kaum aus der Hand legen. Der junge Autor, selbst erst 23, schafft es, philosophische Fragen in einen aberwitzig realen Lebenszusammenhang zu stellen. Am Ende ist fallen und fliegen tatsächlich sehr dicht beieinander...
- JPS Tote Tulpen
Konecny, Jaromir
238 Seiten, dtv
Leon ist 16 und ist nach einem Jahr Jugendknast in ein Resozialisierungs- Programm gerutscht: er hat eine Ausbildungsstelle in einem Blumenladen mit Gärtnerei. Zwar hatte er bisher noch nicht so viel mit Blumen zu tun aber dafür findet er beim Eintreffen am Arbeitsort gleich als Erstes eine Leiche. Natürlich verhält sich Hauptkommissar Hauptmeier entsprechend klischeemäßig: Jugendlicher aus dem Jugendknast =höchst verdächtig! Die Tatsache, dass die Tochter der Ladenbesitzerin selbst gerne Ermittlerin spielen möchte und Leon ungefragt dafür instrumentalisiert, macht die polizeilichen Vorurteile nicht geringer. So lässt der Roman denn auch an Slapstick und Wortwitz nichts aus, wobei mir zugegebener Maßen die inflationäre Verwendung des Adjektivs „cremig“ ziemlich schnell auf die Nerven ging. Jugendsprache aus erwachsenem Mund hat immer etwas Gewolltes- aber wenn die Kids es mögen...?
- JPS Auf der richtigen Seite
übersetzt von Christiane Steen
Joshua lebt mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in einem Israelischen Siedlungsgebiet. Der Stiefvater, ein orthodoxer Jude, hat den Umzug dorthin veranlasst, nachdem Joshuas Mutter nach dem Tod des Vaters Orientierung gesucht und diesen Mann gefunden hatte. Joshua ist mit Liev nie warm geworden, besonders kritisch sieht er dessen Umgang mit seiner Mutter, die ihm unterwürfig dient. Besonders Liev hält auch das Feindbild aufrecht, dass hinter der Mauer fanatische Terroristen leben, die nur auf Tod und Vernichtung aus sind. Eines Tages entdeckt Joshua zufällig ein leeres Gelände direkt an der Mauer. Als Joshua das Gelände erkundet, findet er den Zugang zu einem unterirdischen Tunnel, er kann nicht widerstehen und kriecht durch den Tunnel auf die andere Seite der Mauer. Hier fällt er durch seine Kleidung sofort auf und wird von einer Gruppe Jungen gnadenlos gejagt. Ein Mädchen gewährt ihm Zuflucht und so bekommt Joshua Einblick in das Leben auf der anderen Seite. Auch hier leben Menschen, viel ärmer, drangsaliert von Soldaten und sogar ohne die Möglichkeit, ihr Land auf der anderen Seite regelmäßig zu bewirtschaften. Joshua kann nicht anders, er will das Mädchen wieder sehen und sich bedanken und bringt durch seinen erneuten Besuch deren Familie in große Gefahr. Als Wiedergutmachung übernimmt er die Pflege des Olivenhains, aber irgendwann kommt Liev hinter alles und schießt um sich. Als Joshua beschließt, von zuhause weg zu gehen, ereignet sich ein dramatischer Unfall, der alles verändert. Dieses Buch hat, gemeinsam mit einer Reise nach Palästina, die ich kurz darauf unternahm, auch mein Leben grundsätzlich erschüttert. Das ist es, was wir brauchen: Einblicke in fremde Lebenswelten, die uns mitreißen und verändern. Tolles Buch, unbedingt lesen!
- JPS Who i am not
Von Lügen und anderen Wahrheiten
Der Ich-Erzähler beginnt die Geschichte gleich mit einem Geständnis:
er zählt auf, wer er alles NICHT ist. Er ist auch nicht Danny Dellomondo,
obwohl er in dessen Rolle die weitesten Teile des Buches verbringt- allerdings nicht ganz freiwillig. Er, der schon als kleiner Junge durch Pflegefamilien gereicht wurde, wurde eines Tages von einem Mann namens Harley und dessen Freundin Darla „gekauft“. Zwar verbesserte sich dadurch seine aktuelle Lebenslage erheblich, denn Harley brachte dem Jungen Sympathie entgegen und kümmerte sich um ihn. Andererseits wurde der Junge systematisch auf Betrug abgerichtet: als Kind zu einem Elternpaar, welches mit Kind gleich viel harmloser und glaubwürdiger wirkte. Unzählige Betrügereien ergeben sich, an denen der Junge mitwirkt, Harley bringt ihm alles Wichtige bei. Eines Tages aber, in Ausübung ihrer beider Profession, wird Harley überfahren und ist auf der Stelle tot. Darla, Harleys Freundin ist schon lange alleine weiter gezogen und der Junge steht plötzlich ohne Freunde und Identität da. Um zu verhindern, dass Nachforschungen angestrengt werden, schlüpft er blitzschnell in die Rolle eines seit 3 Jahren vermissten Jungen...ein rasanter Krimi, dessen Protagonist einem schnell ans Herz wächst...
- JPS Das ist genau mein Ding
Mutige Menschen, die ihren Weg gehen
In diesem Buch sind die Portraits und Interviews mit 25 Jugendlichen und jungen Erwachsenen gesammelt, die „ihr Ding“ durchgezogen haben- voller Leidenschaft für die eine Sache, die sie am liebsten machen und/oder am besten können. Mit dem Mut der erforderlich ist, wenn es darum geht, Sicherheiten aufzugeben und Neuland zu betreten, sind sie alle aufgebrochen: Seiltänzer und Hip-Hopper, Comiczeichner und Fußballer, Klavierspieler und
Weltverbesserer. Keine gradlinigen Lebenswege werden hier aufgezeichnet, sondern Umwege, Aus- und Abbrüche und auch immer wieder Zweifel. Aber wer erst mal herausgefunden hat, was ihn oder sie antreibt, hat natürlich den Zugang zu einem enormen Potenzial. In diesem Sinne ein wunderbares Buch zur Selbst(er-)findung...
- JPS Was vom Sommer übrig ist
Bach, Tamara
137 Seiten, Carlsen
Louise, 17, startet mit einem kompletten Plan in die Sommerferien:
jobben, noch mehr jobben und Fahrstunden abhaken. Außerdem auf Omas Hund aufpassen, dafür gibt’s Geld zum Führerschein dazu. Jana, heute 13 geworden, muss feststellen, dass ihre Eltern ihren Geburtstag vergessen haben, wie sie überhaupt vergessen haben, dass Jana auch noch da ist. Neben ihrem Bruder Tom, der nach einem Selbstmordversuch im Krankenhaus im Koma liegt. So verweben sich die Geschichten der beiden Mädchen in diesem Sommer, ohne dass sie einander viel von sich erzählen. Doch Louise bekommt plötzlich Lust, aus ihrem selbst geplanten Sommer auszusteigen. Nachdem sie ihre theoretische Führerscheinprüfung vergeigt hat, schnappt sie sich Omas Auto, den Hund und bricht, gemeinsam mit Jana, zu einem sommerlichen Road-Trip auf. Jana weiß nicht, dass Louise noch gar keinen Führerschein hat und Louise weiß nichts von dem Vorfall mit Tom. So genießen die beiden Mädchen gegenseitig die Anwesenheit der Anderen und nehmen einen Tag Auszeit aus ihrem Leben. Tamara Bach schreibt in ihrer unverwechselbaren Sprache Geschichten, die im wirklichen Leben Platz haben und trotzdem daraus entführen.
- JPS Bunker Diary
übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn
Dieses Buch hat bereits viele Diskussionen ausgelöst und wird es gewiss auch noch einige Zeit tun, es ist sicherlich eines der radikalsten Bücher Brooks. Der Plot ist kurz erzählt: ein namenloser Entführer entführt nacheinander 6 Personen, die anschließend gemeinsam in einem fensterlosen Bunker um ihr Überleben kämpfen müssen. Sie werden rund um die Uhr überwacht, bei Fehlverhalten mit Krach, Säure oder Gas bestraft und immer wieder mit verschiedenen Tests gegeneinander aufgestachelt. Dabei tritt der Entführer nie in Erscheinung und auch seine Motive bleiben völlig im Unklaren. Die Figur des zuerst entführten 16jährigen Linus lässt uns über die Tagebucheintragungen in einem zur Verfügung gestellten Bunker-Diary an seinen Überlegungen und am täglichen Existieren der Gruppe teilhaben. Das Ganze endet mit dem Tod, ohne ein sichtbare Auflösung oder Erklärung der Umstände und lässt den Leser ratlos zurück. Inwieweit das Buch für jugendliche Leser geeignet ist, möchte ich nicht generell entscheiden, hilfreich dürfte es sein, gemeinsam mit Jugendlichen darüber zu sprechen. Vielleicht können auch ausgewählte Textauszüge zum Thema Selbstbestimmtheit und Fremdbestimmtheit einen guten Diskussionseinstieg liefern. Auf keinen Fall etwas für zarte Gemüter.
- JPS Der Rabe ist Acht
Antelmann, Corinna
221 Seiten, mixtvision
Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die beiden Klassenbesten, Maja und Markus Klebe, genannt Klebe, gemeinsam einen Plan zur endgültigen Beseitigung einiger Lehrer ausarbeiten? Eigentlich besteht eine Art Leistungskonkurrenz zwischen den beiden, Maja entspricht so sehr dem Bild der braven und strebsamen Einserschülerin, dass sie sich selbst schon widerwärtig findet. Sie ist unterschwellig so aggressiv, dass sie ab und zu im Heizungskeller der Schule flaschenweise die Schulmilch an den Wänden zerdeppert. Klebe hat sie dabei beobachtet. Er selbst hat eine treue Anhängerschaft unter den Mitschülern, allen voran Bernd, der Klebe vorwiegend nach dem Mund redet. Klebe sucht nach einer Formel, mit der sich das Leben erklären lässt und findet einen angeschossenen Raben, den er gesund pflegt. Klebes Angewohnheit, den Lehrern provokante Fragen zu stellen, zuweilen auch auf Haftnotizzetteln, führt eines Tages dazu, dass sich die überforderten Lehrer über in lustig machen. Das hört Klebe zufällig, sein Ego ist tief verletzt. Antelmann erzählt diese extrem spannende Geschichte über die Entstehung von Gewalt aus der Sicht von Maja (die hasst Bienen, aber genau das ist ihr Symbol) und Klebe, der durch einen Raben symbolisiert wird.
Eine tiefgründige und lesenswerte Verarbeitung der Ereignisse von Winnenden oder ähnlicher Gewalteskalationen...
- JPS Und auch so bitterkalt
Schützsack, Lara
175 Seiten, Fischer KJB
Lucinda und Malina sind Schwestern, Lucinda, die Ältere, ist ein besonderes Mädchen. Sie erklärt ihrer Schwester die Welt, vor Allem auch die abgründigen Seiten. Für Malina ist alles gut, solange nur Lucinda dabei ist. Grenzen, Angst überwinden, Vertrauen ausprobieren, alles das, was alleine beängstigend wäre, ist mit Lucinda zusammen eine tolle Erfahrung. Bis auf die Sache mit Jarvis, dem neuen Nachbarn. Der bemerkt Malina und wendet sich ihr zu, aber dann betritt Lucina die Bühne und aus Jarvis und Lucinda wird ein Liebespaar. Malina ist abgemeldet und muss gleichzeitig auch noch ihren Liebeskummer überwinden. Dann allerdings nimmt die Sache mit Jarvis eine ganz andere Wendung und nicht nur die Eltern der beiden Mädchen, Isa und Frieder, sehen sich vor schier unlösbare Probleme gestellt: Lucinda hört vollkommen auf zu essen. Schon vorher hat Malina beobachtet, wie sie immer dünner wird, und die Eltern haben Lucinda zur Therapie geschickt. Aber nun weiß keiner mehr Rat, auch Malina sorgt sich ernsthaft um ihre Schwester...
Ein eindrucksvolles Buch über die Abgründe des Erwachsenwerdens, sprachlich herausragend und absolut lesenswert.
- JPS Junk Girl
Kuschnarowa, Anna
224 Seiten, Beltz & Gelberg/Gulliver
Christiane F. ist schon lange her. Aber nicht die Drogenkarrieren, die Ausbruchsversuche, die Suche nach dem wahren Leben und wenn es das Sterben bedeutet. Die Lust an der Radikalität, die nach kurzer Zeit nur noch Sucht und Zwang ist, wird dominiert von Alice, dem Sucht-Ich der früher braven und angepassten Alissa. Alissa will raus aus ihrem extra-spießigen Elternhaus und den Zwängen von Konvention und Konfession entkommen. Sie lernt die schöne und wilde Tara kennen und verliebt sich in sie. Zunächst nur im Wunsch, der Geliebten nahe zu sein, steigt Alissa mit frappierendem Tempo in eine Drogenkarierre ein, die später auch vor Diebstahl und Prostitution nicht halt macht. So gewinnt Alice zunehmend die Oberhand über Alissas Geist, ihr Körper ist schon lange verbraucht, vergiftet, ausgelaugt und gesteuert von der Sucht und deren Zwängen. Ein eindrucksvolles Plädoyer für eine Entscheidung gegen die Fremdbestimmtheit durch Drogen aller Art. Spannend geschrieben und sprachlich authentisch!
- JPS Der Ernst des Lebens macht auch keinen Spaß
Wortberg, Christoph
190 Seiten, Beltz & Gelberg
Der 16jährige Lenny hat gerade durch einen Bergunfall seinen 18jährigen Bruder Jakob verloren. Jakob war der Stolz seiner Eltern: Einser Abitur und bereits seit Jahren als würdiger Nachfolger für Vaters Apotheke auserwählt. Lenny stand stets im Schatten seiner Bruders, Jakob jedoch liebte und beschützte seinen Bruder vor der übergriffigen und Besitzergreifenden Mutter und dem leistungsorientierten Vater, der vor der dominanten Mutter den Schwanz einzieht. Lenny glaubt von Anfang an nicht an einen Unfall seines Bruders und macht sich auf die Suche nach dessen Sorgen und Nöten. Was er findet ist Jakobs Verzweiflung, dessen Unfähigkeit, sich all diesen Erwartungen zu widersetzen und ein Selbstmord-Forum im Internet, das Lenny zu einem Mädchen führt...
Wortbergs schnörkellose Sprache ist speziell bei diesem Thema ein Gewinn, bestimmt auch für Jugendliche. Hier wird kein pädagogisches Plädoyer gehalten und dennoch ist die Botschaft klar und deutlich: mach was draus, aus deinem Leben, fang an und widersetz´ dich... Die Neugier des Protagonisten weist den Lesern die Richtung.
- JPS Spurlos
übersetzt von Elisa Martins
Der vorliegende Roman schildert das ungewöhnliche Leben der jugendlichen Meg und ihrer Familie in einem US-Amerikanischen Zeugenschutzprogramm. Der sechste Umzug innerhalb eines halben Jahres nimmt alle Familienmit-glieder mit, Megs jüngere Schwester Mary verschließt sich immer mehr und ihre Mutter ist zur Alkoholikerin geworden. Alles, wonach sich Meg sehnt, ist ein Stück Normalität und „nach Hause“ zurückgehen zu können.
Zu allem Überfluss hat Meg keine Ahnung, was eigentlich passiert ist, niemand redet mit ihr darüber und alle Versuche, selbst etwas herauszufinden, laufen ins Leere. Megs neuer Schulkamerad Ethan ist offensichtlich an mehr als nur an äußerlichen Informationen von Meg interessiert und rückt ihr auf die Pelle. Ein spannender Thriller um eine Kooperation mit dem FBI und deren Auswirkungen auf den Alltag der Protagonistin, die weder Megan noch Jones heißt...
- JPS Tonspur
Wie ich die Welt von gestern verließ
Der vorliegende Roman schildert das Leben und die Flucht des damals 25jährigen DDR Bürgers Olaf Hintze im Sommer 1989 über Ungarn nach Österreich und dann nach West-Deutschland. 25 Jahre nach seiner Flucht ist es Susanne Krones gelungen, sowohl Hintze persönlich zu Wort kommen zu lassen, als auch dessen Hintergründe und Beweggründe in den Zusammen-hang mit der damaligen Situation in der DDR zu stellen. In Sequenzen, Zeitsprüngen und Einblicken gelingt dieses dichte Portrait der Person Hintzes. Die Planung seiner Flucht ist ein zeitgeschichtliches Dokument, das die immer noch atemberaubenden Bilder des Mauerfalls wieder lebendig werden lässt. Der Wunsch nach Freiheit, der Hintze wie so viele andere DDR Bürger auf den Weg gebracht hat, ist in erster Linie der Wunsch nach Freiheit im Denken. Besonders Hitzes Liebe zur Musik und zur Literatur hat ihm diesen kompromisslosen Weg vorgezeichnet. So folgt Hintze der Tonspur seiner Musik, hört Klassik und Modernes und immer wieder die darin enthaltenen Botschaften...Spannend und aufschlussreich!
- JPS Marienbilder
Bach, Tamara
176 Seiten, Carlsen
Mareike lebt mit ihrem Vater und ihrem Bruder alleine. Die Mutter ist eines Tages verschwunden, keiner weiß warum noch wohin. Es gibt keine Nachricht von ihr, keine Erklärung, es gab vorher keine Andeutungen. Die Übriggebliebenen beschließen, zu warten und erst mal nichts zu tun. Aber dann entscheidet sich Mareike eines Tages, doch etwas zu unternehmen. Sie ist sich zum Einen nicht sicher, ob sie schwanger ist und hat zum Anderen Sehnsucht nach der Mutter und einen Haufen Fragen. Also verlässt sie das Haus und geht zum Bahnhof, und von hier aus erzählt sich ihre Geschichte in 5 Möglichkeiten: von „der Zug kommt gleich“ über „manchmal fällt ein Zug aus“ bis „manchmal kommt ein anderer Zug“. In kunstvollen Bahnen und Zeitsprüngen zwischen Mareike und ihrer Mutter Magda, führt uns Tamara Bach durch die Geschichten: die der Mutter, die selbst frühzeitig schwanger war, die der Großmutter väterlicherseits, die im Altenheim bettlägerig ist und die der Schwester, die Vorbild aber auch verschlossen gegenüber der kleinen Schwester ist. Tamara Bach holt die Leser „von Zuhause ab“ und setzt sie auf Züge, die immer schneller werden. Großartige Sprache, raumfüllende Bilder und mitreißende Dialoge machen mich einmal mehr zu einem Tamara-Bach-Fan!
- JPS Ein Ort wie dieser
übersetzt von Tobias Scheffel
Die schüchterne Cécile ist bereits mit 22 frisch gebackene Lehrerin und hat eine Anstellung in Paris in der Nähe ihres Elternhauses bekommen, in dem sie mit Mutter und Bruder lebt. Von dort aus geht sie täglich in die Grundschule, wo sie es mit 18 Erstklässlern aus den unterschiedlichsten Bevölkerungs-schichten zu tun hat. Die Liebe zu den Kindern und zu ihrer Arbeit hilft ihr, sowohl das rigide französische Schulsystem als auch die Missgunst ihrer Kolleginnen und die Anforderungen der gehobenen „Vorstadt“- Eltern zu meistern. Dass sie sich neben den alltäglichen Problemen einer Lehrerin mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen der Schüler noch mit massivem Rassismus, einer Abschiebungsdrohung für eine ganze Schülergruppe und dem antikapitalistischen Gebaren eines jungen Mannes auseinander setzen muss, in den sie sich verliebt hat, lässt sich nur mit Humor und einer ordentlichen Portion Hartnäckigkeit aushalten. Erfreulicherweise ist der Schulleiter sehr schnell auf Céciles Seite und erkennt die Qualitäten der jungen Lehrerin...
Dieses Buch von Marie-Aude Murail, erschienen in Frankreich bereits 2005 unter dem Titel “Vive la République“, reicht nicht an das Format eines „Simpel“ heran, ist aber dennoch ein wunderbares und luftigleicht geschriebenes Statement für die Freiheit des Denkens und des Handelns. Murail hat immer ein Ohr und ihr ganzes Herz am Puls der Gesellschaft, sie kann nicht umhin, Ungerechtigkeiten aufzuzeigen und schreibend dagegen an zu gehen. Wenn man es schafft, sich trotz des banalen und nichtssagenden Buchcovers auf dieses Buch einzulassen, wird man mit einer mitreißenden Lektüre belohnt!
- JPS Letztendlich sind wir dem Universum egal
übersetzt von Martina Tichy
Empathie ist die Fähigkeit, sich in jemanden hineinzuversetzen. Dieses Hineinversetzen wörtlich genommen bildet die Grundidee des vorliegenden Romans. David Leviathan entführt uns in das rasante Leben des 16 jährigen A., der täglich in einem anderen Körper erwacht. Seit seiner Geburt ist A täglich für 24 Stunden unfreiwilliger Gast in einem gleichaltrigen Körper, sieht die Welt mit den Augen eines Anderen du erlebt dessen Gefühle, Reaktionen und Lebensumstände, ist manchmal ein Junge und manchmal ein Mädchen. Dennoch passiert es eines Tages, dass sich A., gerade in der Gestalt eines Jungen, in das Mädchen Rhiannon verliebt. Für etwas Beständiges scheint es in seinem Leben keinen Platz zu geben, denn schon am nächsten Tag kann A. kilometerweit weg, komplett anders drauf und eben auch ein Mädchen sein. Doch A. entscheidet sich, diese Liebe, die ihn im Kern seines Wesens berührt hat, erst zu nehmen und sucht nach Wegen, sich dem Mädchen zu offenbaren und ihm nahe zu sein. Ein intelligenter Plot, eine ungewöhnliche Liebesgeschichte und eine Menge Stoff zum Nachdenken machen aus diesem Roman ein absolut hitverdächtiges Stück Jugendliteratur mit Sogwirkung!
- JPS Die Nacht gehört dem Drachen
übersetzt von Henning Ahrens
Die 14 jährige Icherzählerin Evie ist nach offenbar traumatischen Kindheitserlebnissen bei liebevollen Adoptiveltern gelandet. Aber auch hier braucht sie noch Jahre, bis sie Amy und Paul endlich von ihrer gebrochenen Rippe erzählen kann. Im Krankenhaus wird ihr der inzwischen abgestorbene Teil der Rippe herausoperiert und zusammen mit ihrem neuen Onkel Ben schnitzt Evie aus dem Stück Rippe einen Drachen. Evie wünscht sich so sehr, dass der Drache lebendig werden möge, dass es dann eines Nachts auch passiert. Der Drache spricht mit ihr- allerdings meistens in Rätseln- und vor allem begleitet er sie auf nächtliche Ausflüge. Dieses fantastische Element gibt dem Roman einen schwebenden Grundton. Die Autorin Alexia Casale überlässt es den Lesern ihres Debütromans, zwischen den Zeilen zu lesen und sich selbst Gedanken zu machen. Das Thema Missbrauch wird hier so vorsichtig und sensibel behandelt, wie ich es bisher noch kaum irgendwo gefunden habe. Vielleicht ist es gerade das, was das Buch so wichtig macht. Aber auch Rache, Gerechtigkeit und Strafe werden thematisiert, auch hier müssen die Leser selbst entscheiden. Das orangefarbene Cover weckt Interesse und Neugier, ein signalfarbiger Hinweis darauf, dass überall auf der Welt Kinder misshandelt werden...
- JPS Tigermilch
de Velasco, Stefanie
280 Seiten, Kiepenheuer & Witsch
Die zwei 14jährigen Mädchen Jameelah und Nini, beste Freundinnen seit der Grundschule, leben in derselben Siedlung in Berlin. Neugierig, frech und wagemutig sammeln sie u. A. Erfahrungen mit Alkohol und Shit, dem Straßenstrich an der Kurfürstenstraße und dem Klauen von Schmuck. Nini, die Icherzählerin, bewundert ihre Freundin Jameelah, eine Irakerin, die nicht nur mehr weiß, als Nini, sondern sich das auch noch besser merken kann und die so schöne Sprachspiele erfindet. Beide Mädchen lassen sich durch den Berliner Sommer treiben, im Bewusstsein dessen, das es der letzte Gemeinsame sein kann, weil Jameelah und ihrer Mutter die Abschiebung droht. Aber vorher passiert noch ganz andere Menge Anderes: Amir, der von den beiden Mädchen kameradschaftlich und wie ein Bruder geliebt wird, kommt in den Knast, weil ein Familiendrama eskaliert und ein Mädchen erstochen worden ist. Der Umgang mit diesem Konflikt bringt sogar die Freundschaft der beiden Mädchen ins Wanken...Stefanie de Velasco gelingt mit ihrem Debütroman eine unglaublich dichte und spannende Coming of Age-Geschichte. Sprachlich balanciert di Velasco gekonnt zwischen jugendlich-rauhem Slang und poetischer Zartheit. Der Sound der Stadt weht durch die Seiten des Buches und erinnert mich an meine eigene Jugend in Berlin, auch wenn die schon lange her ist. Ein tolles Buch, das mich noch lange begleiten wird.
- JPS Warum ist Rosa kein Wind?
Gedichte und Geschichten vom Leben, Lieben und Fliegen
Noch ein wunderschönes (Haus-) Buch voller „Gedichte und Geschichten vom Leben, Lieben und Fliegen“...Herausgegeben von Christine Knödler enthält diese Anthologie wirkliche Blüten, sortiert nach Jahreszeiten, die den Lebensabschnitten Kindheit, Jugend, Erwachsenenzeit und Alter zugeordnet sind. Getragen von der Lust an der Sprache und ihren Bildern schwelgen die Herausgeberin und die Illustratorin gleichermaßen in den Texten aus Jahrhunderten, tanzen, stolpern, warten, fliegen und rennen durch die Zeiten und ermöglichen uns so die Berührung durch Worte. Hier gibt es so vieles zu entdecken, Anleitungen zum guten Leben genauso wie Trost, Begegnungen mit der Liebe, Freundschaft, dem Tod. Die starken Bilder aus Worten und die starken und zarten und wilden Illustrationen von Stefanie Harjes haken sich fest im Herzen und im Kopf und unter der Haut und unter dem Hut und bringen einen neuen Hüftschwung in die eingerosteten Glieder und machen glücklich.
- JPS Wie ein unsichtbares Band
übersetzt von Ilse Layer
Alma, Carmen und Marito sind Nachbarskinder auf einer kleinen Insel in der Nähe von Buenos Aires. Alma verbringt nur die Ferien und Wochenenden dort, unter der Woche besucht sie in Buenos Aires eine katholische Privatschule. Die vorhandenen sozialen Unterschiede spielen lange Zeit keine Rolle, aber die Kinder werden älter und die Freundschaften und die Wahrnehmungen untereinander verändern sich. Alma berichtet aus ihrer Perspektive, durchaus selbstkritisch und aus der Rückschau, über ihre Verliebtheit in Marito, über die Entfremdung von ihrer vormals besten Freundin Carmen und über sich zuspitzende politische Verhältnisse zu Beginn der Militärdiktatur in Argentinien, von denen sie zunächst nicht viel bemerkt. Ihre Freundschaft und Liebe zu Marito führt dann aber doch dazu, dass Alma die aktuellen Verhältnisse in Argentinien wahrnehmen muss. Inés Garland findet mit ihrem ruhigen und tiefgründigen Erzählstil, der vieles nur andeutet, genau den Ton, der mir an Lateinamerikanischer Literatur so gefällt: es entsteht Raum für eigene Ideen und eigenes Nachdenken, es muss nicht alles ausgesprochen werden um dennoch bedrückende Klarheit und Kraft zu entfalten. Spannung von der ersten bis zur letzten Seite und der Impuls, sich mit der politischen Vergangenheit des Landes näher zu beschäftigen - ein zartes und nachdrückliches Buch. Sehr lesenswert!
- JPS Die Sprache des Wassers
übersetzt von Cordula Stetsman
Die junge Kasienka wandert gemeinsam mit ihrer Mutter von Polen nach England aus, bloß mit einem Koffer und einem alten Wäschesack. Das Mädchen hält eigentlich nicht viel von der Idee, aber die Mutter ist überzeugt, ihren Mann, Kasienka `s Vater, in Coventry wieder finden und zurückgewinnen zu können. Nicht nur der englische Regen und die miese Unterkunft, in der sich Kasienka und ihre Mutter ein Bett teilen, macht das Ankommen im fremden Land schwierig. Kasienka wird in der Schule gemobbt und von ihrer Mutter besonders bei der Suche nach ihrem Vater als Dolmetscherin missbraucht. Dabei ist Kasienka gar nicht scharf darauf, ihren Vater wieder zu finden, schließlich hat er sie beide verlassen. In tagebuchartigen Einträgen und mit einer schnörkellosen und trotzdem poetischen Sprache gelingt es Sarah Crossan, uns Einblick zu geben in Kasienkas´s Gedanken und Gefühle. Nur beim Schwimmen fühlt sich das junge Mädchen wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser und hier lernt sie auch den Jungen William kennen. Ein gelungener Einblick in die Zwänge und Schwierigkeiten eines Neuanfangs in einem fremden Land.
- JPS Die besseren Wälder
Baltscheit, Martin | Baltscheit, Martin
250 Seiten, Beltz & Gelberg
Martin Baltscheit erzählt in diesem illustrierten Roman von Ferdinand, einem Ausnahmeschaf im Land der Schafe. Klug, charmant und mit einer unwiderstehlichen Singstimme ist Ferdinand der Stolz seiner Eltern. Dass seine eigentlichen Eltern bei dem Versuch, mit ihm gemeinsam die besseren Wälder zu erreichen, erschossen wurden und die beiden Schafe Wanja und Frauke den kleinen Wolf aufgenommen und zu einem Schaf erzogen haben, das weiß Ferdinand selber lange Zeit nicht. Aber als er sich in das hübsche Schafmädchen Melanie verliebt und die beiden einen kleinen, verbotenen Abstecher ins Grenzgebiet unternehmen, kommt viel Alkohol ins Spiel und als Ferdinand aufwacht, liegt Melanie tot neben ihm. Getötet von einem Wolf. Er kommt ins Gefängnis, er fängt an, sich zu fragen, wer er ist, er wird von zwei Mithäftlingen in die Mangel genommen, schließlich flieht er. Ok, er ist ein Wolf. Aber ist er auch Melanies Mörder?
Baltscheits Fabel von den Schafen und den Wölfen liest sich in der Tat wie ein Krimi. Seine wunderbare Sprache, zwischen Poesie und Alltagskultur, trägt die Gedanken in die Köpfe und lässt sie dort keimen, die Sprachbilder wie die Illustrationen wird man so schnell nicht mehr los. Farben unterteilen die Kapitel, die wölfischen sind Schwarz, die schafigen Weiß, zwischendurch blutiges Rot und Pastelltöne. Was für ein Buch!
- JPS Elefanten sieht man nicht
Keller, Susan
208 Seiten, Carlsen
Was tun, wenn man etwas Schlimmes bemerkt, das alle anderen ringsum zu ignorieren scheinen? Mascha verbringt wie gewöhnlich die Sommerferien bei den Großeltern in einer kleinen Stadt. Früher hat ihr das immer Spaß gemacht. In diesem Jahr aber langweilt sich die 13-Jährige. Am liebsten sitzt sie nun hoch oben in der kleinen Holzburg am Spielplatz, im Kopfhörer Leonhard Cohen, die Musik ihres geliebten Vaters, der – alleinerziehend – wenig Zeit für seine Tochter hat. Ganz altersgemäß beobachtet sie kritisch die Erwachsenen, ihre belanglosen Gespräche über den Gartenzaun, ehrpusselige Mütter am Spielplatz, das Gardinengewackel in der Siedlung. Alles scheint Ruhe und Sauberkeit zu atmen. Ereignislose Julitage, irgendwo in der deutschen Provinz. Mascha fühlt sich fremd und nutzlos.
Bis am Spielplatz zwei neue Kinder auftauchen: Die neunjährige Julia, still, schmal und hübsch und ihr kleiner, verfressener Bruder Max, brachial-wild bis zur Selbstverletzung, mit gewaltigen Rettungsringen über der Hose. Erst im Vorjahr sind sie mit ihren Eltern, den Besitzern des örtlichen Autohauses, in eines der umliegenden Häuser gezogen. Mascha freundet sich mit dem Mädchen an. Irritiert entdeckt sie bald die blauen und lilabraunen Flecken am Körper der Kinder. Als die dazu schweigen, beschließt sie der Sache selbst auf den Grund zu gehen. Und nach und nach findet Mascha dann heraus, dass der Vater in der Familie ein rabiates Regiment führt. Doch in der Vorstadt-Idylle will sich niemand einmischen. Man will keinen Ärger mit den „netten Leuten“ und hört auch weg, als Mascha um Hilfe bittet. Selbst die Großeltern schweigen.
Entrüstet beschließt Mascha deshalb, den Kindern selbst zu helfen. So wird aus dem Rollenspiel „Weglaufen“, in das die Spielplatzfreunde sich hineinphantasieren, plötzlich ernst. Fast ungewollt entführt Mascha Julia und Max. Die sitzen nun inmitten von Getreidefeldern vor der Stadt in einem blauen Holzschuppen fest. Doch die ungebetene Retterin ist rasch überfordert. Und anders als erwartet sind die Kinder ihr nicht etwa dankbar, sondern wollen nichts als raus aus der heißen Hütte und wieder heim. Als schließlich die Polizei sie nach zwei Tagen findet, wird damit bald auch offenkundig, was in ihrer Familie eigentlich los ist. Doch was folgt ist kein Happy-End. Denn die Menschen im Ort und in den betroffenen Familien reagieren so widersprüchlich wie im richtigen Leben.
Mit ihrem Roman-Debüt wagt Susan Keller sich an ein hierzulande literarisch nur wenig beachtetes und auch schwieriges Thema – die Gewalt gegenüber Kindern. Dafür versetzt sie ihre Protagonistin in die problembeladene Zeit an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Wie die meisten in dem Alter ist Mascha auf der Suche nach Identität und Sinn. Die Erwachsenen bieten ihr dabei nur wenig Orientierung. Die Protagonistin gleitet in diesem Sommer in die Pubertät und gewinnt die Einsicht, dass es auch von ihr abhängt, ob sich etwas verändert. Am Ende ist es den Leser/innen selbst überlassen zu beurteilen, ob Mascha aus Verantwortung für die Freunde dabei das Richtige getan hat. Ein Jugendbuch mit einem Plot, der Stoff fürs Nachdenken über das eigene Wollen und Werden bietet.
Was allerdings ein wenig irritiert, das ist der Buchtitel „Elefanten sieht man nicht“, der sich bei einem englischen Sprichwort mit kolonialem Kontext bedient. „There is an elephant in the room“ wird gesagt, wenn eine unangenehme Tatsache offensichtlich ist aber allseits ignoriert wird. Ein Bezug, der in der deutschen Sprache nicht herstellbar ist.
- US Allein unter Schildkröten
übersetzt von Maike Dörries
Dieses Buch handelt von Mikke, von seinen letzten Tagebucheinträgen bis zu seinem Selbstmord und von Mikkes Mutter, die nach einem Chile-Urlaub mit ihrem Freund Idar zurückkehrt, und ihren toten Sohn in seinem Zimmer vorfindet. Idar, der Freund der Mutter, auch Mikkes Vater fühlen sich schuldig, kein Wunder. Mikkes Mutter schreibt Briefe an ihren toten Sohn, drückt ihren Schmerz aus, arbeitet sich an ihm ab, lebt mit ihm weiter und mit den Menschen, die Mikke wichtig waren. Wo zu Beginn Mikke selbst zu Wort kommt, in Tagebucheinträgen in seinem Computer, entsteht bereits ein Bild von Mikke, über die Briefe der Mutter vervollständigt sich das Bild von Mikkes Leben und zum Schluss des Buches schreiben die Menschen, die Mikke nahestanden, ebenfalls in Briefform.
Ein aufrüttelndes Buch in seiner Offenheit und Aufrichtigkeit, hier stehen keine Erklärungen und tiefgründigen Begründungen zur Verfügung, um diesen Selbstmord leichter zu verkraften.
- JPS MÉTO
übersetzt von Stephanie Singh
„MÉTO. Das Haus“ ist das erste Buch einer Dystopie-Trilogie, die, dort als Einteiler erschienen, in Frankreich bereits ein Bestseller ist. 64 Jungen leben gemeinsam in einem Haus, eingesperrt, vollkommen isoliert und einem totalitären System unterworfen, welches durch die „Cäsaren“ überwacht und aufrechterhalten wird. Sie werden, ohne Wissen um ihre Herkunft und ihre Zukunft, in eine anstrengende Abfolge von Sport, Spiel und Schule eingespannt, mit harten und irrationalen Regeln erzogen und unter Anderem mit tagelangen Aufenthalten in einer Kühlkammer bestraft. Außerdem bekommen die Jungen regelmäßig Spritzen, ihnen wird Wissen vorenthalten und bei einem Gruppenspiel sind sie gezwungen, sich gegenseitig zu verletzen. Von all dem berichtet Méto in kurzen, emotionslosen Sätzen aber auch von seiner zunehmenden Unzufriedenheit innerhalb dieses Systems. Er stellt fest, dass er nicht alleine ist, dass sich eine Widerstandsgruppe gebildet hat und schließt sich ihr an. Natürlich gibt es auch Verräter, überall ist Aufmerksamkeit, Umsicht und Entschlossenheit erforderlich. Zum Ende des ersten Teils haben die Aufständischen es geschafft, sich Waffen zu besorgen und die Cäsaren zu überwältigen...
Eine spannende und düstere Geschichte über die Folgen und Wirkung von Unterdrückung.
- JPS Abzählen
übersetzt von Natia Mikeladse-Bachsoliani
Zwei 13-jährige Mädchen, die Ich-Erzählerin Zknapi und ihre Freundin Ninzo, leben in einer Konfliktzone zwischen zwei miteinander im Krieg befindlichen Ländern. Mit ihnen sind dort nur noch Alte, Kranke und Kinder und es mangelt an Allem. Die ältesten Jungen organisieren sich in Banden und natürlich sind auch die Mädchen gezwungen, Dinge des täglichen Bedarfs zu organisieren. Zknapis kleiner Bruder droht zu verhungern, weil der Mutter die Milch versiegt ist, Hunger und Krankheit setzen ihr zu und die Angst um ihren Mann im Krieg und ihren kleinen Sohn. Zknapi selbst ist in großer Sorge, die Mutter sagt mehrfach, dass sie nicht mehr leben will. Ninzo pflegt ihre sterbenskranke Großmutter und überredet Zknapi, zusammen mit ihr auf Raubzüge in verlassene Häuser zu gehen. Als die beiden Mädchen beginnen, als Drogenkuriere zwischen den Frontlinien zu verkehren, spitzt sich alles noch mehr zu. Die unmittelbare und noch kindliche Sprache der Icherzählerin nimmt die Leser mit hinein in diese trostlose und unverschuldete Lage und als der Erzählstrom versiegt, kann das nur eines bedeuten...
Eine herbe Innenansicht des Krieges, unter dem auch so viele Kinder zu leiden haben.
- JPS Finding Sky
Die Macht der Seelen
Die medial begabte Sky ist gerade mit ihren Adoptiveltern von England in die USA umgezogen. Sie ist darüber nicht gerade glücklich, denn noch immer trägt sie die Schatten ihrer schweren Vergangenheit mit sich herum und hatte sich nun endlich in der Umgebung und mit ihren Freunden bei ihren Adoptiveltern eingelebt. Doch wo ein Ausnahme-mädchen vorkommt, darf natürlich auch ein Ausnahmejunge nicht fehlen: der arrogante und abweisende Zed wird im Umgang mit Sky zunehmend freundlicher und aufgeschlossen. Außerdem versucht er Sky klar zu machen, dass sie sein Savant, sein Seelenspiegel sei. Sky will davon erst mal nichts wissen, wird jedoch im Laufe der Zeit immer mehr von Zed und dessen medialen Begabungen eingenommen. Eine romantische Liebesgeschichte mit Tempo und Krimi-Touch, die anstelle von Vampiren oder griechischen Göttern jetzt mal mit Seelenverwandten aufwartet.
Bewegt das Mädchenherz.
- JPS Wer hat Angst vor Jasper Jones?
übersetzt von Bettina Münch
Der Roman spielt im Jahr 1965 in Australien. Der 13-jährige Charles Bucktin lebt mit seinen Eltern in der Kleinstadt Corrigan, in der Vorurteile, Gerüchte und Fremdenhass den Alltag bestimmen. Als eines Nachts der Außenseiter Jasper Jones an Charlies Fenster klopft und ihn um Hilfe bittet, entscheidet sich Charlie gleichzeitig für das Abenteuer aber auch für das Erwachsenwerden. Jasper führt Charlie tief hinein in den australischen Busch um seine schreckliche Entdeckung mit jemandem teilen und besprechen zu können. Denn beiden ist schnell klar: einem wie Jasper Jones wird alles zugetraut, doch ein Verbrechen aufzuklären, bei dem vielleicht wichtige Personen der Gesellschaft mitgewirkt oder weggesehen haben, will hier niemand. Also müssen die beiden Jungen selbst nachforschen und, was Charlie am schwersten fällt, dürfen sich niemandem anvertrauen, nicht mal Charlies bestem Freund Jeffrey Lu.
Schon bald ist Jaspers Haupt-Verdächtiger nicht mehr verdächtig und unerwartet kommt noch eine andere Person ins Spiel, die mehr weiß, als sie sagt. Unterdessen läuft die Suche nach Laura, dem verschwundenen Mädchen auf Hochtouren...
Dieser packende Thriller und wunderbar geschriebene Roman hat mehr Zeitbezüge, als die Jahreszahl zunächst vermuten lässt!
- JPS Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe
übersetzt von Annette Kopetzki
Der jugendliche Ich-Erzähler ist gerade mal 17 Jahre alt und ein grandioser Maulheld und Aufschneider. So bringt er sich ständig in neue Schwierigkeiten, zumal seine Selbstwahrnehmung deutlich von dem abweicht, was seine Umwelt sieht. Zusammen mit seiner älteren Schwester, die er die „Mönchsrobbe“ nennt und seinem Vater, dem „Chef“, lebt er im hässlichsten Haus des Ortes. Vor kurzem ist die Mutter der beiden Jugendlichen mit einem erheblich jüngeren Tankwart abgehauen, die „Mönchsrobbe“ hat seitdem noch stärkeren Halt im Kirchgang und der Religion gefunden und der „Chef“ säuft sich vorsätzlich um den Verstand. Der namenlose Ich-Erzähler strudelt unterdessen durch Umstände und Zufälle von einer Schlägerei in die nächste und auch von der Schule.
Selbst mit der attraktiven Chiara verbindet ihn zunächst eine handfeste
Auseinandersetzung. Selten habe ich ein Buch gelesen, bei dem die Hauptperson so negativ und selbstverliebt dargestellt wird, dass es beinahe nicht zum Aushalten ist. Und dennoch ertappe ich mich im Laufe des Lesens dabei, dass ich mitfühle, mich an jugendlichen Größenwahn und Selbstüberschätzung erinnere und mit genau diesen Zutaten der Hauptperson beim Wachsen zuschaue...
Ein bemerkenswertes Buch-Debüt - besonders spannend für männliche Leser!
- JPSEigentlich passiert so etwas immer nur anderen. Nicht einem wie Chris, der zusammen mit seinem älteren Bruder in einer Mietskaserne im Hasenbergl wohnt, dem sozialen Brennpunkt von München. Chris joggt gerade durch den Wald, als ein Auto von der nahe gelegenen Autobahn abkommt und ihm auf seiner Joggingtrecke quasi vor die Füße fällt. Mit einem bewusstlosen Fahrer und einem Mädchen im Kofferraum, dass Chris eine Tasche volle Geld in die Hand drückt, mit der Bitte, es für sie zu verstecken. Also nimmt Chris die Tasche und verschwindet und es beginnt eine rasante Geschichte voller Überraschungen. Natürlich will das Mädchen Sabrina das Geld zurück, Chris´Bruder Phil, rivalisierende Gangs und genervte Polizisten kommen dazwischen. Ein durch und durch stimmiger Plot, der auch sprachlich und im Bezug auf die Spannung keine Wünsche offen lässt...
- JPS Das Schicksal ist ein mieser Verräter
übersetzt von Sophie Zeitz
Diese Geschichte berichtet von zwei jugendlichen Krebspatienten, die sich wider alle Vernunft in einander verlieben und mit der besonderen Endlichkeit dieser Liebe von Anfang an leben müssen. Dabei schwanken sie, genauso wie viele Gesunde, zwischen Distanzbemühungen und dem Wunsch nach bedingungsloser Hingabe, und genauso wie viele junge Verliebte kommen sie existenziellen Fragen
sehr nahe. Aber anders als Diese sind für sie die existenziellen Fragen wirklich drängend.... Die zunächst widerwillig besuchte Selbsthilfegruppe krebskranker Kinder bildet den Rahmen und das Ensemble der mit verschiedenen Krebs-Leiden geschlagenen Protagonisten, die sich auf individuelle Weise mit Schmerz, Verlust und dem Sterben auseinander setzen. Neben Hazels großer Liebe Augustus spielt ein Buch eine weitere wichtige Rolle dass für Hazel besonders in den Zeiten der starken Schmerzen Trost und Herausforderung bedeutete. Bisher war es nie gelungen, einen Kontakt mit dem Autoren her zu stellen, nun hat es Augustus heimlich versucht und sowohl eine Einladung nach Amsterdam für sie beide erhalten als auch eine Finanzierungsmöglichkeit aufgetan. Trotz intensiver Bemühungen sieht es zunächst nicht so aus, als könnte die Reise stattfinden, als sie dann doch reisen, ist gerade das Zusammentreffen mit dem Autoren eine menschliche Enttäuschung. Trotzdem bedeutet diese Reise einen Höhepunkt für die Liebe der beiden...
- JPS Kaputte Suppe
Valentine, Jenny
208 Seiten, dtv
Die 16jährige Rowan ist die Hauptfigur dieses mitreißenden Romans: nach dem Unfalltod ihres älteren Bruders vor ein paar Jahren ist Rowans Mutter in eine schwere Depression gefallen, so dass Rowan sich um sie und ihre kleine Schwester Stroma kümmern muss. Rowans Vater ist ausgezogen und Rowan versucht, ihre tatsächliche Überbelastung vor ihm und der Welt zu verheimlichen, damit sie und die kleine Schwester nicht auch noch von einander und von der Mutter getrennt werden. Eines Tages beim Einkaufen im Supermarkt gibt ihr ein freundlicher, fremder junger Mann ein Fotonegativ, dass sie angeblich verloren hat, dabei hat Rowan es noch nie gesehen. Damit nimmt eine Reihe von Ereignissen ihren Lauf, Rowan beginnt neue Beziehungen, findet Freiräume und gesteht sich am Ende sogar ihre Überlastung ein. Doch bis dahin nimmt uns Jenny Valentine noch mit immer neuen Überraschungen gefangen... Im heutigen London spielend hat diese sprachlich dichte Geschichte eine Menge Identifikationspotenzial für Kinder, deren Eltern aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr „funktionieren“- durchaus geeignet als Klassenlektüre zum Thema Familie...
- JPS Pampa Blues
Lappert, Rolf
252 Seiten, Hanser
Ben ist noch nicht mal 17 und hat die Nase gründlich voll von seinem Leben. Seine Mutter tingelt als Jazz-Sängerin durch die Lande, schickt Haushaltsgeld und ruft ab und zu an, um Ben mitzuteilen, dass sich die derzeitige Tournee verlängert. Ben kümmert sich unterdessen um seinen Opa Karl. Das ist allerdings ein Fulltimejob, denn Karl ist senil, zwar körperlich gesund aber nicht mehr in der Lage, sich um sich selbst zu kümmern und häufig verschlossen. Ben muss ihn waschen, anziehen, für ihn kochen, darauf achten, dass er genug trinkt und in ab und zu suchen. Da Karl sich gerne mit Vogelfutter in beiden Handflächen aufs Feld stellt, um die Vögel anzulocken, weiß Ben aber meist, wo er zu finden ist. Aber Karl ist natürlich der Grund dafür, warum Ben noch dort ist, in dem verschlafenen Nest Wingroden, einem winzigen Dorf, das eigentlich fast nur von Männern bewohnt wird. Hier scheint die Zeit still zu stehen, nicht gerade das, was man sich als Jugendlicher wünscht. Aber dann taucht auf einmal Lena auf, und alles wird anders... Toll geschriebene, skurrile Story mit stets liebevollem Blick! Unbedingt lesen!
- JPS Simpel
übersetzt von Tobias Scheffel
Der 17-jährige Colbert hat seinen Bruder Barnabé, genannt Simpel, auf seine Verantwortung aus dem Heim für geistig Behinderte geholt. Er erträgt es nicht, Simpel dort leiden zu sehen. Jetzt kümmert er sich um ihn, so gut er kann, ist aber natürlich häufig ziemlich überfordert. Simpel ist 22 Jahre, spielt mit Playmobil, spricht mit seinem Stoffhasen und denkt sich Wörter in einer anderen Sprache aus. Dieses wunderbare Buch von Marie-Aude Murail beschreibt nicht nur einfühlsam die Erlebniswelt von Simpel, sondern zeigt auch eindrücklich die gesellschaftlichen Tabus, die sich im Umgang mit geistig behinderten Menschen in verschiedenen Facetten zeigen. Und in der liebevoll gezeichneten Hauptfigur Simpel steckt eine ganze Palette von Möglichkeiten, das Buch/Thema weitergehend zu bearbeiten. Eine eigene Sprache erfinden, wie Simpel es tut, zu Beispiel. Oder Monsieur Hasehase, dessen diabolische Einflüsterungen Simpel immer wieder in Versuchung führen. Diese Gestalt wird sooft zerschnitten, geflickt, gewaschen, gerubbelt, gedrückt oder sonst wie zerstört, dass es sich anbietet, eine Hasehase-Collage zu machen, vielleicht auch in einer Bildfolge, mit Textzitaten Vorher/Nachher. Ein tolles Buch mit tollen Möglichkeiten für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen!
- JPS Monsterwochen
Koertge, Ron
142 Seiten, Carlsen
Ben Bancroft, der Ich-Erzähler, ist 16, Vollwaise, halbseitig spastisch gelähmt und lebt bei seiner Großmutter. In der Schule ist er ein Außenseiter. Seine Welt ist das Kino und besonders die Filmwoche im heruntergekommenen Rialto-Lichtspielhaus, in einem Vorort von L.A.
Als sich während eines Films die ausgeflippte Colleen aus seiner Schule neben ihn setzt und im Drogenrausch an seiner Schulter einschäft, beginnt sich für Ben alles zu ändern. Die ungewohnt direkte Art, mit der Colleen mit seiner Behinderung umgeht und sich ihm auch körperlich nähert, verändert sein Leben grundsätzlich. Natürlich ist Bens Großmutter mit dieser Bekanntschaft nicht glücklich, zumal Colleen nicht nur alle möglichen Drogen zu sich nimmt, sondern auch noch ein loses Mundwerk hat.
Koertges Roman besticht durch seinen unkonventionellen Umgang mit Behinderung. Der Ich-Erzähler kommentiert witzig-flapsig die ver-schiedenen Situationen, die sich aus seiner Behinderung ergeben. Diese sprachliche und stilistische Direktheit, die Situationskomik und die witzigen Dialoge machen die besondere Qualität dieses Romans aus und bestimmen seinen Charakter.
Paradiesische Aussichten
Guène, Faïza
144 Seiten, Carlsen
Jurybegründung AKJ:
Das mit dem Schicksal ist sowieso völlig frustrierend, weil man nichts daran ändern kann“, meint die 15-jährige Doria. Doch dass das Leben sehr wohl auch PARADIESISCHE AUSSICHTEN birgt, das zu erzählen gelingt Faïza Guène. Sie wurde 1985 geboren – in dem Jahr, in dem der Kinofilm TEE IM HAREM DES ARCHIMEDES die berüchtigten Banlieus von Paris über die Grenzen von Frankreich hinaus berühmt machte. 20 Jahre später wählt die Autorin denselben Schauplatz für ihre Erzählung. Sie fokussiert ihren Blick auf die Lebenswirklichkeit einer marokkanischen Immigrantenfamilie. Wie „short cuts“ erscheinen die kurzen Kapitel, in denen die Ich-Erzählerin ihren Mikrokosmos kartografiert. Die heranwachsende Heldin besticht nicht allein durch ihre lakonisch-ironischen Kommentare, sondern auch durch den punktgenauen Blick auf die sozialen Lebensumstände. Während uns die medialen Bilder der brennenden Autos und der eingeworfenen Schaufensterscheiben aus Frankreich noch deutlich im Gedächtnis sind, liefert Guènes Text den Bodensatz hierzu. In der meisterlichen und zeitgemäßen Übersetzung von Anja Nattefort zeigt das Buch das beeindruckende Porträt einer Generation. Ab 14
Wenn er kommt dann laufen wir
übersetzt von Alexandra Ernst
Jurybegründung AKJ:
Das Böse existiert und ich habe es gesehen, direkt vor meinen Augen. Und das Einzige, was man dagegen tun kann, ist, es wegzusperren.“ – Doch das Böse wegzusperren, das genau gelingt nicht. David Klass entwirft eine moderne Kain-und-Abel-Konstellation, die Thriller und psychologische Studie zugleich ist. Sie dreht sich um Troy, der als Jugendlicher einen Jungen erstochen hat und nun vorzeitig aus der Haft entlassen wird. „Dark Angel“ heißt das Buch im Original und bezeichnet treffend die Rolle, die Troy in der Familie und vor allem für seinen jüngeren Bruder einnimmt. Der Ich-Erzähler Jeff muss in der Konfrontation mit Troy erkennen, dass dieser auch einen Teil seiner eigenen Persönlichkeit darstellt. Klass siedelt seine spannend inszenierte Geschichte in einer amerikanischen Kleinstadt an und zeigt beklemmend die dort herrschende Doppelmoral und Enge. Er wechselt gekonnt die Perspektiven, verunsichert seine Leser, die nicht umhin können, auch Sympathie für den Bösen zu empfinden, und entlässt sie mit einem unbestimmten und beunruhigenden Ende. Die Übersetzung von Alexandra Ernst trifft anschaulich den Stil und Tonfall. So gelingt es, ein großes Thema durchzuspielen, das nicht nur in den USA eine brisante Diskussion darstellt: Was ist das Böse? Ab 13
Kissing the rain
übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn
Jurybegründung AKJ:
Alle Zutaten für einen spannenden Kriminalroman sind hier vereint: ein vertrackter Plot, ein sperriger Protagonist, der sich aller Sympathie widersetzt, ein korrupter Polizeiapparat, brutale Gangster und durchtriebene Rechtsanwälte. Der dicke Moo, eine Vorzeige-Außenseiterfigur, auf die in der Schule täglich böse Witze und Gemeinheiten niederprasseln, ist der Erzähler und der gewichtige Spielball zwischen diesen Fronten. Kevin Brooks entwirft ein böses, schwarzes Szenario existenziellen Ausmaßes für seine Geschichte. Der Kriminalroman entpuppt sich bei der Lektüre mehr und mehr als Tragödie, menschlich und gesellschaftlich gesehen. Flüchtig verschliffene Wörter und Sätze verdichten sich zu Moos Bericht. In der deutschen Übersetzung bringt Uwe-Michael Gutzschhahn den Text fulminant zum Klingen: Die erzählerische Wucht und den emotionalisierenden Sog der Story packt er in eine wortgewaltige Form.
Moo ist ein extrem übergewichtiger Jugendlicher, der hier in seiner Sprache die Ereignisse zusammenfasst, die in dahin gebracht haben, wo er jetzt ist.
In einer Rückblende, die dicht und authentisch zwischen allen wichtigen Momenten, Orten und Zeiten wechselt, analysiert er sein Leben, seine Beziehungen und die Gründe für sein Fett-sein. Dabei geht er ehrlich und schonungslos mit sich und anderen um und wird nicht zuletzt durch seine Sprache zu einem Gegenüber, das für sich einnimmt.Ein neuer Blickwinkel auf das Leben aus Moo´s Perspektive ist eine der großen Chancen, die in dem Buch stecken. Die Sprache transportiert die Gefühle des Jugendlichen, wird zum Rhythmus, Verstärker und regt zur Nachahmung an.
Running Man
übersetzt von Birgitt Kollmann
Jurybegründung AKJ:
Eigentlich sollte Joseph nur ein Porträt von dem zurückgezogen lebenden Tom Leyton anfertigen. Doch durch seine vertrauensvolle Art öffnet er das seit Jahren verschlossene Herz des alten Mannes mit jedem seiner Besuche ein bisschen mehr. Schließlich kommt Joseph hinter sein Geheimnis und bringt mit jedem Tag und Wort ein Stück des "alten" Tom zu Tage. Tom zeigt Joseph die faszinierende Kunst der Seidenraupenzucht und die beiden unterhalten sich auch über den Running Man, der mit panisch angstverzerrtem Gesicht durch die Stadt rennt, als wäre der Teufel hinter ihm her. Seit Joseph denken kann, ist dieser Mann sein persönlicher Albtraum. Doch Tom Leyton bringt ihn dazu, den Running Man zu verstehen. Dieses Buch macht trotz des Schmerzes und der Tragik darin glücklich und nachdenklich.
Der stille und in sich gekehrte Joseph lebt mit seiner Mutter in einer australischen Kleinstadt. Sein Vater arbeitet die meiste Zeit an weit entfernten Baustellen und kommt nur zweimal im Jahr nach hause. Joseph vermisst ihn und ist gleichzeitig wütend auf den abwesenden Vater. Durch den schulischen Auftrag, ein gezeichnetes Portrait herzustellen, macht der Junge die Bekanntschaft des Nachbarn, der mit seiner Schwester völlig zurückgezogen lebt. Joseph muss sich zunächst sehr überwinden, den Kontakt zu vertiefen, denn der Nachbar ist noch verschlossener als er selbst und es kursieren wilde Gerüchte über den Grund seiner Zurückgezogenheit. Doch nach und noch eröffnet sich den beiden eine gemeinsame Kontaktebene durch die Seidenraupenzucht des alten Mannes und es entsteht eine tiefe und vertrauensvolle Beziehung.
Eine wie Alaska
übersetzt von Sophie Seitz
Jurybegründung AKJ:
Der 16-jährige Miles führt ein Leben ohne Freunde; er besucht das Internat Culver Creek. Noch vor dem ersten Schultag kommt er durch einen üblen Schülerstreich beinahe ums Leben. Er freundet sich mit Colonel, Takumi, Lara und Alaska an und sie planen den "besten Culver-Creek-Streich aller Zeiten". Miles verliebt sich in die geheimnisvolle Alaska, deren sprunghaftes Verhalten ihn jedoch überfordert. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Was verbirgt sie? Gerade als Miles glaubt, dass der lang ersehnte erste Kuss alles ändere, geschieht das Unfassbare ...?John Green erzählt lebensnah aus Miles' Perspektive. Die Geschichte um die erste Liebe, Abenteuer, Sehnsucht nach dem Erwachsenwerden und der Frage nach dem Weg aus dem Labyrinth zieht Mädchen und Jungen gleichermaßen in seinen Bann. Das Buch ist spannend geschrieben und zeigt die besondere Tragik eines außergewöhnlichen Mädchens, das Miles' Leben auf den Kopf stellt.
In diesem Buch entscheidet sich der Protagonist Miles zum Aufbruch ins Ungewisse. Auf der Grundlage eines sicheren und stabilen Elternhauses wechselt das Einzelkind Miles in ein Internat. So will er sich aus seiner Isolation befreien und das Leben in der Gemeinschaft mit Gleichaltrigen aus-probieren. Jedoch hat gleich seine erste Begegnung mit diesen Gleichaltrigen beinahe tödliche Konsequenzen. Dann aber nimmt sein Zimmerkollege und dessen Freundeskreis in herzlich auf, Miles` Hobby, „famous last words“ auswendig zu kennen, verhilft ihm zusätzlich zu Anerkennung. Das Mädchen Alaska, der Traum aller Jungen der Schule, ist gerne mit ihm zusammen und obwohl sie außerhalb des Internats einen Freund hat, entsteht zwischen den beiden eine besondere Freundschaft.
Eindrücklich geschilderte Lojalitäts- und Gruppenkonflikte, Freundschaft und Erwachsenwerden in einem schulischen Rahmen, der Individuen fördert ohne auf Moral und Bildungsanspruch zu verzichten.
Im Schatten der Wächter
übersetzt von Alexandra Ernst
Jurybegründung AKJ:
"Der Zweck der Verfolgung ist die Verfolgung. Der Zweck der Folter ist die Folter. Der Zweck der Macht ist die Macht."
(George Orwell, 1984)
Das ist das Motto für Richard, den Anführer der "Wächter", denen es Spaß bereitet, Macht über Mitschüler zu besitzen, diese zu bestrafen und zu terrorisieren. Die Wächter bedienen sich dazu einer Gruppe von Handlangern, zu denen der 15-jährige Elliot gehört. Elliot war an seiner alten Schule drei Jahre das Opfer, er wurde gequält, verfolgt und geschlagen. An seiner neuen Schule erfindet er einen neuen Elliot, der sich cool, kaltblütig und abgebrüht gibt und schließlich zum Auserwählten der Wächter-Bande aufsteigt. Die neue Identität ohne Ecken und Kanten wird Elliot zur zweiten Natur. Durch die Begegnung mit Louise und Ben gerät Elliot immer mehr in Konflikt mit seiner neuen Rolle, bis er schließlich seine schreckliche Angst überwindet und den Sinn der Worte aus 1984 begreift: "Aus freiem Willen tritt er dem System entgegen. Er gehorcht seinem wahren Glauben und riskiert alles. Und damit befreit er sich selbst ..."
In seinem ersten Roman gelingt es Graham Gardner, die Wandlungen der Hauptfigur überzeugend und glaubwürdig darzustellen. Die Geschichte wird temporeich, kühl, spannend, dicht, fesselnd und schonungslos offen erzählt. Ab 13
Elliot ist ein Opfer, ein Prügelknabe. Als er nun umzieht, in eine neue Stadt und in eine neue Schule kommt, beschließt er, seine alte Rolle abzulegen. Er unterzieht sich einer strengen Selbstkontrolle, übt mit Kleidung, Haltung und Auftreten, Unbeteiligtsein aus zu drücken. Denn er hat erkannt, dass nur Coolsein schützt. Keine Angst darf nach außen dringen. Nicht aufzufallen ist das Überlebenskonzept für Elliot. Aber auch an der neuen Schule findet Gewalt statt. Dort gibt es eine unsichtbare, aber umso effizientere Ordnungsmacht, die Wächter. Sie schaffen mit ihrer Macht und systematischer Unterdrückung eine Hierarchie in der Schülerschaft. Elliot beherrscht seine coole Rolle inzwischen so perfekt, dass er selbst zu einem Wächter erkoren wird. Aber dann muss er auch aktiv werden, selbst Opfer auszusuchen, ihre Bestrafung festlegen und die Täter wählen. Wird aus dem Opfer ein Täter, oder findet er zu seiner persönlichen Stärke?
Gardners Roman überzeugt durch die Beschreibung der bedrückenden Atmosphäre in der Schule mit ihrem subtilen und effizienten Unterdrückungs- und Machtsystem. Jugendliche kennen diese Formen von
Ausgrenzung, Mobbing, Unterdrückung und das Ausspielen von Macht. Das Buch kann sehr hilfreich beim Bearbeiten von Gewaltthemen sein.
Lucas
übersetzt von Uwe- Michael Gutzschhahn
Jurybegründung AKJ:
Die 15-jährige Cait lebt mit ihrem Vater auf einer kleinen Insel. Ihr Leben verändert sich schlagartig, als plötzlich Lucas auftaucht; ein stiller und geheimnisvoller Junge, von dem niemand weiß, wer er ist und woher er kommt. Cait ist vom ersten Augenblick an von ihm fasziniert. Aber Lucas ist auf der Insel nicht willkommen. Die Einheimischen misstrauen dem Fremden und lassen nichts unversucht, um ihn von der Insel zu verscheuchen. Einzig Cait und ihre Familie glauben an Lucas und versuchen, ihm zu helfen. Als während eines Festes ein junges Mädchen schwer verletzt aufgefunden wird, beginnt eine Hetzjagd auf Leben und Tod.
Es fällt nicht leicht, das Buch in eine Kategorie einzuordnen. Die Geschichte handelt von Enttäuschung, Faszination, Angst und Hoffnung. Brooks vermittelt einen intimen, einfühlsamen, rührenden, aber dennoch faktisch klaren und klischeelosen Einblick in die Gefühlswelt seiner Protagonistin. Besonders erschreckend ist die unterschwellige Schilderung der Gewalt. Diese Mischung aus Hoffen und Zweifeln macht den Text so stark. Lucas ist ein bemerkenswertes Buch, das uns die tiefen Abgründe menschlichen Verhaltens herzergreifend vor Augen führt. Ab 14
Lucas, ein seltsamer Junge mit einer besonderen Ausstrahlung, ist die ideale Projektionsfläche für „das Fremde“. Er ist frei, autonom, sein Gespür für Menschen und Tiere lässt ihn gleichzeitig anziehend und gefährlich erscheinen. Jedenfalls nehmen ihn einige Inselbewohner so wahr und es kommt mehr und mehr zu einer Polarisierung. Ein ergreifendes Buch über menschliche Abgründe.
- JPS Candy
übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn
Zwischen einem behütet aufwachsenden Jungen und einem drogenabhängigen Mädchen, das anschaffen geht, entsteht eine tiefe Beziehung, in deren Verlauf Joe erfährt, wie hauchdünn die Grenze zwischen seiner und Candys Welt ist. Und wie unüberwindlich tief der Abgrund dazwischen. Existenzielle Erfahrungen von Gewalt, Abhängigkeit und Hilflosigkeit, von Todesangst und Verzweiflung verändern ihrer beider Leben. In dieser temporeichen Geschichte kommt alles so knüppeldick und heftig, dass nur das Leben selbst solche Geschichten schreiben kann.
Dankenswerter Weise kein Happy-End – obwohl beide Protagonisten über sich selbst hinauswachsen und mehr schaffen, als eigentlich möglich ist.
Sehr empfehlenswert!
Wir retten Leben, sagt mein Vater
übersetzt von Andrea Kluitmann
Jurybegründung AKJ:
Wie auf einer Bühne ordnet der Autor seine Figuren vor einer seltsamen Kulisse an: Da ist die Großmutter, die seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr spricht, die Eltern der Erzählerin, die ihre Ehe verdrießlich aussitzen, und die 15-jährige Ich-Erzählerin selbst, die auf den Märchenprinzen wartet. Nicht zu vergessen deren Freundin Sue, die vergeblich, aber dafür umso intensiver liebt. Sie alle sind um das kleine Haus am Ende der Straße drapiert, die nach einer scharfen Kurve in einer halben Brücke mündet. Wohin diese Brücke reicht? Nach „Kein Ort, nirgends“ vielleicht oder direkt ins Land der Sehnsüchte und Fortsetzungsgeschichten?
Do van Ranst gelingt eine bestechend komische und originelle Fabel, die Familiengeheimnisse und kompakte Lügengeschichten originell zu skizzieren vermag. Seine familiäre Versuchsanordung ist eine höchst amüsante und zugleich tiefgründige Inszenierung. Sie versinnbildlicht nicht nur die Qualen des Erwachsenwerdens, sondern auch die verkapselten Leidenschaften ihrer pointiert gezeichneten Charaktere. Andrea Kluitmann hat den Text mit leichter Feder aus dem Niederländischen übertragen. – Ein fulminantes Familienstandbild, aus der Kurve geschossen.
Ab 13
Der Joker
übersetzt von Alexandra Ernst
Jurybegründung AKJ:
Jeder Loser kann die Welt verbessern! – Ed findet eine Spielkarte im Briefkasten, mit drei Adressen und Uhrzeiten – Anstoß für seine ersten drei Aufgaben. In weiteren Aufträgen kreuzt Ed das Leben anderer Menschen. Einer alten, einsamen Frau leiht er ein offenes Ohr, einem brutalen Familienvater führt er die Gefühle des Opfers vor Augen. Er ändert nicht aktiv das Leben der Anderen, sondern zeigt ihnen nur die Richtung. Nach und nach öffnen sich auch ihm die Augen und er entdeckt in seiner eigenen scheinbar heilen Welt Risse und Sprünge.
Den Helden auf seinem Weg zu begleiten, ist ein aufregendes Abenteuer. Skurrilironisch-komische Abschnitte wechseln sich ab mit erschütternden und nachdenklich machenden Etappen. Zusak spricht viele verschiedene Themen an und lässt den Leser zusammen mit Ed in zahlreiche unterschiedliche Milieus eintauchen. Diese Episoden fügen sich wie von selbst zu einer unglaublichen, aber dennoch authentischen Story zusammen. Hinzu kommt der geniale Stil des Autors. Durch geschickte Wortwahl lockt er den Leser hin und wieder auf falsche, teils grausige Fährten, so dass man sich in einem Strudel aus Realität und Fiktion wiederfindet. Ab 13
Vier Freunde, einer davon der Ich-Erzähler Ed, befinden sich in einem Zustand relativer Antriebslosigkeit. Egal, ob sie Arbeit haben, oder nicht, sie haben sich in ihrem Dasein eingerichtet und spielen regelmäßig miteinander Karten. Bis eines Tages zwei der 4 in einen Banküberfall verwickelt werden, durch den die Öffentlichkeit auf Ed aufmerksam wird. Jetzt beginnt eine neue Zeit für Ed, denn irgendjemand schickt ihm Spielkarten, Asse, mit Aufgaben, denen er sich stellen will oder muss. Indem er diese Herausforderungen annimmt, lernt er sich, seine Freunde und seine Mitmenschen neu kennen und beginnt, echtes Interesse zu entwickeln. Er wächst an seinen Aufgaben als Freund, als Mensch und als Mann. Eine Frage, die sich wohl zurzeit viele junge Leute stellen: was hat das alles mit mir zu tun? Die Idee, sich mal in seiner näheren Umgebung umzuschauen, die Menschen zu BEACHTEN, die da leben und ihnen vielleicht ein wenig zu helfen, dazu muss man eigentlich nicht erst eine Spielkarte zugeschickt bekommen. Aber wenn es hilft, kann man ja dieses Medium benutzen. Und Aufgaben verteilen, die vielleicht innerhalb der Gruppe etwas voran bringen?!
- JPS Nick & Norah
Soundtrack einer Nacht
Jurybegründung AKJ:
Aus fünf Minuten werden sieben und dann verbringen Nick und Norah eine Nacht, in der sie sich verlieren und wieder finden, entfremden und neu entdecken. Der Bassist einer Band und die Tochter eines Musikproduzenten lernen sich in einem Club in New York kennen. Sie entdecken die Stadt bei Nacht, finden dabei auch zu sich selbst und verarbeiten ihren Liebeskummer. Beide sind hin und her gerissen zwischen ihren Gefühlen und der Angst, sich neu zu verlieben. Doch entgegen jedem traurigen Song siegt die Liebe. Die Geschichte wird abwechselnd von den zwei Autoren erzählt und erschafft ein realistisches Bild. Die Atmosphäre, geprägt von der größten Leidenschaft der Personen - der Musik -, verzaubert den Leser für eine Nacht. Ein Buch mit mehr Stoff als jeder Songtext und für jeden Musikgeschmack. Ab 14
Aus zwei Perspektiven ist dieses packende Beziehungsgeflecht konstruiert:
Nick, der die Trennung seiner Ex-Freundin Tris von ihm nach drei Wochen noch nicht wahrhaben will, ist Bassist in einer New Yorker Punkband und sieht sich bei einem Gig plötzlich mit seiner Ex und dessen neuem Freund konfrontiert. Ihm fällt nichts anderes ein, als ein Mädchen in seiner Nähe darum zu bitten, für die nächsten 5 Minuten seine Freundin zu spielen. Dieses Mädchen, Norah, ist eine ebenfalls musikbegeisterte junge Jüdin, deren Vater ein namhafter Musikproduzent. Sie kennt sich gut aus in der Club-Szene und ist im Moment damit beschäftigt, ihr bisheriges Leben in jeder erdenklichen Form in Frage zu stellen, denn auch ihre Beziehung zu ihrem Freund Tal befindet sich in einer schwierigen Phase.
Norah lässt sich auf Nicks 5 Minuten-Angebot ein und so beginnt eine turbulente, romantische aber auch tiefsinnige Reflektion beider Protagonisten über ihre eigenen, verwirrten Gefühle, über das Leben in New York und über seine Musikszene.
Über allem steht das Thema Freundschaften und Liebe, das Bedürfnis, heraus zu finden, wer man ist und was man möchte, welche Formen der Beziehungen zu und zwischen Menschen aller sexuellen Präferenzen und vor allem die Liebe zur Musik.
Ich, Adrian Mayfield
übersetzt von Rolf Erdorf
Dieses Buch hat mich erstaunt und begeistert. Von Anfang an schafft es die Autorin, eine dichte und glaubwürdige Atmosphäre zu erzeugen und bis zum Ende des Buches durchzuhalten. Das London des fin de siecle ist mit den Händen zu greifen, zu schmecken, zu riechen und zu erfahren.
Es interessiert mich nicht, ob jeder Handlungsstrang notwendig, jedes kleine Detail erwähnt, jede aufwändig recherchierte Absonderlichkeit dieser an Absonderlichkeiten reichen Zeit erwähnt werden muss. Es ist nämlich bei all dieser emsigen Fleißarbeit ein enorm spannender, kluger und unterhaltsamer Roman. Es ist faszinierend, wie sich Floortje Zwigtman in einen jungen Mann, einen schwulen jungen Mann aus der Unterschicht im viktorianischen London hineindenken kann. Die Gefühle werden bis in die körperlichen Empfindungen und Reaktionen so präzise beschrieben, dass man als männlicher Leser geradezu irritiert ist.
Adrian Mayfield ist unser Held. Wir fühlen mit ihm, wir bangen und hoffen mit ihm. Aber er ärgert uns auch mit seinen Eskapaden und seinem Dickschädel. Aber das macht ihn uns auch so ähnlich und deswegen lassen wir uns willig in seine Abenteuer hineinziehen. Wir spüren wie er die Ungerechtigkeit der Klassenschranken, der ungleichen Bildungs- chancen und die familiären Spannungen. Sein Streben nach Anerkennung und seine Suche nach der Liebe sind zwar ganz in den Bedingungen seiner Zeit verankert, aber doch so universell, dass man/frau beim Lesen mühelos selber zum Suchenden wird. Das ist für mich der Schlüssel zu einem faszinierenden Buch. Ich fasse dieses Buch nicht primär als Jugendbuch auf. Der Schatten des Scheiterns, der über der Handlung liegt und das Einfühlen in die Schwierigkeiten eines Jugendlichen, der seine Homosexualität entdeckt in einer Zeit, in der dies als kriminell und krankhaft abgestempelt wurde, verlangen vielleicht zuviel Transferleistung, zumal von Jugendlichen, die mit ihrem eigenen Standpunkt zu kämpfen haben. Aber andererseits: vielleicht kennen sie genau diese Gassen und Sackgassen, in denen Adrian die Richtung für sein Leben sucht.
- MS Wie man unsterblich wird
übersetzt von Birgitt Kollmann
Ein 11jähriger Junge, Sam, ist an Leukämie erkrankt. Seine Chancen, länger als ein Jahr zu leben, stehen sehr schlecht. Er hat einige Kranken-hausaufenthalte mit Chemotherapie hinter sich, im Moment ist er jedoch zu Hause. Mit seinem ebenfalls an Krebs erkrankten Freund Felix, der im Rollstuhl sitzt, nimmt er Privatunterricht bei Mrs. Willis. Sam und Felix haben sich erst im Krankenhaus kennen gelernt. Sie verbringen viel Zeit miteinander und haben immer wieder Unsinn im Kopf und stellen das ein oder andere an.
Mrs. Willis ist eine ziemlich ungewöhnliche Lehrerin und sie und die beiden Jungen haben oft Spaß miteinander. Eines Tages gibt die Lehrerin ihren beiden Eleven den Auftrag, eine Liste von Dingen zu erstellen, die sie gerne tun oder erleben möchten. Die beiden sind gleich Feuer und Flamme. Auf Sams Liste finden sich sowohl leichter realisierbare Dinge wie eine Rolltreppe, die nach unten fährt, hinaufzugehen, aber es sind auch schwer umzusetzende Sachen darunter: z.B. mit einem Luftschiff fliegen.
Felix drängt Sam dazu, diese Dinge Realität werden zu lassen. So verändert die Liste einiges im Leben der beiden und Sam hat wieder ein Lebensziel. Auch wenn es Sam nicht gerade gut geht, versucht er, mit Hilfe von Freunden und Familie, eines nach dem anderen um zusetzen.
„Wie man unsterblich wird“ ist ein Buch, das ein sehr schweres Thema hat und dennoch Lebensmut vermittelt. Es zeigt, wie stark Kinder sind und wie vorbildlich und tapfer sie mit ihrem Schicksal umgehen. Es ist herz-erfrischend und einfühlsam geschrieben, ähnlich wie ein Tagebuch und es stellt zur gleichen Zeit wichtige Fragen.
„Wie man unsterblich wird“ ist nicht umsonst ein preisgekröntes Buch.
Das Ambulantes Kinderhospiz München, für das ich als ehrenamtliche Familienbegleiterin tätig bin, hat einen wunderbaren Leitspruch: „Die Tage mit Leben füllen, anstatt das Leben mit Tagen“ In diesem Sinn empfehle ich Erwachsenen wie auch Kindern „Wie man unsterblich wird“ zu lesen.
The Road of the dead
übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn
Bei diesem Buch hatte ich ein „Ja-aber-Gefühl“, das auf Seite 1 begann und bis zum Ende immer stärker wurde. Ja, es ist ein brutales Buch, aber es ist gut geschrieben; ja, der Plot ist sehr unglaubwürdig, aber es ist spannend; ja...aber, ja...aber.
Die Art, in der Gewalt behandelt wird, erinnert mich an Tarantino-Filme: exzessiv, explizit und immer irgendwie als Chiffre. Insgesamt ist mir die Story zu verschroben angelegt. Eine junge Frau wird ermordet, ihr jüngerer Bruder empfängt Signale, sein älterer Bruder fühlt sich berufen, den Mord auf eigene Faust auf zu klären, die Mutter lässt ihn ziehen und schickt den jüngeren Bruder noch hinterher. Es wird viel geahnt und am Ende werden die rabiaten Ermittlungsmethoden scheinbar bestätigt, aber im Grunde bleibt die Geschichte rätselhaft. Ja. Aber dann bieten sich immer wieder interessante Aspekte, die das Buch lesenswert machen: die Geschichte der ungleichen Brüder, die psychologisch sehr ausgearbeitete „Typen“ Abbie, Vince und Jess...
Die Bücherdiebin
übersetzt von Alexandra Ernst
Darf man über das schrecklichste Kapitel deutscher Geschichte Witze machen? Der Tod darf das. Wer, wenn nicht er? "Ich frage mich wirklich, ob nicht irgendwann irgendwo beim Hitlergruß jemand einmal ein Auge verloren oder sich die Hand oder den Arm gebrochen hat. Man musste doch bloß zur falschen Zeit in die falsche Richtung schauen oder zu nah vor jemandem stehen." Der Tod ist aber auch ein Poet, der zärtliche Worte für die Menschen findet, deren Seelen er "auf das Förderband zur Ewigkeit" legt. Er ist es auch, der uns fasziniert die Geschichte von Liesel Meminger erzählt. Das kleine Mädchen stiehlt Bücher, um sich und andere mit ihnen zu trösten, während die Welt um sie herum untergeht. Am Grab ihres Bruders klaut sie das erste Buch. Es ist dem Totengräber aus der Tasche gefallen. Später wird sie ihr Pflegevater mit dem Handbuch "Wie man ein guter Totengräber wird" das Lesen lehren und in ihr die Liebe zum geschriebenen Wort wecken. Er tröstet sie auch, wenn sie des Nachts vom toten Bruder und der vermissten Mutter träumt. Liesel klaut alle Bücher, die sie nur kriegen kann, und teilt ihr Leseerlebnis mit anderen, die ebenfalls nach geistigen Fluchten lechzen: mit ihrem Freund Rudi, den Nachbarn im Luftschutzkeller und dem Juden Max, den ihre Zieheltern verstecken.
Damit ist "Die Bücherdiebin" von Markus Zusak, einem Australier mit deutsch-österreichischen Wurzeln, dann auch weit mehr als eine weitere bewegende Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg: Eine Hommage an Bücher und an die Macht der Sprache, die Seelen retten kann. Und ein Buch, das nicht nur Jugendliche beeindrucken wird, sondern auch Erwachsene - weil sich in ihm das Schwere mit dem Leichten verbindet, ohne je bemüht oder banal zu wirken. Denn auch in seinem neuen Werk zeigt die Sprache des für sein Buch "Der Joker" mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis gekürten Autors wieder ihren Facetten-Reichtum. Neben Poesie und Ironie ist es hier vor allem der lakonisch-distanzierte Ton des Erzählers. Nur manchmal muss man über seinen Redefluss hinweglesen, um die ausdrucksstarke und bildhafte Sprache genießen zu können. *ag* Heike Byn, Quelle: 1001 Buch
- JPS Wintereis
übersetzt von Mirjam Pressler
Thomas, der Ich-Erzähler, ist 1947, als er diese Geschichte erzählt, 12 Jahre alt. Er zeigt uns das bitterkalte Amsterdam, das unter einem dicken Mantel aus Wintereis begraben liegt, man spürt die Kälte, den Hunger und den Nachhall des Schreckens in der Welt. Alle sind traumatisiert und vermissen jemanden; Thomas´Mutter ist direkt nach dem Krieg an Typhus gestorben, Zwaan, sein Freund, ist Jude und hat beide Eltern verloren. Sie wurden deportiert und ermordet, er lebte „untergetaucht“ über ein Jahr in einem Versteck. Inzwischen ist Zwaan bei seiner Tante und deren Tochter Bet untergekommen, auch Bets Vater wurde als Kommunist ermordet. Bet versteht sich nicht sonderlich gut mit ihrer Mutter, Tante Jos, versucht aber, die psychisch labile Frau so gut es geht zu schonen. Denn Tante Jos verhält sich mindestens merkwürdig, was sich im Verlauf der Geschichte noch steigert. Trotzdem erlaubt sie, das Thomas eine Weile im Haus seiner Freunde lebt, wo er sich zögernd seine Verliebtheit in Bet eingesteht. Die Geborgenheit und Freundschaft, die die drei Kinder verbindet, gibt ihnen Kraft und Halt, lässt sie miteinander sprechen und irgendwann auch das Wintereis schmelzen. Und beiläufig wird sowohl ein Stück Zeitgeschichte nachvollziehbar gemacht als auch vom Schicksal der niederländischen Juden berichtet Van Gestel schafft in Wintereis eine dichte, poetische, raue und zärtliche Sprache, besonders stark sind die Dialoge. Ein grandioses Buch!
- JPS Die Nackten
Prochátzková, Iva
264 Seiten, Sauerländer
Fünf junge Menschen erleben einen heißen Sommer, jede/r von ihnen mit seiner Geschichte, seiner Unfertigkeit, seiner Suche. Sie treten hinein oder hinaus aus dem Leben der anderen, kennen sich, lernen sich kennen, stellen sich selbst vor, sind Ich-Erzähler oder wechseln als Protagonisten in eine andere Episode. Sylva ist eine dieser Fünf, ein Mädchen, das sich als Hochbegabte in der Schule langweilt und sich nicht unterordnen will. Sie schwänzt tagelang und bewegt sich auf langen Wanderungen durch die Natur. Filip ist in Sylva verliebt, merkt das aber erst nach ihrem Weggang. Als Gegenmittel gegen seine verkopfte Art verordnet er sich körperliche Arbeit und lernt so ein anderes Mädchen kennen, in das er sich später verliebt. Niklas kennt Sylva von früher. Da wollte er noch Filme machen, aber nun hat er die bildschöne Evita kennengelernt, und folgt ihr fasziniert in die Drogenszene. Und Robin, der gegen die Übermacht seines Vaters kämpft, ist von der Schule geflogen, weil er angeblich auf einer Klassenfahrt ein Mädchen vergewaltigt hat – doch die Sache ist etwas komplizierter.
Die Beziehungen – die der Jugendlichen untereinander und die zu den Erwachsenen – sind es, die die eigentliche Hauptrolle im Prozess des Erwachsenwerdens spielen. Iva Prochátzková lässt es Sylvas Vater zusammen fassen : “Die Pubertät ist ein eigenartiger Zustand. Nicht wiederholbar. In der Pubertät ist der Mensch nackt, also berührt ihn alles direkt. Die Berührung ist erregend und schmerzhaft zugleich. […] Erst wenn du älter wirst, beginnst du dich anzuziehen.”
Lebhaft gestaltete Charaktere, die Radikalität der Jugendlichen im Tun und Denken, die Gefahr und das Bewusstsein davon: das Leben als eine Kette von Herausforderungen. Beim Lesen sind mir meine eigenen Gedanken, Gefühle und Radikalitäten wieder eingefallen. Nicht immer angenehm! Aber auch darüber hinaus eine tolle literarische Leistung.
Zusammen allein
Bruder, Karin
271 Seiten, Hanser
Verlassenwerden ist die Urangst jedes Kindes. Hier gibt es noch einen Nachschlag davon: Agnes ist 15 und lebt in Rumänien, als nach dem Vater auch die Mutter in den Westen abhaut. Agnes soll bei ihrer Tante bleiben, aber das hält sie nicht lange aus. So kommt es, dass sie sich auf die Suche nach ihrer Großmutter macht, von deren Existenz sie bis jetzt nichts wusste. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Beziehung, die mit dem Titel „Zusammen allein“ treffend beschrieben ist. Trotzdem oder gerade deshalb beschließt Agnes, in Rumänien zu bleiben. Hier fühlt sie sich zuhause, auch wenn die Verhältnisse alles andere als angenehm sind. Mit eindringlicher Sprache schildert Karin Bruder große gesellschaftliche und kleine private Entwicklungen, bei denen Agnes immer weitere Teile ihrer Familiengeschichte aufdeckt. So entwickeln sich sich Liebe, Angst aber auch Hoffnung im Schatten der grausamen CeauSescu- Diktatur, und nie fühlt sich der Leser mit dem Schrecken völlig allein. Dieses Buch könnte eine hervorragende Ergänzung im Geschichtsunterricht zum Ende des kalten Krieges Ende des Jahres 1989 sein...
- JPSAustralien war für Europäer schon immer ein Kontinent mit magischer Anzieh-ungskraft. Mit „Town“ lernen wir jetzt eine stinknormale Kleinstadt kennen, in der stinknormale Jugendliche abhängen, mit Langeweile kämpfen und ganz durchschnittliche Jugendlichen-Probleme haben. Natürlich kann es auch hier passieren, dass es einem zu eng, zu langweilig und zu normal wird, wie überall woanders auch.
James Roy stellt uns in seinem Roman 12 Jugendliche vor, für jeden Monat eine/n. Was sich zuerst wie eine Sammlung einzelner Kurzgeschichten liest, wird nach und nach zum Portrait einer Gruppe. Alle Personen stehen auf unterschiedlichste Art und Weise miteinander in Beziehung und verleihen sich so gegenseitig immer stärker Profil und Tiefenschäfe. Randbemerkungen aus der einen Geschichte werden zum Leitmotiv in einer Anderen, Personen, aus verschiedenen Perspektiven geschildert, sind fast nicht wieder zu erkennen. Eine unterschied-liche Typografie sorgt für das Unterscheiden der verschiedenen Kapitel. Die Stimmungen, in die der Leser entführt wird, changieren zwischen Beklemmung und Erwartung. Alles zusammen macht dieses Buch zu einem Leseerlebnis, aus dem schnell ein Schreiberlebnis werden könnte; solche eine Konstruktion bietet sich für eine Gruppe als Schreibwerkstatt geradezu an!
Runaway
übersetzt von Günter Ohnemus
Im New York der 1960er Jahre versucht sich Rico, Sohn kubanischer Eltern zwischen Banden, Drogen und seinen strengen Eltern zurecht zu finden. Ricos größte Probleme sins seine geringen spanischen Sprachkenntnisse und seine extrem helle Hautfarbe, damit hat man in Harlem einen schweren Stand. Gut dass es Gilberto gibt, der ist 3 Jahre älter als Rico und „richtig“ schwarz, mit einem riesigen Afro und immer gut drauf. Mit einem Lotto-Gewinn setzt sich Gilberto eines Tages nach Wisconsin ab, um dort eine Landkommune zu gründen. Als dann auch noch Ricos bester Kumpel Jimmy drogenabhängig wird und im Rausch einen schweren Unfall hat, hält Rico den Zeitpunkt für gekommen: er schnappt den gerade mal nüchternen Jimmy und macht sich mit ihm auf den Weg zu Gilberto aufs Land. Aber natürlich haben sich die Probleme nicht abhängen lassen: auch hier gibt es Rassismus und Vorurteile, Jimmy kann weiterhin nicht von den Drogen lassen und Rico kommt für sich selbst auch nicht voran. So fasst er am Ende den Entschluss, wieder nach New York zurück zu kehren. Sein Lieblingsbuch Huckleberry Finn begleitet nicht nur die gesamte Reise, es ist auch der Fixstern zur Orientierung: Rico will Schriftsteller werden. Ein tolles Buch, spannend und mitreißend!
- JPS Numbers
übersetzt von Uwe Michael Gutzschhahn
Diese Geschichte geht unter die Haut. Jem erfährt mit sieben Jahren, am Todestag ihrer Mutter, dass sie die besondere Gabe hat, das Todesdatum jedes einzelnen Menschen in dessen Augen sehen zu können.
Mehr Fluch als Gabe, findet Jem, denn sie zieht sich immer mehr zurück. Jem lebt bei schon lange bei Pflegefamilien, will diese ungeheuerliche Belastung nicht und geht daher keine Beziehungen ein. Doch als Jem 16 ist, taucht der schwarze Jugendliche Spinne in ihrem Leben auf und heftet sich an Jems Fersen. Spinne lebt bei seiner Großmutter, die erkennt augenblicklich, das Jem eine besondere Gabe hat. Zum ersten Mal will Jem tatsächlich Zeit und Nähe mit Spinne teilen, aber natürlich wird in kürzester Zeit alles höllisch kompliziert... Ein Atemberaubender Jugendroman.
Tschick
Herrndorf, Wolfgang
254 Seiten, Rowohlt
Als ich Tschick zuende gelesen hatte, ging es erst mal rund in meinem Kopf. War das nicht alles ein bisschen konstruiert? Naja, vielleicht! Sprechen 14jährige Jungs so? Ja schon! Aber bringen sie ihre Gedanken und Beobachtungen so zum Aus-druck? Nein, ganz bestimmt nicht! Kann man wirklich auf einer Müllkippe so ein ge-scheites Rotzgör wie Isa treffen, kann man sich in diesem Land renitente Rentner vorstellen, die sich weigern, ihre Häuser zu verlassen und scharf schießen wie Billy the Kid und und und...
Es rumorte und als es aufhörte zu rumoren, dachte ich: ein schönes Buch. Ein gelun-genes Buch!
Zwei Jungs, verschieden von Herkunft und gesellschaftlichem Hintergrund, werden Freunde. Aber ‚Freunde werden’ hat etwas Ungreifbares, so wie Eltern werden. Wenn man die Geschichte liest, erlebt man die atemberaubende Determination eines Außenseiters, der sich einen Freund nimmt. Und mit der Zielsicherheit eines Außen-seiters erwischt er einen Freund für´s Leben.
Tschick, der russische Spätaussiedler, der nichtmals ansatzweise wie ein Deutsch-russe daherkommt, eher wie ein versoffener Mongole, mit einer Familie, die eigent-lich nicht existiert und Maik, das Söhnchen aus Marzahn, das Vater-Mutter-Sohn-Kind, der eigentlich ein Vater(Freundin)-Mutter(Alkohol)-Achlecktmichdochalle-Be-rufspubertierer ist, dessen Selbstbild darum kreist, der langweiligste Langweiler der Welt zu sein. Diese beiden, die nichts eint außer ihrem Außenseitertum, die beide zu schräg, zu asi oder eben zu langweilig sind, um auf die Sommernachtgeburtstagspar-ty des begehrtesten Mädchen der Klasse eingeladen zu werden, schließen sich zu-sammen zu einem Duo, wie es seit Bonny und Clyde, Sherlock Holmes und Dr. Watson oder Tim und Struppi nicht mehr zu sehen war. Aber vor allem erinnern sie an zwei berühmte, andere Jungen: Tom Sawyers und Huckleberry Finn. Und wie Wolfgang Herrndorf es schafft, dieses Ole-Man-River-Gefühl auf die deutsche Provinz zu übertragen, das ist einfach zauberhaft.
Allen Unebenheiten zum Trotz ist dieses Buch eine Hommage an die Freundschaft, eine Bekenntnis dazu, dass Unterschiede bereichern können statt zu entzweien und zudem ein anrührendes und kluges Buch über das, was Truman Capote ‚die wunderbaren Jahre’ nannte.
Kopfschuss
aus dem Amerikanischen von Ann Lecker-Chewiwi
Jersey Hatch überlebt seinen Selbstmordversuch - gleichzeitig das Schlimmste, was er sich vorstellen kann aber auch eine Chance...
Mit seinem Erinnerungsbuch, einer halbseitigen Lähmung, großen Gedächtnislücken und Sprachstörungen kann der inzwischen 17 Jährige die Reha verlassen. Wie wird es sein, wieder nach Hause zu kommen? Immer wieder zweifelnd und doch zielstrebig begibt sich der Protagonist auf eine Spurensuche nach sich selbst: was war damals geschehen? Was hatte ihn veranlasst, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen? Das Leben außerhalb der Klinik bringt noch eine andere Herausforderung mit sich: den Kontakt mit den Menschen, die ihn lieben, die verunsichert sind, wie sie mit ihm umgehen sollen, die verletzt oder verstört sind.
Auf mitreißende Art beschreibt Vaught das „neue“ Leben des jetzt behinderten Jersey. Mit ungeheurem Einfühlungsvermögen in seine Erlebniswelt bereichert die Autorin unsere Wahrnehmung und zeigt auf, wie eine Mischung aus Überdruss und Perfektionismus zum Selbstmord-versuch führen kann.
Mit den im Anhang zusammen gestellten Informationen zu Suizid-gefährung von ersten Anzeichen bis hin zu Anlaufstellen für Betroffene und deren Familien und Freunde hilft Vaught zudem, sich einem schwierigen Thema zu nähern.
Die Zeit der Wunder
übersetzt von Maja von Vogel
Ein zwölfjähriger Junge wird an der französischen Grenze aufgegriffen, die er in einem Viehtransporter in Richtung Frankreich überqueren wollte.
Er ist allein und kann nur einen einzigen Satz Französisch in dem er behauptet, französischer Staatsbürger zu sein. In Rückblenden erzählt der nun inzwischen erwachsenen Protagonist von der abenteuerlichen Flucht mit seiner Ziehmutter Gloria aus den Kriegsgebieten des Kaukasus, von seinem Ideal Frankreich (dem Land der Menschenrechte) und von den Versuchen, seine Mutter in Frankreich ausfindig zu machen.
Erst nach und nach, unter anderem im Gespräch mit dem russischen Dolmetscher, versteht sowohl der Ich-Erzähler als auch der Leser von der Komplexität seiner ganzen Geschichte, die geprägt ist von Kriegen, Unruhen und Flucht. Und immer wieder erinnert er sich an Glorias Lektionen, von denen die Wichtigste war, sich nicht von der Verzweiflung auffressen zu lassen...
Ein wundervolles Buch über ein Flüchtlingsschicksal, das viel zum Verständnis solcher Lebensumstände beiträgt, und das man bedenkenlos mehrmals lesen kann!
iBoy
übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn
Tom lebt mit seiner ketterauchenden Großmutter in einem Londoner Viertel, das von rivalisierenden Gangs und deren brutalen Auseinander-setzungen beherrscht wird. Eines Tages wird Toms Freundin Lucy überfallen und vergewaltigt, als Tom, gerade auf dem Weg zu Lucy, von einem Iphone getroffen wird, dass die Gangster aus dem 30. Stockwerk auf ihn herabsausen lassen. Nach 17 Tagen erwacht Tom aus dem Koma und stellt fest, dass die in sein Hirn eingedrungenen Iphone-Reste, die nicht operativ entfernt werden konnten, ihm Zugang zu allen funkwellen- gestützten Daten verschafft, einschließlich dem Internet und dem Handy-Netz. In seiner unbändigen Wut gegen die Personen, die an Lucys Vergewaltigung beteiligt waren, nimmt Tom mithilfe seiner neuen Superkräfte Strafverfolgung und Bestrafung selbst in die Hand.
Wie immer schafft es Brooks, hochspannende Plots über ethisches Handeln zu schreiben. Trotz großer Nähe zum Fantastischen wird er nie unglaubwürdig. So ist der Leser gefordert, eigene Moralvorstellungen zu überprüfen und trotz Empathie und Identifikation die Grenzen zwischen Rache und Gerechtigkeit auszuloten.
Es war einmal Indianderland
Mohl, Nils
348 Seiten, Rowohlt
Kein Zweifel, der Mann kann schreiben. Es war einmal Indianerland ist ein spannender Roman über das Erwachsenwerden, über Underdogs und über die Verwirrung des ersten Sex. Ein 17jähriger aus einer der anonymen Stadtrandsiedlungen lernt ein Mädchen aus dem Großbürgertum kennen, eine andere junge Frau stellt ihm nach und sein Vater bringt seine zweite Ehefrau um.
Hier beginnt das Problem. Man kann es mit der Formel ´Less is more´ zusammenfassen.
Erzählt wird die Geschichte in einer Art Vor- und Rückspulmodus. Scheinbar beliebig springt die Handlung vor und zurück, immer werden nur kurze Szenen beleuchtet, die sich im weiteren Verlauf verdichten. Diese kurzen Bilder sind spannend erzählt, sodass sich die Geschichte wie ein Puzzle allmählich zusammensetzt. Zum Ende der Geschichte wird diese Technik aber übertrieben. Ständig springt die Handlung in immer kürzeren Abständen und der Autor scheint am Ende vom selbst entfesselten Wirbel mitgerissen zu werden.
Das Thema des Vaters, der seine Frau tötet, kommt mir wenig aufschlussreich vor und konkurriert eher mit dem restlichen Plot. Glaubhaft ist dagegen die Verstrickung des Erzählers in zwei Liebesaffären. Zum einen ist da Jackie, das reiche, schöne Mädchen, angeödet von der upper class, die ihren Underdog vor allem deshalb so anziehend findet, weil er eben ein Underdog ist. Für ihn verkörpert sie alles, was sexy ist, ihr rotes Haar, ihre weiche Haut... und ihre Selbstsicherheit. Und dann ist da Edda, die junge Frau aus der Videothek. Edda ist der Gegenentwurf zu Jackie, weniger femme fatale, weniger selbst-, aber dafür wirklich in den Jungen verliebt. Sie erträgt seine Widersprüchlichkeit, die für sie durchaus schmerzhaft ist. Und erst zuletzt, am Wochenende des Festivals und des Powwows wird ihm klar, welche Beziehung tragfähig ist.
Gut gefällt mir die bildreiche, originelle Sprache. Auch die Verdeutlichung der inneren Handlung im äußeren Geschehen, wie etwa die packende Schilderung der Sturmfront, die über das Festivalgelände hinwegfegt, finde ich sehr gelungen. Sie gibt dem Roman einen eigenen Geschmack. Zuletzt sei noch die geschickte Darstellung des Protagonisten genannt. Lange wird dem Leser nahegelegt, dass es einen Ich-Erzähler und dessen Kumpel Mauser gibt, die in einer engen Beziehung zueinander stehen. Mauser ist ein talentierter Boxer mit klaren Grundsätzen. Er wirkt in seinen Handlungen reifer als der Erzähler. Erst allmählich wird klar, dass die beiden ein und dieselbe Person sind. Erst als der besonnene Mauser sein Alter ego akzeptiert, kann sich der junge Mann zwischen Spiel (Jackie) und Verantwortung (Edda) entscheiden.
Der Märchenerzähler
Michaelis, Antonia
446 Seiten, Oetinger
Lochan und Maya sind die zwei älteren Geschwister Kit, Tiffin und Willa die jüngeren. Mit unglaublichem Engagement versuchen Lochan und Maya, neben der Schule die Familie zu organisieren und zusammen zu halten. Die Mutter aller fünf Kinder ist zunehmend dem Alkohol und ihren häufig wechselnden Lovern zugeneigt, und lädt die Verantwortung bei ihren Ältesten ab. Als sie dann auch noch ständig abwesend ist, steigt der Druck noch: wenn Schule oder Jugendamt davon erführen, würden die Geschwister mit Sicherheit getrennt und auf verschiedene Heime oder Pflegefamilien verteilt. Das ist der worst case. Maya und Lochan ackern Tag und Nacht, versuchen die Schule und die familiäre Dauerbelastung unter einen Hut zu bringen und stellen zu allem Überfluss dann auch noch fest, dass sie unsterblich in einander verliebt sind. Ein schrecklicher und gleichzeitig unglaublich tröstender Streich des Schicksals: hieraus beziehen die beiden ihre unglaubliche Kraft aber hier droht auch die größte Gefahr: eine Liebe, die nicht sein darf ...Suzuma erzählt diese dichte und intensive Geschichte, die Inzest als eines der letzten gesellschaftlichen Tabus thematisiert, und die Leser leiden mit...
- JPS forbidden
übersetzt von Bernadette Ott
Lochan und Maya sind die zwei älteren Geschwister Kit, Tiffin und Willa die jüngeren. Mit unglaublichem Engagement versuchen Lochan und Maya, neben der Schule die Familie zu organisieren und zusammen zu halten. Die Mutter aller fünf Kinder ist zunehmend dem Alkohol und ihren häufig wechselnden Lovern zugeneigt, und lädt die Verantwortung bei ihren Ältesten ab. Als sie dann auch noch ständig abwesend ist, steigt der Druck noch: wenn Schule oder Jugendamt davon erführen, würden die Geschwister mit Sicherheit getrennt und auf verschiedene Heime oder Pflegefamilien verteilt. Das ist der worst case. Maya und Lochan ackern Tag und Nacht, versuchen die Schule und die familiäre Dauerbelastung unter einen Hut zu bringen und stellen zu allem Überfluss dann auch noch fest, dass sie unsterblich in einander verliebt sind. Ein schrecklicher und gleichzeitig unglaublich tröstender Streich des Schicksals: hieraus beziehen die beiden ihre unglaubliche Kraft aber hier droht auch die größte Gefahr: eine Liebe, die nicht sein darf ...Suzuma erzählt diese dichte und intensive Geschichte, die Inzest als eines der letzten gesellschaftlichen Tabus thematisiert, und die Leser leiden mit...
- JPS Katertag
Oder: Was sagt der Knopf bei Nacht?
Nico schreibt seinem Vater einen langen Brief, in dem der berichtet, wie sich für ihn alles dargestellt hat. Vom „ersten Anzeichen“ bis zur völligen Katastrophe. Wie sich für seine Mutter, seine Schwester Sasa und ihn selbst ihr Vater in den „Eunk“ verwandelt, in einen zunehmend unglücklichen und in seiner Sucht gefangenen Alkoholiker, der nach und nach alles zerstört, was im einst lieb und wichtig war. Der lügt, verspricht und wieder rückfällig wird, der verletzt und versetzt. All das mit Nicos nüchternen Beobachtungen versehen und letztendlich als wichtige Botschaft an den gebracht, den es angeht. Nur über die Auseinander-setzung ist das Verzeihen möglich, das zeigt dieses mutige und anschauliche Buch über den Umgang mit der Sucht und ihren Folgen.
- JPS Kaputte Suppe
Valentine, Jenny
208 Seiten, dtv
Die 16jährige Rowan ist die Hauptfigur dieses mitreißenden Romans: nach dem Unfalltod ihres älteren Bruders vor ein paar Jahren ist Rowans Mutter in eine schwere Depression gefallen, so dass Rowan sich um sie und ihre kleine Schwester Stroma kümmern muss. Rowans Vater ist ausgezogen und Rowan versucht, ihre tatsächliche Überbelastung vor ihm und der Welt zu verheimlichen, damit sie und die kleine Schwester nicht auch noch von einander und von der Mutter getrennt werden. Eines Tages beim Einkaufen im Supermarkt gibt ihr ein freundlicher, fremder junger Mann ein Fotonegativ, dass sie angeblich verloren hat, dabei hat Rowan es noch nie gesehen. Damit nimmt eine Reihe von Ereignissen ihren Lauf, Rowan beginnt neue Beziehungen, findet Freiräume und gesteht sich am Ende sogar ihre Überlastung ein. Doch bis dahin nimmt uns Jenny Valentine noch mit immer neuen Überraschungen gefangen... Im heutigen London spielend hat diese sprachlich dichte Geschichte eine Menge Identifikationspotenzial für Kinder, deren Eltern aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr „funktionieren“- durchaus geeignet als Klassenlektüre zum Thema Familie...
- JPS
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NvM | = Nikola von Merveldt |
KE | = Katja Eder |
VK | = Vera Kahl |
KW | = Karina Wrona |
KS | = Katrin Seewald |
KP | = Katja Pfeiffer |
SB | = Sylvia Bogdain |
SW | = Sarah Wildeisen |
JPS | = Jule Pfeiffer-Spiekermann |
MD | = Martin Deutsch |
CS | = Claus Schertel |
BB | = Bernadette Baufeld |
JK | = Jutta Kotzi |
AD | = Anita Deutsch |